Kryptogramm (Gottfried von Straßburg, Tristan)

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

"Die gesamte mittelalterliche Liebesdichtung verblaßt vor dem einen, unvollendeten Roman Gottfrieds von Straßburg, der [...] die unbegreifliche Erfüllung der mittelhochdeutschen Erzählkunst, den kurzen klassischen Moment des deutschen Hochmittelalters birgt."[Wehrli 1997: 262]
Ein besonders markantes Zeichen der Kunst von Gottfried von Straßburg::Gottfried von Straßburg ist unter anderem ein den Roman durchziehendes, kunstvolles und bis heute nicht gänzlich gelöstes Kryptogramm.

Definition Kryptogramm [1]

Ein Kryptogramm ist ein Text, in welchem sich eine zweite Botschaft verbirgt, die erst nach einem bestimmten Verfahren entschlüsselt werden muss. Es gibt verschiedene Arten, die Botschaft zu verschlüsseln. So können entweder Buchstaben (etwa beim Akrostichon, Mesostichon, Liptogramm), Silben (Retrogramm) oder Wörter (Palindrom) auf eine bestimmte Art und Weise gekennzeichnet werden.
Im Tristan verwendet Gottfried das Akrostichon [Grimm 2007:9]. Bei dieser Spielart des Kryptogrammes ergeben " [...] die Anfangsbuchstaben einzelner Verse, Strophen oder Gedichtteile (...) aneinandergereiht ein Wort, eine Wortfolge oder einen Satz."[Okken 1996:6]
Dieses Stilmittel erfreute sich großer Beliebtheit in der hellenistischen Literatur und wurde von der lateinischen seit der Kaiserzeit verstärkt übernommen. Das Akrostichon lässt sich immer wieder in der mittelalterlichen Literatur finden und reicht sogar bis in die Neuzeit hinein. Ein besonders kunstvolles Beispiel eines mittelalterlichen Akrostichons, das den Namen des Poeten nennt, findet sich in den angelsächsischen Gedichten von Cynewulf aus dem 9. Jahrhundert: In seine mit lateinischen Buchstaben geschriebenen Werke fügt er des Öfteren eine Runenreihe ein, die im Textzusammenhang ihren eigentlichen Sinn haben, aneinandergereiht aber auf den Autor verweisen.[2]

Probleme und Beschreibung des Kryptogramms im Tristan

Das Kryptogramm im Tristan ist seit dem Beginn der Gottfried-Philologie immer wieder Thema zahlreicher Erörterungen. Einen Überblick dazu bietet B. Schirok in seinem 1984 erschienenen Aufsatz "Zu den Akrosticha in Gottfrieds Tristan".[Schirok 1984] Als erstes entdeckt und in seiner Deutung relativ unbestritten[3] ist das DIETERICH-Akrostichon im Prolog. [Schirok 1984: 189ff.] Zwar ist nicht hinlänglich geklärt, wer genau dieser Dieterich war,[Schirok 1984: 191] wahrscheinlich handelt es sich aber um den Auftraggeber des Werkes. Die Initialen gleich zu Beginn des Romans stellten somit eine Ehrung für ihn dar.[Huber 2000: 38]
Über die genaue Struktur der restlichen Initialen herrscht nach wie vor Unsicherheit. Im Laufe der Jahre wurden immer wieder verschiedene Vorschläge entwickelt, die jedoch alle zu keinem endgültigen Ergebnis führten.[4] Probleme bereiten vor allem eine ganze Reihe von Initialen, deren Zugehörigkeit unklar ist und vermutlich auch bleiben wird.[5] Mögliche Deutungsansätze wären beispielsweise:

  • Gottfried hat bewusst "sinnlose" Initialen platziert, um die Entschlüsselung seines Kryptogrammes zu erschweren und es geheimnisvoller wirken zu lassen.
  • Im Laufe der Überlieferung wurde die ursprüngliche Größe von Initialen geändert oder ist verloren gegangen.
  • Am Ende des Romans stehen Initialen, die das Rätsel lösen würden.
  • Gottfried hat es nicht geschafft, das Kryptogramm zu vollenden.

Am Ende seiner Untersuchung schlägt Schirok ein Schema für das Kryptogramm vor, welches trotz einiger Schwachstellen [6] ein Großteil der jüngeren Forschung übernommen hat.[7]

Schema [8]

Schirok geht davon aus, dass das erste G im Roman nicht den Titel grâve Dieterichs bezeichnet, sondern den Anfangsbuchstaben des Autorennames "Gottfried" darstellt. Damit die Symmetrie in der Initialenordnung aufgeht, setzt er außerdem voraus, dass Isolde im Akkusativ Isolden steht. [Schirok 1984: 208ff.] Den im Vergleich zu Tristan und Isolden um einen Buchstaben verlängerten Namen Gottfried sieht er nicht als Widerspruch für die Symmetrie, sondern vielmehr als Voraussetzung für diese.[Schirok 1984: 212] Um die Namen zu vervollständigen, ergänzt Schirok Buchstaben (in Klammern stehend), die seiner Vermutung nach im nicht vorhandenen Romanschluss stehen. Sie ergeben sich auch durch die regelmäßigen Dreierrythmen, welche aus den Versangaben ersichtlich werden.[9].
Unter Einbezug aller Annahmen entwirft Schirok also folgendes Schema:

G TIIT O RSSR T IOOI E SLLS (F TDDT R AEEA I NNNN T)
    1    1751   5069   12183
   41    1791   5099   12431
   45    1795   5103   12453
  131    1865   5177   12503
  135    1869   5181   12507
G      O      T      E       (F      R      I      T)
 T       R      I      S      (T      A      N)
  I       S      O      L      (D      E      N)
   I       S      O      L      (D      E      N)
    T       R      I      S      (T      A      N) 

Anhand der Versangaben ist zu sehen, dass die Buchstaben immer verschränkt angeordnet sind. Dadurch wird die Liebesbeziehung Tristans und Isoldes auch bildlich veranschaulicht.

Das Kryptogramm als Hinweis auf eine Handlungsgliederung?

Welche Funktion aber hat das Kryptogramm? Sicherlich dient es einerseits dem ästhetischen Ausdruck. Zumindest das erste Akrostichon dient sicherlich zu Ehren Dieterichs, unabhängig von der Frage, ob dieser nun Auftraggeber des Werkes, Freund öder sonstiger Förderer war.
Immer wieder wurde jedoch auch die Annahme diskutiert, ob das Kryptogramm nicht auch eine versteckte Gliederungsfunktion im Roman erfülle.

Karl Bertau

Karl Bertrau geht davon aus, dass Gottfried mit dem Initialenspiel die Struktur des Gedichtes bezeichnet: "Nicht von einem modernen Verständnis des epischen Vorgangs und seiner Einheiten her wäre der Tristan gliedern aufzufassen, sondern von diesem geheimen Muster aus." [Bertau 1972: 934] Unter Hinzunahme aller Initialen gliedert Bertau den Roman in vier Hauptsteile:[Bertau 1972: 953f.]

  1. Fortdauern des Vergänglichen
  2. Die Fortuna des jungen Tristan
  3. Hass und Liebe des jungen Tristan
  4. List, Schmerz und Tod durch die Liebe

Kurt Ruth

Gegen Karl Bertau wendet sich Kurt Ruth: "Diese kryptographische Struktur sollte nun nicht als Gliederungsprinzip mißverstanden werden, da sie keine Handlung strukturieren vermag. Sie gehört aber auch nicht zu einem Kommentarsystem."[Ruh 1980: 225]. Stattdessen, argumentiert Ruth, diene sie dazu, die Liebenden durch Zeichen zu preisen.[Ruh 1980: Ebd.]
Betrachtet man jedoch die Akrosticha tragenden Vierreimpartien nicht im Einzelnen, sondern in Dreiergruppen, dann bestätigen sie sogar die von Ruth vorgenommene Großgliederung des Tristan in "Jugend-, Helden- und Liebesleben".[Bonath 1986: 101f.; 102 Anm. 2]

Gesa Bonath

Unter dem Eindruck Schiroks schlägt Bonath eine weitere Variante vor, die wiederum für eine Gliederungsfunktion des Kryptogramms spricht. Im Gegensatz zu Bertau konzentriert sich Bonath nur auf die Kernbuchstaben des Schemas von Schirok und entwirft dabei folgende Gliederung:

1. Gruppe:  G - T I I T

       V.        1  G       eröffnet den Prolog.
       V.       41  T
       V.       45  I       trennt den strophischen Prolog vom Reimpaarprolog.
       V.      131  I
       V.      135  T       folgt unmittelbar auf die Nennung des Helden,
                            trennt den Prologus prater rem vom Prologus ante rem.
2. Gruppe:  O - R S S R
       V.     1751  O       folgt unmittelbar auf Tristans Geburt, leitet über zur
                            Klage über den Tod Riwalins und Blanscheflurs.
       V.     1791  R 
       V.     1795  S       leitet über zu Ruals Sorge für das verwaiste Kind
                            und zum Begräbnis Blanscheflurs.
       V.     1865  S
       V.     1869  R       leitet die entschiedene Zuwendung des Autors zur Geschichte
                            der lebenden ein.
3. Gruppe:  T - I O O I 
       V.     5069  T       folgt auf Tristans Schwertleite, leitet über zu seiner
                            Verpflichtung, den toten Vater zu rächen.
       V.     5099  I
       V.     5103  O       leitet Tristans Vorbereitungen zur Heimkehr ins Land
                            des Vaters ein.
       V.     5177  O 
       V.     5181  I       folgt unmittelbar auf Tristans Ankunft in Parmenien,
                            leitet über zur Huldigung der Vasallen 
4. Gruppe:  T - E S L S
       V.    12183  E       folgt unmittelbar auf die erste Liebesnacht Tristan und
                            Isoldes, leitet eine Minnereflexion ein und über zur
                            Schilderung von Glück und Sorge der Liebenden während der Überfahrt.
       V.    12431  S
       V.    12435  L       leitet über zu den Präventivmaßnahmen, die für die
                            Hochzeitsnacht geplant werden.
       V.    12503  L
       V.    12507  S       folgt auf Tristans Bekenntnis zur seiner Liebe mit allen
                            Konsequenzen, leitet über zur Ankunft im Land Markes. 

In der Übersicht wird dargestellt, wie die Vierreime, an deren Anfang je ein hervorgehobener Buchstabe steht, jeweils eine Gruppe bilden. Sie stehen an "entscheidenden Wendepunkten der Handlungen, aber sie bezeichnen nicht [...] einen eindeutigen Punkt, an dem das neue Kapitel beginnen soll, sondern heben eine Übergangszone hervor, in der sich die Wende zu einem neuen Großabschnitt in der Handlung vollzieht."[Bonath 1986: 103] Laut Bonath sei dieses Vorgehen zwar ungewohnt, folge aber dem Prinzip vieler anderer Großromane.[Bonath 1986:103]

Fazit

Was bringt es uns nun, das Kryptgramm zu verstehen? Wie gezeigt wurde, könnte das Kryptogramm zum Verständnis und zur Gliederung des Romans beitragen. Ob Gottfried das mit dem Kryptogramm bezwecken wollte, ist und bleibt wohl für immer ungewiss. Sicherlich zeigt uns das Kryptogramm jedoch, wie durchdacht der "Tristan" ist und über welch hohes künsterlisches Können Gottried von Straßburg verfügte.

Anmerkungen

  1. Nach [Köhler 2007: 406f.] und [Kiermeier-Debre 2000: 349ff.]
  2. Vgl.:[Okken 1996:6]
  3. Einen Einwand fomuliert [Krohn 2008: 16]. Zur Erläuterung siehe auch Kapitel 3.
  4. Etwa [Scholte 1942];[Bertau 1972: 933ff.];[Fourquet 1973]. Vgl. dazu ausführlich [Schirok 1984: 189ff.]
  5. Vgl. dazu die Tabellen bei [Schirok 1984: 196f.].
  6. Etwa [Bonath 1986: 112ff.], die Einwände gegen die Argumentation, der Name Isoldes stehe im Kryptogramm im Akkusativ Isolden, aufführt.
  7. Etwa [Huber 2000];[Tomasek 2007]
  8. Nach [Schirok 1984: 212]. Die Ergänzung der Versangaben richtet sich nach [Tomasek 2007: 93].
  9. Vgl. dazu auch [Tomasek 2007: 93]

Literatur


  • [*Bertau 1972] Bertau, Karl: Deutsche Literatur im Mittelalter, 2 Bde. München 1972-1973.
  • [*Bonath 1986] Bonath, Gesa: Nachtrag zu den Akrosticha in Gottfrieds 'Tristan, in: ZfA, in 115 (1986), S. 101-116.
  • [*Fourquet 1973] Fourquet, Jean: Das Kryptogramm des „Tristan“ und der Aufbau des Epos, in: Gottfried von Straßburg, hg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (WdF, 320),S. 362-370.
  • [*Grimm 2007] Grimm, Gunter E: Art.: Akostichon, in: Metzler Lexikon der Literatur. Stuttgart 2007, S.9.
  • [*Huber 2000] Huber, Christoph: Gottfried von Straßburg. Tristan und Isolde, eine Einführung, Berlin 2000.
  • [*Kiermeier-Debre 2000] Kiermeier-Debre, Joseph: Art.: Kryptogramm. In: RLW Bd. 2. Berlin/ New York 2000, S. 349ff.
  • [*Köhler 2007] Köhler, Peter: Art.: Kryptogramm, in: Metzler Lexikon der Literatur. Stuttgart 2007, S.406 f.
  • [*Krohn 2008] Gottfried von Straßburg: Tristan, Band 3. Kommentar, hg. von Rüdiger Krohn. Stuttgart 2008.
  • [*Okken 1996] Okken, Lambertus (1996): Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Strassburg, 2., gründlich überarb. Amsterdam: Rodopi (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 57).
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2. 'Reinhart Fuch','Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanisitik 25).
  • [*Schirok 1984] Schirok, Bernd: Zu den Akrosticha in Gottfrieds Tristan, Versuch einer kritischen und weiterführenden Bestandsaufnahme, in: ZdA 113, in: (1984), S. 188-213.
  • [*Scholte 1942] Scholte, Jan Hendrik: Gottfrieds von Straßburg Initialenspiel, in: Gottfried von Straßburg, hg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (WdF, 320), S. 47-97.
  • [*Tomasek 2007] Tomasek, Thomas: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007.
  • [*Wehrli 1997] Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter, Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1997.