Leich (Walther von der Vogelweide, Cormeau Nr. 1)
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Text und Übersetzung
| Originaltext nach Cormeau | Übersetzung | |
| I | Got, dîner trinitâte, | Gott,deine Dreinigkeit, |
| die beslozzen hâte | die dein Vorbedacht weise | |
| dîn fürgedanc mit râte, | vereinigt hatte, | |
| der jehen wir: mit drîunge | bekennen wir: die Drei | |
| diu drîe ist ein einunge, | ist mit der Dreiheit eine Einheit, | |
| Ein got der hôhe hêre; | ein Gott der hohen Ehre. | |
| sîn ie selbwesende êre | Seine in ihm ruhende Ehre | |
| verendet niemer mêre, | endet niemals. | |
| der sende uns sîn lêre. | Er sende uns seine Lehre. | |
| uns hât verleitet sêre | Der Fürst aus den Abgründen der Hölle | |
| die sinne ûf menge sünde | hat uns die Sinne auf eine Menge Sünden | |
| der fürste ûz helle abgründe. | sehr verleitet |
| IIa1 | Sîn rât und blœdes fleisches gir, | Sein Rat und die Gier geistlosen Fleisches, |
| die hânt geverret, hêr, uns dir. | hat uns – Herr – von dir entfernt. | |
| sît disiu zwei dir sint zu balt | Da diese beiden dir gegenüber mutig sind, | |
| und dû der beider hâst gewalt, | und du Gewalt über die beiden hast, | |
| Sô tuo daz dînem namen ze lobe | so tue es zum Ruhme deines Namens | |
| und hilf uns, daz wir mit dir obe | und hilf uns, dass wir mit dir siegen | |
| geligen und daz dîn kraft uns gebe | und dass deine Kraft uns | |
| sô starke stæte widerstrebe. | starken, dauerhaften Widerstand ermöglicht. |
| IIa2 | Dâ von dîn name wirt gêret | Dadurch wird dein Name geehrt, |
| und ouch dîn lop gemêret. | und auch dein Ruhm vermehrt. | |
| Dâ von wirt er geunêret, | Dafür wird der entehrt, | |
| der uns dâ sünde lêret | der uns die Sünde lehrt. |
| IIa3 | Und der uns ûf unkiusche jaget. | Und der uns zur Unkeuschheit bringen will. |
| sîn kraft von dîner kraft verzaget. | Seine Kraft ist deiner unterlegen. | |
| des sî dir iemer lop gesaget | Deswegen wirst du immer gepriesen sein, | |
| Und ouch der reinen süezen maget, | gepriesen sei auch die reine süße Jungfrau, | |
| von der uns ist der sun betaget, | die uns den Sohn gebar, | |
| der ir ze kinde wol behaget. | der ihr allein als Kind zukommt. |
| IIb1 | Maget und muoter, schowe der kristenheite nôt, | Jungfrau und Mutter, Gestalt der Not der Christenheit, |
| dû blüende gert Aarônes, ûf gênder morgenrôt, | du blühende Rute Aarons, du aufgehende Morgensonne, | |
| Ezechîêles porte, diu nie wart ûf getân, | Ezechiels Pforte, die nie geöffnet wurde, | |
| dur die der künic hêrlîche wart ûz und în gelân, | durch die der herrliche König ein- und ausgelassen wurde, | |
| Als diu sunne schînet durch ganz gewürhtez glas, | wie die Sonne schien, durch fein verarbeitetes Glas, | |
| alsô begar diu reine Christ, diu magt und muoter was. | so gebar die Reine Christus, die Jungfrau und Mutter war. |
| IIb2 | Ein bosch der bran, | Ein Busch brannte, |
| dâ nie niht an | aber weder versengte er, | |
| besenget noch verbrennet wart: | noch wurde er verbrannt: | |
| Breit unde ganz | Breit und vollständig, | |
| dâ beleip sîn glanz | blieb sein Glanz | |
| vor fiures flamme unverschart. | von der Flamme des Feuers unbeschadet. | |
| Daz diu reine | Das war alleine die | |
| magt aleine, | reine Jungfrau, | |
| diu mit megtlîcher art | die auf jungfräuliche Art |
| IIb3 | Kindes muoter worden ist | Mutter eines Kindes geworden ist |
| ân aller manne mitewist. | ohne das Mitwirken eines Mannes. | |
| [wider menschlîchen list] | [entgegen dem menschlichen Verstand] | |
| den wâren Crist | gebar sie den reinen Christen, | |
| gebar, der uns bedâhte. | der für uns sorgte. | |
| Wol ir, daz sî den ie getrouc, | Wohl ihr, dass sie den in sich trug, | |
| der unsern tôt ze tôde sluoc! | der unseren Tod tötete! | |
| mit sînem bluote er ab uns twuoc | Mit seinem Blut wendete er von uns | |
| den unfuoc, | den Unfug ab, | |
| den Even schulde uns brâhte. | den Evas Schuld uns gebracht hat. |
| IIb4 | Salomônes hôhen thrônes | Der hohe Thron Salomons |
| bistû, frowe, ein selde hêre und ouch gebieterinne. | bist du, Herrin, eine heilige Stätte und auch Gebieterin. | |
| Balsamîte, margarîte, | Balsam, edle Perle, | |
| ob allen megden bist dû, maget, ein magt, ein küniginne. | von allen Jungfrauen bist du, Jungfrau, eine Königin. | |
| Gotes lamme was dîn wamme, | Für das Lamm Gottes war dein Körper, | |
| ein palas reine, dâ er lac beslozzen inne. | ein reiner Palast, in dem es umschlossen lag. |
| IIb5 | Daz lamme ist Crist, | Das Lamm ist Christus, |
| der wârer got ist. | der wahrer Gott ist. | |
| dâ von dû bist | Dadurch bist du | |
| gehœret und gêret. | erhoben und gerettet. | |
| Dem lamme ist gar | Das Lamm hat sogar | |
| gelîch gevar | die gleiche Farbe | |
| der megde schar. | wie die Schar der Jungfrauen. | |
| Nû nemt sîn war | Nun nehmt ihn wahr | |
| und kêret, swar ez kêret. | und kehrt euch von dem ab, wovon er sich abkehrt. | |
| des bistû, frowe, gêret. | Davon bist du heilige Jungfrau gerettet. | |
| Nû bitte in, daz er uns gewer | Nun bitte ihn, dass er uns durch dich | |
| durch dich, des unser dürfte ger. | gewähre, was unsere Not lindert. | |
| dû sende uns trôst von himel her, | Sende du uns Trost vom Himmel her, | |
| des wirt dîn lop gemêret. | das wird deinen Ruhm vermehren. |
| III1 | Dû maget vil unbewollen, | Du völlig unbefleckte Jungfrau, |
| der Gedêônes wollen | der Wolle Gedeons | |
| glîchest dû bevollen, | gleichst du vollkommen, | |
| die got selbe begôz mit sîme touwe. | die Gott selbst mit seinem Tau begossen hat. | |
| Ein wort ob allen worten | Ein Wort von allen Worten, | |
| beslôz dînr ôren porten, | öffnete die Tore deiner Ohren, | |
| daz süeze ob allen orten | das Süßeste, von allen Orten, | |
| dich hât gesüezet, süeze himelfrowe. | hat dich versüßt, süße Himmelherrin. |
| III2 | Daz ûz dem worte erwahsen sî, | Was aus den Worten erwachsen ist, |
| daz ist von kindes sinne vrî, | ist fern vom Denken eines Kindes, | |
| ez wuohs ze worte und wart ein man. | es wuchs zum Worte und wurde ein Mann. | |
| dâ mêrket alle ein wunder an: | Da bemerkt alle ein Wunder: | |
| ein got, der ie gewesen wart, | ein Gott, der schon immer gewesen war, | |
| ein man nâch menschlîcher art. | wurde ein Mensch, nach menschlicher Art. | |
| Swaz er noch wunders ie begie, | Was er an Wundern schon gewirkt hatte, | |
| daz hât er überwundert hie. | das alles übertraf er hier. | |
| des selben wunderæres hûs | Das Haus dieses Wundertäters | |
| was einer reinen megde klûs | war die Klause einer reinen Jungfrau, | |
| wol vierzev wochen und niht mê | für wohl 40 Wochen und nicht mehr | |
| âne alle sünde und âne wê. | ohne alle Sünden, ohne jeden Schmerz. |
| III3 | Nû bitten wir die muoter | Jetzt bitten wir die Mutter, |
| und ouch der muoter barn, | und auch ihren Sohn, | |
| si reine und er vil guoter, | sie reine und ihn guten, | |
| daz sî uns tuon bewarn: | dass sie uns bewahren. | |
| Wan ân sî kan nieman | Denn ohne sie kann niemand, | |
| hie noch dort genesen. | weder hier noch dort Heil erfahren. | |
| Widerret daz ieman, | Wenn das jemand abstreitet, | |
| der muoz ein tôre wesen. | so muss er ein Narr sein. |
| II*a1 | Wie kunde des iemer werden rât, | Wie könnte man jemals jemandem Rat geben, |
| der umbe sîne missetât | der für seine begangenen Fehler | |
| niht herzelîcher riuwe hât, | keine ehrliche Reue empfindet, | |
| sît got enheine sünde lât, | seit Gott keine Sünde erlässt, | |
| Die niht geriuwent zaller stunt | die nicht zu aller Zeit bereut wird, | |
| hin abe uns ûf des herzen grunt? | bis hinab auf den Grund des Herzens? | |
| dem wîsen ist daz alles kunt, | Dem Weisen ist das alles bekannt, | |
| daz niemer sêle wirt gesunt, | dass die Seele niemals gesund wird, | |
| diu mit der sünden swert ist wunt, | die mit dem Schwert der Sünde verwundet wurde, | |
| sin habe von grunde heiles funt. | es sei denn, sie habe den Grund des Heils gefunden. |
| II*a2 | Nû ist uns riuwe tiure! | Nun ist bei uns Reue selten! |
| si sende uns got ze stiure | Gott sende sie uns zur Stütze | |
| Bî sînem minnefiure. | durch seine flammende Liebe. | |
| sîn geist, der vil gehiure, | Sein Geist, der so heilige, |
| II*a3 | Der kan wol herten herzen geben | der kann wohl harten Herzen |
| wâre riuwe und reinez leben. | wahre Reue und reines Leben geben. | |
| Swâ er die riuwe gernde weiz, | Wenn jemand gerne Reue empfindet, | |
| dem machet er die riuwe heiz. | so verstärkt er sie ihm. | |
| Ein wildes herze er alsô zamt, | So zähmt er also ein wildes Herz, | |
| daz er sich aller sünden schamt. | dass es sich aller Sünden schämt. |
| II*b1 | Nû sende uns, vater unde sun, den rehten geist her abe | Nun sende uns, Vater uns Sohn, den rechten Geist herab, |
| daz er mit sîner süezen fiuhte ein dürrez herze erlabe. | dass er mit seinen süßen Feuchte ein dürres Herz erfrischt. | |
| Unkristenlîcher dinge ist al diu kristenheit sô vol. | Die Christenheit ist so voller unchristlicher Dinge. | |
| swâ kristentuom ze siechhûs lît, dâ tuot man im niht wol. | Wo das Christentum im Lazarett liegt, da wird es nicht gut behandelt. |
| II*b2 | In dürstet sêre | Es dürstet sehr |
| nâch der lêre | nach der Lehre, | |
| als er von Rôme was gewon. | die es von Rom gewohnt war. | |
| Der im dâ schancte | Wenn man ihm dort einschenkte | |
| und in dâ trancte | und es tränkte | |
| als ê, dâ wurde er varnde von. | wie früher, es würde wieder gesund. |
| II*b3 | Swaz im dâ leides ie gewar, | Was ihm dort an Leid geschah, |
| daz kam von simonîe gar, | das kam von der Simonie, | |
| und ist er dâ sô friunde bar, | auch ist er da so ohne Freunde, | |
| daz er engetar | dass er nicht wagt, | |
| niht sîn schaden gerüegen. | seinen Schaden einzuklagen. | |
| Kristentuom und kristenheit, | Christentum und Christenheit, | |
| der disiu zwei zesamne sneit, | wer diese beiden verbindet, | |
| gelîch lanc, gelîch breit, | gleich lang und gleich breit, | |
| liep und leit, | Freude und Leid, | |
| der wolte ouch, daz wir trüegen | der wollte auch, dass wir führen |
| II*b4 | In kriste kristenlîchez leben. | in Christus ein christliches Leben. |
| sît er uns hât ûf ein gegeben, sô suln wir uns nicht scheiden. | Da er uns zusammengegeben hat, sollen wir uns nicht trennen. | |
| swelh kristen kristentuomes pfliht | Wer sich als Christ zum Christentum bekennt, | |
| an worten und an werken niht, der ist wol halp ein heiden. | nach Worten, aber nicht nach Taten, der ist wohl ein halber Heide. | |
| Daz ist unser meister nôt: | Das ist unsere größte Not: | |
| daz einer ist âne daz ander tôt. Nû stiure uns got an beiden | das eine ist ohne das andere tot. Nun helfe uns Gott zu beidem |
| II*b5 | Und geben uns rât, | Und gebe uns Rat, |
| sît er uns hât | da er uns offen | |
| sîn hantgetât | als seine Geschöpfe | |
| geheizen offenbâre. | bezeichnet hat. | |
| Nû senfte uns, frowe, sînen zorn, | Nun besänftige – heilige Jungfrau – seinen Zorn, | |
| barmherzic muoter ûz erkorn, | barmherzige Mutter, uns auserkoren, | |
| dû friêr rôse sunder dorn, | du edle Rose ohne Dorn, | |
| dû sunnervarwiu clâre. | du sonnengleiche Reine. |
| IV | Dich lobet der hôhen engel schar, | Dich lobt die Schar der hohen Engel, |
| doch brâhten sî dîn lop nie dar, | doch brachten sie dein Lob nie dar, | |
| daz es volendet wurde gar. | dass es völlig vollendet wurde. | |
| Daz ez ie wurde gesungen | Damit es stets gesungen werde | |
| in stimmen oder von zungen | in Stimmen oder Sprachen | |
| ûz allen ordenungen | aus allen Ordnungen | |
| ze himel und ûf der erde, | im Himmel wie auf der Erde | |
| ich mane dich, gotes werde. | ich erinnere dich, Gotteswürdige. | |
| Wir bitten umb unser schulde dich, | Wir bitten dich wegen unserer Schuld, | |
| daz dû uns sîst genædeklich, | das du uns gnädig ansiehst, | |
| Sô daz dîn bete erklinge | sodass deine Bitte erklinge | |
| vor der barmunge urspringe. | vor dem Ursprung des Erbarmens. | |
| Sô hân wir des gedinge, | Dann haben wir die Hoffnung, | |
| diu schulde werde ringe, | dass die Schuld gering werde, | |
| Dâ mit wir sêre sîn beladen. | mit der wir schwer beladen sind. | |
| hilf uns, daz wir si abe gebaden | Hilf uns, dass wir sie abgeben | |
| Mit stæte wernder riuwe umbe unser missetât, | mit stetiger Reue wegen unserer Sündenlast, | |
| die nieman âne got und âne dich ze gebenne hât. | die niemand außer Gott und außer dir zu vergeben fähig ist. |