Die halbe Birne: Unterschied zwischen den Versionen

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==Handlungsübersicht==
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Ein König hat eine schöne Tochter namens Adelheid. Auf ihren Wunsch hin lässt der König ein Turnier um die Hand seiner Tochter veranstalten, bei welchem der Ritter Arnold durch seine Tatkraft deutlich heraussticht. Zur Belohnung wird der Ritter zum Abendessen eingeladen, am Tisch neben der Prinzessin Platz zu nehmen. Hierbei unterläuft dem Ritter jedoch ein Etikettenfehler, denn als Adelheid und Arnold zum Nachtisch eine Birne gereicht wird, zerteilt der Ritter diese in zwei Hälften und wirft sich die eine ungeschält in den Mund, ohne vorher der Prinzessin ein Stück anzubieten.  
Ein König hat eine schöne Tochter namens Adelheid. Auf ihren Wunsch hin lässt der König ein Turnier um die Hand seiner Tochter veranstalten, bei welchem der Ritter Arnold durch seine Tatkraft deutlich heraussticht. Zur Belohnung wird der Ritter zum Abendessen eingeladen, am Tisch neben der Prinzessin Platz zu nehmen. Hierbei unterläuft dem Ritter jedoch ein Etikettenfehler, denn als Adelheid und Arnold zum Nachtisch eine Birne gereicht wird, zerteilt der Ritter diese in zwei Hälften und wirft sich die eine ungeschält in den Mund, ohne vorher der Prinzessin ein Stück anzubieten.  
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===Patrizia Barton: "''Stüpfa, maget Irmengart!''" - Die Entdeckung des anderen Begehrens in der Halben Birne A===
===Patrizia Barton: "''Stüpfa, maget Irmengart!''" - Die Entdeckung des anderen Begehrens in der Halben Birne A===
Ein wichtiger Bestandteil in Patrizia Bartons Forschungstext ist die Pervertierung des höfischen Romans, die sie im ersten Teil umfassend erläutert. Der Handlungsraum der Erzählung Die halbe Birne ist schnell festgelegt: der Hof. Zunächst treten die Königstochter Adelheid und später der Ritter Arnold auf, welcher sich bei dem Turnier um die Hand der Prinzessin als tatkräftig erweist. Dem Ritter unterläuft noch am selben Abend ein Etikettenfehler: er zerteilt eine Birne nach „gebiureschlîcher art“ (V. 89: auf bäuerliche Art) in zwei Hälften und wirft sich eine davon ungeschält in den Mund, ohne der Prinzessin vorher ein Stück anzubieten. Arnold Fressgier und der unterlassene Dienst an der Minnedame werden ihm zum Verhängnis und stellen einen Erwartungsbruch dar.  
Ein wichtiger Bestandteil in Patrizia Bartons Forschungstext ist die Pervertierung des höfischen Romans, die sie im ersten Teil umfassend erläutert. Der Handlungsraum der Erzählung Die halbe Birne ist schnell festgelegt: der Hof. Zunächst treten die Königstochter Adelheid und später der Ritter Arnold auf, welcher sich bei dem Turnier um die Hand der Prinzessin als tatkräftig erweist. Dem Ritter unterläuft noch am selben Abend ein Etikettenfehler: er zerteilt eine Birne nach „''gebiureschlîcher art''“ (V. 89: auf bäuerliche Art) in zwei Hälften und wirft sich eine davon ungeschält in den Mund, ohne der Prinzessin vorher ein Stück anzubieten. Arnold Fressgier und der unterlassene Dienst an der Minnedame werden ihm zum Verhängnis und stellen einen Erwartungsbruch dar.  


Am nächsten Tag verspottet Adelheid den Ritter Arnold wodurch der Fauxpas, den zunächst nur Adelheid beobachtet hatte, vor dem gesamten Hof öffentlich gemacht wird. Folglich stellt der Fehltritt des Helden nicht nur ein Vergehen auf Handlungsebene dar, sondern leitet den Übergang vom höfischen Roman zur Schwankhandlung ein. Arnold verlässt die räumliche Sphäre des Hofes, wodurch sich sein sozialer Austritt manifestiert.  
Am nächsten Tag verspottet Adelheid den Ritter Arnold, wodurch der Fauxpas, den zunächst nur Adelheid beobachtet hatte, vor dem gesamten Hof öffentlich gemacht wird. Folglich stellt der Fehltritt des Helden nicht nur ein Vergehen auf Handlungsebene dar, sondern leitet den Übergang vom höfischen Roman zur Schwankhandlung ein. Arnold verlässt die räumliche Sphäre des Hofes, wodurch sich sein sozialer Austritt manifestiert.  


Die spätere Reintegration gelingt durch die Negierung der höfischen Werte am Hof selbst. Mit seiner Rückkehr möchte Arnold die Zivilisation der höfischen Gesellschaft als bloßen Schein entlarven, in dem er das Unhöfische als einen Teil des Höfischen enthüllt; hier handelt es sich um eine sogenannte ‚Anti-Bewährung‘, wie Barton es nennt. Der Ritter schlüpft auf Anraten seines Knechts in die Rolle eines taubstummen Narren, wobei dieser Wendepunkt nicht nur eine Zäsur markiert, sondern er besiegelt auch den Gattungswechsel vom höfischen Roman zum Schwank. Der Narr als Symbol des Unhöfischen personifiziert damit das, was Adelheid ihm vorgeworfen hat zu sein. Somit dringt der Held als Grenzgänger, als das Exkludierte, in die höfische Sphäre ein und der Narr dient als Figur des ‚Re-Entry‘.  
Die spätere Reintegration gelingt durch die Negierung der höfischen Werte am Hof selbst. Mit seiner Rückkehr möchte Arnold die Zivilisation der höfischen Gesellschaft als bloßen Schein entlarven, in dem er das Unhöfische als einen Teil des Höfischen enthüllt; hier handelt es sich um eine sogenannte ‚Anti-Bewährung‘, wie Barton es nennt. Der Ritter schlüpft auf Anraten seines Knechts in die Rolle eines taubstummen Narren, wobei dieser Wendepunkt nicht nur eine Zäsur markiert, sondern er besiegelt auch den Gattungswechsel vom höfischen Roman zum Schwank. Der Narr als Symbol des Unhöfischen personifiziert damit das, was Adelheid ihm vorgeworfen hat zu sein. Somit dringt der Held als Grenzgänger, als das Exkludierte, in die höfische Sphäre ein und der Narr dient als Figur des ‚Re-Entry‘.  


Ein zweiter wichtiger Teil ist für Barton die Potenzierung des Schwanks. Am Hof selbst wird schnell die Faszination am Narren deutlich, aber: Wer mit dem Narren Spaß haben wolle, der müsse auch das Narrenspiel über sich ergehen lassen, also selbst zum Narren werden. Mit seinem Ankommen leitet der Narr die Demaskierung des Hofes ein, der seine zuht vergisst und Gefallen am Narrenspiel findet.
Ein zweiter wichtiger Teil ist für Barton die Potenzierung des Schwanks. Am Hof selbst wird schnell die Faszination am Narren deutlich, aber: Wer mit dem Narren Spaß haben wolle, der müsse auch das Narrenspiel über sich ergehen lassen, also selbst zum Narren werden. Mit seinem Ankommen leitet der Narr die Demaskierung des Hofes ein, der seine ''zuht'' vergisst und Gefallen am Narrenspiel findet.


In der darauffolgenden Kemenatenszene versucht Arnold, das Unhöfische aus der höfischen Prinzessin hervorzulocken. Deshalb lauert er auf dem Boden vor ihrer Kemenate, wird aber von einer frouwen Adelheids entdeckt und auf Verlangen der Prinzessin zu ihrer Unterhaltung eingelassen. Als der spärlich bekleidete Narr sich ans Feuer setzt, wird der Blick auf „sîn vil lsnc geschirre“ (V. 262: „sein sehr langes Glied“) frei. Die Frauen tollen vergnügt mit ihm herum, bis die „starke natûre“ (V. 274: „mächtige Natur“) ihr Recht fordert und Arnolds „ebenalter“ (V. 277: „Gleichaltriger“) sich aufrichtet. Damit entflammt Adelheids Liebesgier und ihr Verlangen nach sofortiger Triebbefriedigung, die sie einfordert. Irmgard rät Adelheid dazu, sich im Bett mit dem Narren zu vergnügen, da wegen seiner Stummheit das Vorhaben niemals öffentlich werden könnte. Bis hierhin findet eine schemagerechte Darstellung statt, denn die „grundsätzliche Schwäche der Frau“ scheint, ganz nach Arnolds Vorhaben, entlarvt zu sein. Im Folgenden kann der Mann seine ‚natürliche‘ Überlegenheit unter Beweis stellen; während Arnold den Narren nur spiele, könne die Frau ihre Liebesgier nicht mehr kontrollieren – die höfische zuht der Prinzessin sei nur Schein, der Trieb hingegen ihre wahre Natur.  
In der darauffolgenden Kemenatenszene versucht Arnold, das Unhöfische aus der höfischen Prinzessin hervorzulocken. Deshalb lauert er auf dem Boden vor ihrer Kemenate, wird aber von einer ''frouwen'' Adelheids entdeckt und auf Verlangen der Prinzessin zu ihrer Unterhaltung eingelassen. Als der spärlich bekleidete Narr sich ans Feuer setzt, wird der Blick auf „''sîn vil lsnc geschirre''“ (V. 262: „sein sehr langes Glied“) frei. Die Frauen tollen vergnügt mit ihm herum, bis die „''starke natûre''“ (V. 274: „mächtige Natur“) ihr Recht fordert und Arnolds „''ebenalter''“ (V. 277: „Gleichaltriger“) sich aufrichtet. Damit entflammt Adelheids Liebesgier und ihr Verlangen nach sofortiger Triebbefriedigung, die sie einfordert. Irmgard rät Adelheid dazu, sich im Bett mit dem Narren zu vergnügen, da wegen seiner Stummheit das Vorhaben niemals öffentlich werden könnte. Bis hierhin findet eine schemagerechte Darstellung statt, denn die grundsätzliche Schwäche der Frau scheint, ganz nach Arnolds Vorhaben, entlarvt zu sein. Im Folgenden kann der Mann seine ‚natürliche‘ Überlegenheit unter Beweis stellen; während Arnold den Narren nur spiele, könne die Frau ihre Liebesgier nicht mehr kontrollieren – die höfische ''zuht'' der Prinzessin sei nur Schein, der Trieb hingegen ihre wahre Natur.  


Arnolds Racheakt kehrt sich jedoch gegen sich selbst, da die beiden Frauen in der Kemenate nach und nach die Kontrolle übernehmen. Da Adelheid bemerkt, dass der Narr neben ihr liegt, ohne sich zu rühren, fordert sie Irmgard auf, die ihrer Herrin sogleich ihren dienst anbietet: Nachdem der Narr auf der Prinzessin liegt, stupft sie mit einem Stab Arnold in sein Hinterteil, sodass er die gewünschten Bewegungen ausführt, und so nimmt Irmgard seine Position ein, wodurch sie selbst Teil des Minnespiels wird. Arnold jedoch gibt die Kontrolle noch nicht gänzlich ab, da er kurz vor Adelheids Höhepunkt innehält. Aber Irmgard ergreift erneut den Stab und bringt auf Befehl der Prinzessin diese zum Höhepunkt, die Irmgards Vornamen ausruft. Von diesem Moment an endet Arnolds Schwank und der Schwank der Frauen beginnt: Es spielt nun keine Rolle mehr, dass sich der Mann zwischen den beiden Frauen befindet und er wird zum Objekt degradiert; Arnold dient als Spielzeug und ist nur eine Verlängerung von Irmgards Stock. Dadurch wird der Narr entmenschlicht, und gewissermaßen doppelt vergewaltigt, da er zum einen körperlich penetriert wird (jedoch nur symbolisch, nicht tatsächlich durch Irmgards Stock), zum anderen aber seiner Subjektposition beraubt wird.  
Arnolds Racheakt kehrt sich jedoch gegen sich selbst, da die beiden Frauen in der Kemenate nach und nach die Kontrolle übernehmen. Da Adelheid bemerkt, dass der Narr neben ihr liegt, ohne sich zu rühren, fordert sie Irmgard auf, die ihrer Herrin sogleich ihren dienst anbietet: Nachdem der Narr auf der Prinzessin liegt, stupft sie mit einem Stab Arnold in sein Hinterteil, sodass er die gewünschten Bewegungen ausführt, und so nimmt Irmgard seine Position ein, wodurch sie selbst Teil des Minnespiels wird. Arnold jedoch gibt die Kontrolle noch nicht gänzlich ab, da er kurz vor Adelheids Höhepunkt innehält. Aber Irmgard ergreift erneut den Stab und bringt auf Befehl der Prinzessin diese zum Höhepunkt, die Irmgards Vornamen ausruft. Von diesem Moment an endet Arnolds Schwank und der Schwank der Frauen beginnt: Es spielt nun keine Rolle mehr, dass sich der Mann zwischen den beiden Frauen befindet und er wird zum Objekt degradiert; Arnold dient als Spielzeug und ist nur eine Verlängerung von Irmgards Stock. Dadurch wird der Narr entmenschlicht, und gewissermaßen doppelt vergewaltigt, da er zum einen körperlich penetriert wird (jedoch nur symbolisch, nicht tatsächlich durch Irmgards Stock), zum anderen aber seiner Subjektposition beraubt wird.  


Arnold entlarvt die Kehrseite der Heterosexualität, die nur im geheimen Raum der Kemenate stattfinden kann. „Dennoch: Diese weibliche Herrschaft muss unter Verschluss gehalten werden“ (S. 155). Würde sie nach Außen dringen, hätte sie das Potential, Adelheid und auch Arnold in schande zu stürzen. Durch die Ehe zwischen Adelheid und Arnold, zu der Irmgard rät, wird die heteronormative Ordnung scheinbar wiederhergestellt.
Arnold entlarvt die Kehrseite der Heterosexualität, die nur im geheimen Raum der Kemenate stattfinden kann. „Dennoch: Diese weibliche Herrschaft muss unter Verschluss gehalten werden“ (S. 155). Würde sie nach Außen dringen, hätte sie das Potential, Adelheid und auch Arnold in ''schande'' zu stürzen. Durch die Ehe zwischen Adelheid und Arnold, zu der Irmgard rät, wird die heteronormative Ordnung scheinbar wiederhergestellt.




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===Primärliteratur===
===Primärliteratur===
Novellistik des Mittelalters, hrsg., übers. und kommentiert von Klaus Grubmüller, Berlin: Dt. Klassiker-Verl. 2011
===Sekundärliteratur===
Kiening, Christian: Ästhetik der Struktur. Experimentalanordnungen mittelalterlicher Kurzerzählungen; aus: Ästhetische Reflexionsfiguren in der Vormoderne, Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2019, S.303-328.
Barton, Patrizia: „Stüpfa, maget Irmengart!“ – Die Entdeckung des anderen Begehrens in der Halben Birne A. In: Mären als Grenzphänomen. Berlin 2018. S. 141-158.


Tschachtli, Sarina: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzueberschreitung in der Halben Birne A, in: Silvan Wagner (Hg.): Mären als Grenzphaenomen, Berlin 2018.
Dimpel, Friedrich M., Katharina Zeppezauer-Wachauer, and Daniel Schlager: Der Streit Um Die Birne. Autorschafts-Attributionstest Mit Burrows’ Delta Und Dessen Optimierung Für Kurztexte Am Beispiel Der ‚Halben Birne‘ Des Konrad Von Würzburg; erschienen in “Das Mittelalter”, Band 24, Heft 1; S.71-90: Walter DeGruyter GmbH, Boston/Berlin; 2019.


===Sekundärliteratur===
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Version vom 30. August 2020, 18:59 Uhr