Die Ständegesellschaft der Tiere in "Reinhart Fuchs": Unterschied zwischen den Versionen
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Die Interpretation lenkt hierbei den Fokus auf verborgene ''kritische Aussagen des Autors'' zu Gesellschaft, Macht und Ordnung und schließt mit einem ''Ausblick auf das Ziel'', welches der Autor verfolgt haben könnte, als er | Die Interpretation lenkt hierbei den Fokus auf verborgene ''kritische Aussagen des Autors'' zu Gesellschaft, Macht und Ordnung und schließt mit einem ''Ausblick auf das Ziel'', welches der Autor verfolgt haben könnte, als er jene Aussagen getroffen hat. | ||
==Das Motiv | ==Das Motiv des Unterfangens== | ||
Weshalb sollte | Weshalb sollte eine Analyse und eine Interpretation vorgenommen werden? | ||
Der Autor weist implizit darauf hin, dass | Der Autor weist implizit darauf hin, dass die Tiere detaillierter betrachtet sollten, da sie neben ihrer Tiergestalt nur zu geringem Teil wirklich "Tier" seien. | ||
Das Motiv für dieses | Das Motiv für dieses Unterfangen bildet der Umstand, dass sich der Autor dazu entschloss, den Tieren in "Reinhart Fuchs" unübersehbar menschliche Eigenschaften zuzusprechen. Somit ist es den Lesern möglich, die Tiere als menschliche Karikaturen zu sehen und Parallelen zwischen ihrem Zusammenleben und dem Zusammenleben der Menschen zu Lebenszeit des Autors zu ziehen. Die Idee des Autors, die hier im Hintergrund steht, wird auch "Anthropomorphismus" genannt. Kompatscher-Gufler beschreibt diese als eine Praxis, bei der man Tieren (bis zu einem gewissen Grad) menschliche Eigenschaften zuspreche, um Analogien zu deren Welt und ihrem Erleben zu erhalten (vgl. Kompatscher-Gufler 2017, 36)[Kompatscher-Gufler 2017]. | ||
Da der Autor den Tieren in dieser Manier | Da der Autor den Tieren in dieser Manier vermutlich nicht ohne Grund menschliche Eigenschaften zusprach, werden sich unter dem metaphorischem Gewand der Tiergestalt noch weitere Inhalte verstecken. | ||
==Einführung mit Hypothese== | ==Einführung mit Hypothese== | ||
Lange vor der Zeit von freier Marktwirtschaft und der Idee "selbstgemachter Chancen" war die soziale Ordnung des Alltags noch äußerst streng gegliedert. Von Gott gegeben - so könnte man sagen - fügten sich die Menschen in einen ihnen angeborenen Stand ein, der spezifische Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftliche Funktionen vorsah. So betete man unterwürfig, verteidigte das Vaterland oder - wie die meisten es taten - arbeitete mit dem Ziel seinen Teil zum gemeinsamen Leben beizutragen. | Lange vor der Zeit von freier Marktwirtschaft und der Idee "selbstgemachter Chancen" war die soziale Ordnung des Alltags noch äußerst streng gegliedert. Von Gott gegeben - so könnte man sagen - fügten sich die Menschen in einen ihnen angeborenen Stand ein, der spezifische Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftliche Funktionen vorsah. So betete man unterwürfig, verteidigte das Vaterland oder - wie die meisten es taten - arbeitete mit dem Ziel, seinen Teil zum gemeinsamen Leben beizutragen. | ||
Tatsache ist: Die alltägliche Realität unterschied sich in vielerlei Hinsicht (christliche Tugend, Stände, Machtausübung) von der theoretisch idealisierten Ordnung. | Tatsache ist: Die alltägliche Realität unterschied sich in vielerlei Hinsicht (christliche Tugend, Stände, Machtausübung) von der theoretisch idealisierten Ordnung. | ||
Immer wenn es Auschreitungen gegen die Ordnung gab, reagierten die Konstrukteure | Immer, wenn es Auschreitungen gegen die Ordnung gab, reagierten die Konstrukteure mit Mahnungen zur (selbstverständlichen) Normativität und Propaganda der ritterlichen bzw. geistlichen Tugenden. Es kam trotzdem immer wieder vor, dass sich einige Figuren innerhalb der Ordnung, sei es aus Ungerechtigkeit oder aus Angst, genötigt fühlten, gegen die Ordnung vorzugehen. | ||
Die Ordnung war sehr alt, wodurch sie jeder als Norm ansah. Das heißt aber nicht, dass die Ordnung so | Die Ordnung war sehr alt, wodurch sie jeder als Norm ansah. Das heißt aber nicht, dass die Ordnung so ideal war, wie sie der herrschende Teil bewertete. | ||
=== | ===Hypothese=== | ||
Interessant sind | Interessant sind jene Autoren dieser Zeit, denen sowohl das "Idealisierte" an der Ordnung als auch die Gefahr in der Differenz zur realen Situation bewusst war. Deshalb manifestierten sie die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Zeit in ihren Veröffentlichungen. Vielleicht sogar, um das überwiegend feudale Publikum über die Realität im Gewand der Metapher aufzuklären. Einer dieser Autoren war "[[Heinrich der Glîchezâre]]", der Autor des Tierepos "[[Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs)|Reinhart Fuchs]]". Im Hintergrund der oben aufgeführten Annahmen lässt sich folgende Hypothese aufstellen: | ||
Der "Spielmann" lässt nicht ohne Grund Parallelen zur Ständegesellschaft des Mittelalters erahnen. Er will das vorwiegend feudale Publikum über die maroden Strukturen der Ordnung aufklären | Der "Spielmann" lässt nicht ohne Grund Parallelen zur Ständegesellschaft des Mittelalters erahnen. Er will das vorwiegend feudale Publikum über die maroden Strukturen der Ordnung aufklären. | ||
==Die Analyse== | ==Die Analyse== | ||
Die Analyse soll methodisch die Gesellschaft der Tiere von den | Die Analyse soll methodisch die Gesellschaft der Tiere von den grundlegenden hin zu den besonderen Strukturen durchleuchten. Um diese grundlegendsten Strukturen der Ordnung zu analysieren, ist es naheliegend, nach notwendigen Bedingungen - d.h. Existenzbedingungen - für eine grundlegende hierarchische Strukturen zu suchen. | ||
Eine simple hierarchische Ordnung verlangt mindestens zwei notwendige Grundsatzannahmen. Die Figuren in der Ordnung müssen sich (1) im | Eine simple hierarchische Ordnung verlangt mindestens zwei notwendige Grundsatzannahmen. Die Figuren in der Ordnung müssen sich (1) im Allgemeinen wie im Besonderen voneinander unterscheiden und (2) ein Kriterium dieser Unterscheidung (das Spezifikum) muss den Grund dafür darstellen, dass die Figur eine bestimmte hierarchische Position einnimmt. | ||
=== Sicherung der Grundsatzannahmen: Übersetzung exemplarischer Textbelege === | === Sicherung der Grundsatzannahmen: Übersetzung exemplarischer Textbelege === | ||
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====Einordnung der Textstellen in den Handlungszusammenhang==== | ====Einordnung der Textstellen in den Handlungszusammenhang==== | ||
Textbelege (1) und (2) sind Ausschnitte aus dem Anfang der Gerichttags-Episode. Reinhart gewinnt schnell wieder die Überhand über das Geschehen und die Tiere um sich. Nach einer | Die Textbelege (1) und (2) sind Ausschnitte aus dem Anfang der Gerichttags-Episode. Reinhart gewinnt schnell wieder die Überhand über das Geschehen und die Tiere um sich. Nach einer schmachvollen Episode, in der Ysengrin auf verschiedenste Weisen von Reinhart gedemütigt und entmannt wurde, konnte sich selbiger wieder mit seiner Familie vereinigen und ist zur Fehde entschlossen. Einem Verwandten des Fuchses, dem Luchs, ist es zu verdanken, dass doch ein rechtlicher Weg einschlagen wird. Er bewirkt einen Gerichtstag, an dem Reinhart sich verantworten soll. Den Anfang dieses Gerichtages macht eine Aufzählung der Teilnehmer, welche zum Teil in (1) und (2) wiederzufinden ist. Unglücklicherweise ist jene Tagung nicht von langer Dauer und führt zu einer plötzlichen Flucht des Angeklagten mit anschließender Verfolgungsjagd bis in einen Dachsbau. Damit nicht genug, lässt sich der Verfolgte nochmals zu einer Untat an der Frau des Klägers herab. | ||
Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam nur allzu spät mit seinem in (4) beschriebenen Gefolge hinterher, um eine Chance zu haben, den Missbrauch an seiner Gattin zu verhindern. Mit diesem Unglück konfrontiert, bricht er ihn große Klagen aus. Er nennt unter anderem die glückliche Heirat des Paares (3), währenddessen der Täter schon längst geflohen ist. Damit endet die Episode des Gerichtstags (vgl. auch Ruh 1980; 21,22)[Ruh 1980] (vgl. RF, V. 1035-1238)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. | Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam nur allzu spät mit seinem in (4) beschriebenen Gefolge hinterher, um eine Chance zu haben, den Missbrauch an seiner Gattin zu verhindern. Mit diesem Unglück konfrontiert, bricht er ihn große Klagen aus. Er nennt unter anderem die glückliche Heirat des Paares (3), währenddessen der Täter schon längst geflohen ist. Damit endet die Episode des Gerichtstags (vgl. auch Ruh 1980; 21,22)[Ruh 1980] (vgl. RF, V. 1035-1238)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. | ||
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==Quellenverzeichnis== | ==Quellenverzeichnis== | ||
*[*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler, Gabriela: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung für Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48. | *[*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler, Gabriela: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung für Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48. | ||
*[*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005. | *[*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005. | ||
* [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29. | * [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29. | ||
*[*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980, S. 13-32. | *[*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980, S. 13-32. | ||
*[*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016, S. 11 - 24. | *[*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016, S. 11 - 24. | ||
*[*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 86 - 94. | *[*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 86 - 94. |
Aktuelle Version vom 23. April 2024, 09:47 Uhr
Der Artikel verbindet eine Analyse der Herrschafts-Hierarchie der Tiere in "Reinhart Fuchs" mit einer Interpretation der einhergehenden Parallelen zur Standesgesellschaft des Mittelalters. Die Interpretation lenkt hierbei den Fokus auf verborgene kritische Aussagen des Autors zu Gesellschaft, Macht und Ordnung und schließt mit einem Ausblick auf das Ziel, welches der Autor verfolgt haben könnte, als er jene Aussagen getroffen hat.
Das Motiv des Unterfangens
Weshalb sollte eine Analyse und eine Interpretation vorgenommen werden?
Der Autor weist implizit darauf hin, dass die Tiere detaillierter betrachtet sollten, da sie neben ihrer Tiergestalt nur zu geringem Teil wirklich "Tier" seien. Das Motiv für dieses Unterfangen bildet der Umstand, dass sich der Autor dazu entschloss, den Tieren in "Reinhart Fuchs" unübersehbar menschliche Eigenschaften zuzusprechen. Somit ist es den Lesern möglich, die Tiere als menschliche Karikaturen zu sehen und Parallelen zwischen ihrem Zusammenleben und dem Zusammenleben der Menschen zu Lebenszeit des Autors zu ziehen. Die Idee des Autors, die hier im Hintergrund steht, wird auch "Anthropomorphismus" genannt. Kompatscher-Gufler beschreibt diese als eine Praxis, bei der man Tieren (bis zu einem gewissen Grad) menschliche Eigenschaften zuspreche, um Analogien zu deren Welt und ihrem Erleben zu erhalten (vgl. Kompatscher-Gufler 2017, 36)[Kompatscher-Gufler 2017].
Da der Autor den Tieren in dieser Manier vermutlich nicht ohne Grund menschliche Eigenschaften zusprach, werden sich unter dem metaphorischem Gewand der Tiergestalt noch weitere Inhalte verstecken.
Einführung mit Hypothese
Lange vor der Zeit von freier Marktwirtschaft und der Idee "selbstgemachter Chancen" war die soziale Ordnung des Alltags noch äußerst streng gegliedert. Von Gott gegeben - so könnte man sagen - fügten sich die Menschen in einen ihnen angeborenen Stand ein, der spezifische Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftliche Funktionen vorsah. So betete man unterwürfig, verteidigte das Vaterland oder - wie die meisten es taten - arbeitete mit dem Ziel, seinen Teil zum gemeinsamen Leben beizutragen. Tatsache ist: Die alltägliche Realität unterschied sich in vielerlei Hinsicht (christliche Tugend, Stände, Machtausübung) von der theoretisch idealisierten Ordnung. Immer, wenn es Auschreitungen gegen die Ordnung gab, reagierten die Konstrukteure mit Mahnungen zur (selbstverständlichen) Normativität und Propaganda der ritterlichen bzw. geistlichen Tugenden. Es kam trotzdem immer wieder vor, dass sich einige Figuren innerhalb der Ordnung, sei es aus Ungerechtigkeit oder aus Angst, genötigt fühlten, gegen die Ordnung vorzugehen.
Die Ordnung war sehr alt, wodurch sie jeder als Norm ansah. Das heißt aber nicht, dass die Ordnung so ideal war, wie sie der herrschende Teil bewertete.
Hypothese
Interessant sind jene Autoren dieser Zeit, denen sowohl das "Idealisierte" an der Ordnung als auch die Gefahr in der Differenz zur realen Situation bewusst war. Deshalb manifestierten sie die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Zeit in ihren Veröffentlichungen. Vielleicht sogar, um das überwiegend feudale Publikum über die Realität im Gewand der Metapher aufzuklären. Einer dieser Autoren war "Heinrich der Glîchezâre", der Autor des Tierepos "Reinhart Fuchs". Im Hintergrund der oben aufgeführten Annahmen lässt sich folgende Hypothese aufstellen:
Der "Spielmann" lässt nicht ohne Grund Parallelen zur Ständegesellschaft des Mittelalters erahnen. Er will das vorwiegend feudale Publikum über die maroden Strukturen der Ordnung aufklären.
Die Analyse
Die Analyse soll methodisch die Gesellschaft der Tiere von den grundlegenden hin zu den besonderen Strukturen durchleuchten. Um diese grundlegendsten Strukturen der Ordnung zu analysieren, ist es naheliegend, nach notwendigen Bedingungen - d.h. Existenzbedingungen - für eine grundlegende hierarchische Strukturen zu suchen.
Eine simple hierarchische Ordnung verlangt mindestens zwei notwendige Grundsatzannahmen. Die Figuren in der Ordnung müssen sich (1) im Allgemeinen wie im Besonderen voneinander unterscheiden und (2) ein Kriterium dieser Unterscheidung (das Spezifikum) muss den Grund dafür darstellen, dass die Figur eine bestimmte hierarchische Position einnimmt.
Sicherung der Grundsatzannahmen: Übersetzung exemplarischer Textbelege
Zunächst sei also durch einige Textstellen belegt, dass die Tiere im "Reinhart Fuchs" (1) keineswegs von der gleichen Art sind und (2) bei einigen eine spezifische Eigenschaft besonderes ausgeprägt ist, welche ihnen eine hohe Position in der Hierarchie zusichert.
(1) Die Tiere unterscheiden sich grundlegend voneinander.
Es gibt solche, die groß sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche ÜbersetzungKursiver Text daz was der helfant vnde der wisen, Das waren der Elefant und der Wisent, di dovchten Reinharten risen, welche Reinhart wie Riesen vorkamen, die hinde vnde der hirz Randolt, die Hinde und der Hirsch Randolt, die waren Ysengrine holt, welche Isengrin zugetan waren, Brvn der bere vnde daz wilde swin Brun der Bär und das Wildschwein wolden mit Ysengrine sin. wollten Isengrin zur Seite stehen. zv nennen alle mich niht bestat, Ich befleißige mich nicht alle zu nennen, swelich tier grozen lip hat, aber jedes große Tier, daz was mit Ysengrine da; war mit Isengrin da;
Es gibt solche, die klein sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung der hase vnde daz kvneclin Der Hase und das Kaninchen vnd ander manic tierlin, und verschiedene andere kleine Tiere, des ich niht nennen wil, die ich nicht alle nennen will, der qvam dar vzer moze vil. kamen in unzählbaren Massen herbei.
Es gibt solche, die schön sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung da was manic tier lvssam Es waren viele stattliche Tiere vnser beider kunne. unserer Verwandschaft da.
Es gibt solche, die furchterregend und stark sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung mit Isengrine qvamen die svne sin, Mit Isengrin kamen dann sogleich seine Söhne manic tier vreisam und viele gefährliche Tiere; mit Ysengrine qvamen dar san;
Es gibt solche die Klug oder Weise sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung iz einwiderredete nieman Niemand gab Widerrede, wen ein olbente von Thvschalan, bis auf ein Kamel von Thuskulum, di was vrvmic vnde wis das war Fromm, Weise vnde dar zv vor alter gris. und darüber hinaus von greisem Alter.
(2) Es gibt ein Spezifikum, welches einerseits ein weiteres Unterscheidungskriterium bildet und andererseits die Position in der Hierarchie rechtfertigt.
Ist das Spezifikum von hohem Grad, besteigt man eine hohe Position.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung ein lewe, der was Vervil genant, Ein Löwe namens Frevel, gewaltic vber daz lant. Herrscher über das ganze Land. (...) si leisten alle sin gebot, sie leisten alle seinem Befehl Gehorsam, er was ir herre ane got. er war nach Gott ihr Herrscher.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung des enwolden si niht volgen, dem wollten sie nicht Folge leisten, des wart sin mvt erbolgen. dadurch wurde sein Gemüt erzürnt, vor zorne er vf die burc spranc, er sprang vor Zorn auf die Festung, mit kranken tieren er do ranc, da kämpfte er mit schwachen Tieren, in dvchte, daz iz im tete not. denn er dachte, dass er dazu verpflichtet sei.
Ist das Spezifikum von niedrigem Grade, bleibt man auf einer niedrigeren Position.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung Der hase gesach des kvniges zorn, Der Hase sah den Zorn des Königs, do want er zage sin verlorn. da ahnte er, der Feigling, sein Verderben. daz ist noch der hasen sit. Das ist noch immer des Hasens Art.
Einordnung der Textstellen in den Handlungszusammenhang
Die Textbelege (1) und (2) sind Ausschnitte aus dem Anfang der Gerichttags-Episode. Reinhart gewinnt schnell wieder die Überhand über das Geschehen und die Tiere um sich. Nach einer schmachvollen Episode, in der Ysengrin auf verschiedenste Weisen von Reinhart gedemütigt und entmannt wurde, konnte sich selbiger wieder mit seiner Familie vereinigen und ist zur Fehde entschlossen. Einem Verwandten des Fuchses, dem Luchs, ist es zu verdanken, dass doch ein rechtlicher Weg einschlagen wird. Er bewirkt einen Gerichtstag, an dem Reinhart sich verantworten soll. Den Anfang dieses Gerichtages macht eine Aufzählung der Teilnehmer, welche zum Teil in (1) und (2) wiederzufinden ist. Unglücklicherweise ist jene Tagung nicht von langer Dauer und führt zu einer plötzlichen Flucht des Angeklagten mit anschließender Verfolgungsjagd bis in einen Dachsbau. Damit nicht genug, lässt sich der Verfolgte nochmals zu einer Untat an der Frau des Klägers herab. Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam nur allzu spät mit seinem in (4) beschriebenen Gefolge hinterher, um eine Chance zu haben, den Missbrauch an seiner Gattin zu verhindern. Mit diesem Unglück konfrontiert, bricht er ihn große Klagen aus. Er nennt unter anderem die glückliche Heirat des Paares (3), währenddessen der Täter schon längst geflohen ist. Damit endet die Episode des Gerichtstags (vgl. auch Ruh 1980; 21,22)[Ruh 1980] (vgl. RF, V. 1035-1238)[Heinrich der Glîchezâre 2005].
Textbelege (6) und (7) sind Ausschnitte aus einer Zwischenepisode, welche direkt auf die Gerichtags-Episode folgt und den Ursprung der handlungskonstitutiven Krankheit, an der der König leidet, erklären soll. Der in (6) beschriebene König hat einen Landesfrieden beschlossen. Doch als er auf ein Ameisenvolk stößt, fordert er die unweigerliche Gefolgschaft der Ameisen. Nach der Weigerung der Ameisen den Befehlen des Königs Folge zu leisten (7), überspringt dieser ein Ultimatum und erklärt dem kleinen Volk kurzerhand den Krieg. Der Ameisenherr kommt zu spät zum Geschehen hinzu und erfährt von seinem aufgebrachten Volk, ihre vortrefflichen Burgen seien von dem Tyrann zerstört worden. Mit Rache in Absicht kriecht der Ameisenherr in einer ruhigen Minute in das Ohr des Königs, um dem Kriegstreiber schreckliche Kopfschmerzen zu bescheren. Der "Vrevel", von Kopfschmerzen heimgesucht, deutet dies als ein Urteil Gottes aufgrund der Versäumnis des Gerichtstags und ruft prompt einen Hoftag ein. Dieser Hoftag bildet eine erneute Gerichtssituation, in der nun aber der König auf dem Richterstuhl sitzt. Viele große und kleine Tiere, manche sogar aus fernen Lande, kamen zu dieser großen Versammlung. Ysengrin trägt, in Abwesenheit von Rheinhart, dem Plenum seine Klagen vor, in deren Anbetracht die Wut des Königs erneut entfacht wird (8). Über Reinhart wird anschließend übereinstimmend geurteilt. Doch ein Kamel aus Tusculum, welches dem Hoftag auch beiwohnte, erhob Einspruch (5). Es plädierte auf das Recht Reinharts, man müsse ihn dementsprechend erst dreimal vorladen. Nach dreimaliger Vorladung erscheint Reinhart dann doch. Seine Anwesenheit bedingt schließlich eine Kette von Ereignissen, die ultimativ zum Kollaps des Herrschaftskonstrukts und damit zur Klimax der Erzählung führen (vgl. auch Ruh 1980; 23,24,25)[Ruh 1980] (vgl. RF, V. 1239-2248)[Heinrich der Glîchezâre 2005].
Die Ordnung im Allgemeinen
Aus den Grundannahmen lässt sich schließen, dass sich die Tiere in "Reinhart Fuchs" durch ihre Spezies und deren biologisch-evolutionäre Eigenschaften unterscheiden. Ferner unterscheiden sich die Tiere nicht nur und leben in einer offenen pluralistischen Gemeinschaft, sondern sind an eine hierarchische Ordnung gebunden. Diese Ordnung verlangt eben diese dargelegten Differenzen und sortiert selbige nach einem Kriterium in eine Rangfolge. Die Tiere unterscheiden sich durch ihre Größe und ihre äußere Gestalt, welche ihnen entsprechende Kräfte geben, sodass das große und fülligste Tier kräftiger ist als das kleine und schmächtige. Diejenigen Tiere, die nun durch ihre Gestalt an größerer Kraft verfügen, stehen über denen, die durch ihre Gestalt weniger oder keine Kraft zur Verfügung haben. Die Stellung wird dann durch das "Betätigen der Kraft", d.h. die Gewaltausübung, gesichert und aufrechterhalten, somit ist auch die Gewaltbereitschaft ein wichtiger Faktor für die hierarchische Stellung. Der Löwe sichert bspw. seine Stellung gegenüber den Ameisen, welche seine Stellung in Frage stellten (vgl. RF, 1252-1259)[Heinrich der Glîchezâre 2005].
Die Stellung in der Hierarchie wird also durch die Macht eines Individuums über das Andere gerechtfertigt, wobei hier das Kriterium der Macht physische Kraft und Gewalt ist (vgl. auch Neudeck 2016; 12,13,22)[Neudeck 2016].
Die Ordnung im Besonderen
Gruppenbildung
Alle Figuren in der Erzählungen fügen sich in diese grobe Ordnung ein und besetzten gemäß ihrem spezifischem Grad an Macht eine Position in selbiger. Es ist jedoch nicht nur die Stellung des Einzelnen in der Ordnung, die im Laufe der Erzählung explizit wird, vielmehr werden auch anhand von Merkmalen der Zugehörigkeit kleinere Gruppierungen erkennbar, die sich in die allgemeine Ordnung einfügen. Die Mitglieder der jeweiligen Gruppierungen liegen ungefähr auf einer Ebene der Hierarchie. Man kann sagen, dass die starken Tiere sich anderen starken Tieren zugehörig fühlen und die schwachen anderen schwachen - bspw. die Tiere des Hofapperates oder die Hühner. Da diese Gruppen aber genauso Teil der allgemeinen Ordnung sind wie auch der Einzelne in der Gruppe, gibt es auch innerhalb der Gruppe solche, die einen Herrschaftsanspruch über die anderen Mitglieder haben - bspw. der Wolf Isengrin als oberstes Mitglied des Wolfsrudels. Damit gestaltet sich die Hierarchie der Tiere in Reinhart Fuchs so, dass auf Mikroebene ein Individuum (nach seinem Geschlecht) über dem anderen steht, wobei auf Makroebene eine Gruppe (von stärkeren unterschiedlichen Geschlechts) über der Anderen steht. Ferner: Wenn die Rede von einer Vetternschaft ist, so ist die Bindung in einer Gruppe von gleich starken oder gleich schwachen (Bspw. die Vetternschaft zwischen Katze, Fuchs, Luchs und Wolf (vgl. RF; 313-315, 453-455, 1070-1078)[Heinrich der Glîchezâre 2005]) gemeint. Wenn aber die Rede von Geschlecht ist, so ist die spezifische Gattung des Tiers (bspw. Füchse oder Ameisen (vgl. RF, 1267-1269, 1164-1166, 1481-1483)[Heinrich der Glîchezâre 2005]) gemeint, welches es in eine spezifische, der Gattung eigene Position in der Hierarchie zwingt.
Quantität und Qualität der Gruppen
Jede Gruppe varriert, wie deutlich wurde, in der Qualität ihrer Mitglieder - d.h. in der physischen Beschaffenheit -, aber auch in der Quantität der Mitglieder. Dabei sind die Gruppen mit den stärksten Tieren nach der Menge ihrer Mitglieder die kleinsten (siehe kleine Hofgefolgschaft), und die Gruppen mit den schwächsten Tieren nach der Menge ihrer Mitglieder die größten (vgl. RF, V. 1113-1120)[Heinrich der Glîchezâre 2005], sodass die Hierarchie graphischen am besten als eine Pyramide vorstellbar ist. Klettert man die Pyramide vom Boden hinauf, so startet man in einer ersten riesigen Gruppe, deren Mitgliedern von schwächster Gestalt sind. Mit zunehmender Höhe werden die Gruppen dann immer kleiner und ihre Mitglieder immer stärker, bis man sich an der Spitze der Pyramide befindet, an der keine Gruppe mehr steht, sondern ein einziges Tier.
Position der Gruppen in der Hierarchie
Derjenige, der die oberste Stellung in der Hierarchie einnimmt, ist der Stärkste und Gewaltbereiteste, der Löwenkönig (vgl. RF, V. 1240-1246)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. Er nimmt eine singuläre Postion ein und steht - in der vorherrschenden Ordnung - mit keiner anderen Figur auf einer Höhe. Er ist die Figur, bei der es am einfachsten gelingt sie in eine Position einzuordnen, weil es keine andere Figur gibt, die über vergleichbare Stärke verfügt wie sie. Direkt darunter befindet sich eine Gruppe aus äußerst starken Tieren unterschiedlichsten Geschlechts, welche den Hofapparat bildet. Dazu gehören beispielsweise Brun der Bär, der Leopard, Reinhold der Hirsch und Weitere (vgl. RF, V. 1329-1339)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. Andere beispielhafte Gruppen wären - hierarchisch absteigend - die Wolfsfamilie und deren Verbündete/Verwandten im Gerichtstag (vgl. RF, V. )[Heinrich der Glîchezâre 2005] , der Hahn Dizelin und seine Hennen, das Volk der Ameisen und die Schar der unbenannten kleinen Tiere, die in dem Sinne eine Gruppe bilden, als es von ihnen so viele gibt und sie so unwichtig für die Handlung sind, dass sie zu benennen nicht nötig ist.
Zugehörigkeit und Bindung zur Gruppe
Es wurde deutlich: Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist nicht gewählt. Ganz ihm Gegenteil sind die objektiven Eigenschaften, die die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bzw. einer Gattung determinieren, durch die Natur verteilt und grundlegend nicht veränderbar. Denn eine Maus kann aufgrund ihres Geschlechts nicht plötzlich einen Löwen gebären, sondern auf ewig nur Mäuse. Diese Maus und die Gruppe von schwachen Tieren, zu der sie gehört, kann weder selbst im Rang aufsteigen noch Nachkommen zeugen, die das können werden. Letztendlich sind die Figuren durch ihre Gattung relativ fest an ihre Position in der Hierarchie gebunden. Beispielsweise ist ein Bär ein starkes Tier und wird auch immer starke Nachkommen haben, wird folglich auch immer in einer kleinen Gruppe von starken Tieren (Hofgefolge) bleiben, kann und wird aber aufgrund seiner vererbten physischen Eigenschaften nie ein stärkeres Tier werden. Damit kann der Bär seinem gebürtigen Stand nach nie den Löwen an Stärke übertreffen. Genauso wird der Wolf immer ein relativ starkes Tier bleiben, aber nie Nachkommen haben, die plötzlich stärker sind. Schließlich wird man in eine Position eingeboren, wobei es der physischen Gestalt nach unmöglich ist in der Position ab oder aufzusteigen und man sich in einer Gruppe von Tieren wiederfindet, die von unterschiedlichem Geschlecht sein können, sich aber in ihrem Grad der Stärke ähneln. Anzumerken ist hier auch, dass die angeborene Kraft kein Zufall ist, sondern göttliche Fügung. Im Reinhart Fuchs wird mehrmals angedeutet, dass die Kraft des Geschlechts von Gott vorgesehen ist. Der König "Vrevel" ist nach Gott der Herrscher und deutet selbst seine Schmerzen als Bestrafung Gottes, weil er seiner (göttlich herbeigefügten) Aufgabe als oberster Richter im Gerichtstag nicht nachkam (vgl. RF; V. 1245-1246, 1318-1320 )[Heinrich der Glîchezâre 2005].
Eine Schwierigkeit
Diese Beschreibung der besonderen Strukturen lässt eine zentrale Figur aus. Zunächst lässt sich beschreiben, dass auch Reinhart einer Gattung angehört, welche ihn (nach der hier geschilderten Ordnung) in eine spezifische hierarchische Position zwingt. Schwieriger wird es Reinhart einer Gruppe aus ähnlich starken Tieren zuordnen, denn teils bricht er das Bündnis zu gleichgestellten (siehe die Vetternschaft mit dem Kater Diepreth) teils hält er an selbigem fest (siehe Bündnis mit dem Dachs Krimel). Es fällt nicht nur schwer eine geeignete Gruppe für ihn zu finden, viel schwerer fällt es unter den genannten Kriterien ihn in eine hierarchische Position einzuordnen. Er ist einerseits mit anderen Tieren seiner Stärke vergleichbar, anderseits in seiner Position und Machtstellung unvergleichbar und besonders. Aufgrund der Unmöglichkeit einer Festsetzung in eine Position kann man gar von einer Möglichkeit der Bewegung zwischen den Gruppen sprechen. Diese Besonderheit ist für die aufgeführte Art der Ordnung eine direkte Bedrohung.
Parallelen zur Ständegesellschaft des Mittelalters
Allgemeine Parallelen
Mit der Analyse sollte eines schon deutlich geworden sein: Die Ordnung der Gesellschaft der Tiere in Reinhart Fuchs ähnelt stark der Ordnung, in der man zur Lebenszeit des Autors lebte. In der Tat war die Gesellschaft des Hochmittelalters äußerst autoritär geordnet. Die Mächte und Gewalten waren klar verteilt, sodass es im groben nur zwei Arten von Menschen gab: die Herrschenden und die Beherrschten. Ein Individuum, das mit mehr Macht ausgestattet war und Gewalten zur Verfügung hatte, stand, um es einfach zu sagen, über demjenigen, der keine oder weniger Macht oder weniger an Gewalt zur Verfügung hatte und sich damit beherrschen ließ. Auch wenn es bei dieser Art der Macht weniger um physische Statur ging, als um Ressourcen, Zwang und Bedrohung, ist auch diese hierarchische Ordnung, wie auch die der Tiere, grundlegend auf Gewalt und Macht aufgestellt. Nun sind die drei prominenten großen Stände des Mittelalters - Adel, Klerus und Bauern -, wie die Gruppen im RF, in diese Ordnung eingebettet, sodass auch diese hierarchisch übereinander geordnet sind. Die Mitglieder eines Standes hatten einen ähnlichen Grad an Macht und dieselben, dem Stand eignen Aufgaben. Tatsächlich wurde dieses Konstrukt, wie auch das Konstrukt in RF, graphisch häufig in Form einer Pyramide dargestellt. Dies Stände in dem Konstrukt waren jedoch - orientiert an der großen Trinität - nur sehr grobe Gruppierungen nach den generellsten Aufgaben und Machtansprüchen, unter denen wiederum viele kleine Gruppen subsumiert wurden. Jeder Stand hatte - gemäß dem Schaubild der allgemeinen Ordnung - für sich selbst nochmals eine interne hierarchische Struktur. Beispielsweise gab es im Stand des Adels sehr wohl weiter hierarchische Aufteilung, wobei an der obersten Spitze der Pyramide der König stand, darunter der Hochadel, Ritter und dann der niedere Adel. Weiter war auch die Zugehörigkeit zu einem Stand oder zu einer Gruppe eines Standes von Geburt an determiniert und von Gott vorgesehen.
Einschränkung auf den Adel
Sprechen wir nun von der Ordnung der Tiere im Reinhart Fuchs ist zu beachten, dass die meisten der handelnden Figuren in Reinhart Fuchs Teil des Adels sind, sodass wir die meiste Zeit nicht die gesamte Ordnung mit allen Ständen betrachten, sondern nur die inneren Strukturen des adeligen Standes. Wenn wir also die Ordnung der Tiere in Reinhart Fuchs im besonderen betrachten, dann schauen wir nur auf das oberste Drittel der Pyramide. Wie Ruh sagt, sind alle handelnden Figuren in Reinhart Fuchs dem Stand des Adels angehörig, sodass die Tierwelt in Reinhart Fuchs größtenteils eine adelige Welt darstellt (vgl. Ruh 1980, 29)[Ruh 1980]. Die meisten Gruppen in Reinhart Fuchs stellen somit Teile der hierarchischen Struktur der adeligen Welt wieder, in der der kleine Adel unter Hochadel und zuletzt dem König stand. Ein kleiner Teil der Gruppen im Reinhart Fuchs ist aber auch von der Art, dass sie kein Teil des Adels sind. Wann sprechen wir also bei den Tieren in Reinhart Fuchs von Adel und wann nicht?
Zum einen können offensichtlich diejenigen Tiere als Adel bezeichnet werden, die explizit einem Hofapparat angehören, welcher ganz ohne Metaphorisches Gewand deutlich eine obere adelige Struktur darstellt (bspw. Brun der Hofkaplan).
Zum anderen liefert die Benennung und Bezeichnung der Tiere ein klares Indiz für ihren adeligen Status. Während diejenigen Tiere, die von adeligem Status sind, eine definite Bezeichnung (bspw. der Ameisenherr, Brun der Bär, Ysengrin, der Hirsch, der Leopard, der Löwe Vrevel) tragen, tragen Tiere ohne adeligen Status eine indefinite Bezeichnung, sind keine handelnden Figuren in Reinhart Fuchs und stehen eher am Rande des Geschehens (bspw. die kleinen Tiere, Marder, viele -, einige -, eine Maus, eine Meise, Ameisenvolk). Man nehme beispielsweise die Gruppe der kleinen Tiere, die nicht näher beschrieben werden kann, weil sie aufzuzählen ein zu großer Aufwand wäre (vgl. RF, V. 1118-1120)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. Dagegen ist ein Tier mit definitem Artikel, bspw. der Hase, ein bestimmter aus der unbestimmten Menge von Tieren seines Geschlechts gewählte Figur. Dieser definite Status suggeriert Bekanntheit und Ansehen.
Die definiten Tiere tragen manchmal sogar einen Namen, sind "Barone", "Herren" und "Höflinge" und sprechen sich auch dementsprechend an ((vgl. Ruh 1980, 29)[Ruh 1980]). Dabei könnte man vermuten, dass das Geschlecht (die Spezies/Rasse des Tiers) den Nachnamen oder auch den Stand bezeichnet, weil man mit dem Namen des Geschlechts schon eine gewissen Grad an Macht assoziiert (Z.b: Maus, Ameise, Wolf).
Hierarchische Position der Tiere im Stand des Adels
Der Stand der Tiere in Reinhart Fuchs ist also vorwiegend der Adel. An der Spitze (der kleinen Pyramide) dieses Adels steht der König Vrevel. Unter ihm der Hochadel in Form seines Hofapparats, mit prominenten und äußerst starken Tieren, wie zum Beispiel: Brun der Bär, der Hirsch, der Leopard. Von dieser Spitze des Adels steigt man nach und nach ganz im Sinne der allgemeinen Ordnung zu - relativ zur höheren Position - schwächeren Tieren und Gruppen von schächeren Tieren, wie zum Beispiel der Wolf und seine Verbündeten/Verwandten. Bis man zu den kleinsten und schwächsten Tieren und Gruppierungen von Tieren gelangt, die noch zum Adel gehören. Dazu gehören Beispielsweise der Ameisenkönig oder auch Scetecler und seine Hennen.
Hierarchische Position der Tiere in anderen Ständen
Tiere die nicht dem Stand des Adels angehören sind in Stände zu ordnen, die unterhalb des Adels liegen. Sie sind nach der allgemeinen Ordnung Gruppen aus Individuen, die über weniger Macht verfügen als der Adel. Diese Gruppen wären in Reinhart Fuchs beispielsweise das Ameisenvolk (ohne seinen Herr) oder die Schar der unbenannten kleinen Tieren. Explizit werden keine Aussagen über den Stand Klerus oder den der Bauern bzw. Unfreien getroffen. Abseits von kleineren zynischen Anmerkungen Reinharts zum Mönch- und Klosterleben (vgl. RF, V. 655-750)[Heinrich der Glîchezâre 2005] (vgl. Ruh 1980; 20,21)[Ruh 1980]. Es können Vermutungen darüber angestellt werden, ob Reinhart oder seine Fürsprecher aufgrund ihrer Intelligenz, ihres Alters und Weisheit, oder ihrer Affinität, als Fuchs oder Dachs in einer Höhle (Kloster) zu leben, zum Stand des Klerus gehören. Auch der Klerus war privilegiert und stand auf der Seite der Beherrschenden. Einige graphische Illustrationen der mittelalterlichen Gesellschaft sehen selbst von der Pyramide ab und nehmen das Bild einer Zwiebel. Wobei der Adel und der Klerus sich die Position an der Spitze der Zwiebel teilen. Bei den Fürsprechern Reinharts kann man von solch einer Position ausgehen. Das würde heißen, dass das Kamel, der Elefant und der Dachs weniger dem höheren Adel angehören als der höheren Geistlichkeit, welche auch im Feld des Adels mitspielen konnte. Doch bei Reinhart muss man von solchen Vermutungen absehen. Denn er ist es, der keine Position wirklich einnimmt oder über längere Zeit besetzt hält. Er ist die einzige Figur, der es in diesem Sinne sogar gelingt, die Leiter zu erklimmen.
Zusammenfassung
Letztendlich beschreibt die Gesellschaft der Tiere in Reinhart Fuchs eine feudale Ordnung. Das heißt sie nimmt - mit einigen Ausnahmen - nur den Stand des Adels aus der drei - Stände - Ordnung herraus und beschreibt diese Subkultur. Dabei beruft sich die Ordnung der Tiere in Reinhart auf eine allgemeine Ordnung, wie sie auch im Mittelalter für alle Stände inklusive dem adeligen Stand galt.
Mögliche Kritik des Autors
Nachdem gezeigt wurde, wie die Ordnung der Tiere im allgemeinen und besonderen aufgebaut ist und dass diese Darstellung tatsächlich Parallelen zur mittelalterlichen Ständeordnung aufweist, bleibt jetzt noch die Frage offen, welche Schlüsse man aus diesen Vergleichen ziehen kann. Klar ist: "Heinrich" illustriert die mittelalterliche Ordnung im Gewand von metaphorischen Tierfiguren und ihrem Verhalten miteinander. Mit dieser Erkenntnis können jetzt Umstände, die in der Welt der Tiere auftreten, interpretiert und auf die mittelalterliche Welt übertragen werden.
Es scheint nun also angebracht, die Aussagen, die in Reinhart Fuchs stecken, herauszugreifen, zu interpretieren und auf die mittelalterliche Welt anzuwenden.
Menschliche oder Tierische Ordnung?
Betrachtet man die Ordnung im Reinhart Fuchs, stellt man fest, dass vieles tierisch ist, aber auch menschlich wirkt.
Die Schwierigkeit
Wenn man die Ordnung im Reinhart in einzelne Kriterien zerlegt und versucht diese Kriterien, entweder einer tierischen Ordnung oder einer menschlichen Ordnung (des Mittelalters) zuzuordnen, stößt man auf ein Problem. Denn es gibt wenige Kriterien in der Ordnung im Reinhart Fuchs, welche definitiv zu der einen oder zu der anderen Art von Ordnung gehören.
Eindeutige Kriterien der Ordnung
Tatsächlich gibt es nur zwei Kriterien der Ordnung im Reinhart Fuchs, welche klarerweise menschlich oder tierisch sind. Diese Punkte sind in dem Sinne klarerweise der einen Art von Ordnung zuzuordnen, als es sie in der anderen gar nicht geben könnte.
Das erst Kriterium ist der Fakt, dass alle handelnden Figuren im Reinhart Fuchs Tiere, das heißt von tierischer Gestalt, Aussehen und Bewegung sind. Alle Subjekte auf die sich die Ordnung bezieht sind dementsprechend Tiere. So etwas kann es in einer menschlichen Ordnung nicht geben, weil hier offensichtlich alle Subjekte, auf die sich die Ordnung bezieht, Menschen sind. Tiere sind als Subjekt aus der menschlichen Ordnung kategorisch ausgeschlossen sein. Das erste Kriterium ist also klarerweise der tierischen Ordnung zuzuordnen.
Das zweite Kriterium ist der Fakt, dass die meisten der Figuren in der Ordnung im Reinhart Fuchs einer expliziten Kultur angehören. Die Subjekte haben genügend Kognition Titel und Namen zu vergeben, eine Kultur zu erhalten (Rechtsprechung, Institutionen usw.) und dies mit Worten zu kommunizieren. Es ist ausgeschlossen, dass sich die Tiere in einer natürlichen tierischen Ordnung Titel und Namen geben und sich dementsprechend anreden - auch wenn sie das in anderer Form tatsächlich tun. Diese Bestandteile einer Kultur, insbesondere die Fähigkeit zur Sprache und Vergabe von offensichtlich menschlichen Titeln, wie "Herr", können ausschließlich Teil einer menschlichen Ordnung sein. Dieses Kriterium ist also klarerweise der menschlichen Ordnung zuzuordnen.
Uneindeutige Kriterien der Ordnung
Alle anderen Kriterien der Ordnung im Reinhart Fuchs sind sehr schwer einer Art von Ordnung zuzuordnen, wenn es nicht gar unmöglich ist. Es gibt also ein großen Rest an Aspekten, welcher weder der menschlichen Ordnung noch der tierischen Ordnung zugeteilt werden kann. Umgekehrt könnte man sagen, dass die meisten Kriterien der Ordnung im Reinhart Fuchs von der Art sind, dass sie sowohl menschlich als auch tierisch sein können. Bei diesen Kriterien kann man sich nicht entscheiden, mit welcher Art von Ordnung man es zu tun hat, weil es zu keiner klarerweise passt und gleichzeitig zu beiden. Das ist der Punkt, welchen Heinrich uns aufs Deutlichste unter die Nase reiben möchte. Zur Unterstützung der These ein paar beispielhafte Kriterien der Ordnung:
Zunächst ist das Kriterium der Macht im Reinhart Fuchs ganz klar die Kraft und mit ihr verbunden die Gewaltbereitschaft. Wie deutlich ist der Grad an dieser Art der Macht entscheidend für die Position in der Hierarchie. In einer tierischen Ordnung wird der Stärkere das Rudel führen, über Handlungen entscheiden und über die Schachen richten. Das ist ein grundlegendes Gesetzt der Natur, nämlich das Recht des Stärkeren. Aber auch in der mittelalterlichen Gesellschaft der Menschen ist Kraft und Gewalt ein nicht wegzudenkendes Kriterium der Macht. Gewalt sollte zwar das letzte Mittel der Machtausübung sein, sie ist aber unentbehrlich und dementsprechend grundlegendstes Kriterium der Macht. Zugegeben es gibt in einer menschlichen Gesellschaft durchaus andere Formen der Macht, wie Erpressung oder Beziehungen und weiter ist auch Kraft nur übertragen als eine Art Zugang zu Kraft (nicht der König, sondern sein Heer kämpft) zu verstehen. Aber die Form, die greift, wenn alle anderen Formen der Macht in der menschlichen Ordnung wegfallen (bspw. durch Aufstände oder Krieg), ist die allgemeinste Form der Macht, die Gewalt und (übertragene) Kraft. Wenn bspw. die Bauern ihre Tribute nicht mehr zahlen wollen oder unter kriegerischen Auseinandersetzung die Ressourcen zur Diplomatie fehlen, dann muss die Ordnung mit Händen und Füßen wiederhergestellt werden.
Ein weiterer Punkt ist der grobe Aufbau der Ordnung in Reinhart Fuchs. Wie es im Tierreich eine lineare Hierarchie von den schwachen zu den starken Tieren - nach dem Motto die Einen fressen, die Anderen werden gefressen - gibt, so gibt es auch in der mittelalterlichen Ordnung der Menschen eine lineare Hierarchie. Sie zeichnet vom schwächeren Individuum zum nächst stärkeren Individuum eine Leiter, deren Ende dadurch erkennbar ist, weil über dieser Position keine weitere folgt. Manch einer könnte behaupten, dass diese Form der Macht und dieser Aufbau der Macht auch heute noch unausgesprochen vorhanden ist. Denn für jeden Menschen gibt es auch heute noch einen anderen, der über jenem steht und einen weitern, der über diesem steht.
Ferner ist auch der besondere Aufbau der Ordnung im Reinhart Fuchs schwer zuzuordnen. Sowohl Tiere als auch Menschen fügen sich in Gruppen zusammen, wobei die Mitglieder dieser Gruppen von ähnlicher Art sind und diese relativ zu den anderen Gruppen und ihren Mitgliedern unterschiedlich. Die Tiere gehen mit Tieren gleicher Stärke Zweckbeziehungen ein (so wie der Dachs und der Fuchs ), um voneinander zu profitieren. Sie bleiben in ihren Familien und bei ihrer Art, weil diese von gleicher Stärke ist und ähnliche Probleme bzw. Bedürfnisse haben (bspw. ein Rudel Wölfe aus unterschiedlichen). Und sie schließen sich zu größeren Gemeinschaften aus unterschiedlichen Tieren von ähnlicher Stärke, ähnlicher Größe, ähnlichen Problemen und ähnlichen Bedürfnissen zusammen (bspw. Antilopen, Zebras und Gnus). Genauso pflegen es auch die Menschen - innerhalb einer allgemeinen Ordnung - Zweckbeziehungen zu führen, sich mit Gleichgesinnten und ähnlich Beschaffenen zu verbünden und innerhalb der Familie und des Standes zu bleiben.
Zudem ist die Zugehörigkeit zu den Gruppen sowohl beim Menschen als auch beim Tier scharf geregelt. Wie beim Tier, so wird man bei den Menschen in einen gewissen Stand und in eine gewisse Gruppe eingeboren. Sowohl bei den Menschen (als angeborener Stand mit oder ohne Privilegien) als auch bei den Tieren (als angeborene Größe und Statur) scheint es gar unmöglich über diese angeborenen Grenzen hinweg zu kommen.
Selbst Intrigen, Bündnisbrüche und Treuebrüche, wie sie im Reinhart Fuchs vorkommen, sind bei einer menschlichen Ordnung nicht ausgeschlossen. Sowohl bei den Tieren als auch bei den Menschen schickt sich immer wieder jemand an eine Machtstellung in Frage zu stellen oder ein Übereinkommen aus eigenen Interessen zu brechen.
Folgerung und Kritik
All diese Punkte sollen nur auf die große implizite Frage hindeuten, welche Heinrich dem Rezipienten stellt: Sag mir, spreche ich von einer menschlichen oder einer tierischen Ordnung? Und die Antwort, die er hören will ist: Ich weiß es nicht. Dieses ernüchternde Ergebnisse soll aufmuntern darüber nachzudenken, welche Dinge den Rezipienten dazu bringen zu glauben, man habe es mit keiner von beiden oder mit beiden gleichzeitig zu tun.
Ferner bezieht Heinrich mit den offensichtlichen Parallelen der Ordnung in Reinhart Fuchs zu der Ständegesellschaft des Mittelalters diese schwere Frage auch auf die Ordnung des Mittelalters. Heinrich weist hier darauf hin, dass auch im Kontext der mittelalterlichen Ordnung der Menschen die Frage, ob es sich tatsächlich um eine menschliche Ordnung handelt oder nicht, immer schwerer wird. Jedem sollte daraus klar werden, dass menschliche und tierische Ordnung sich in vielerlei Hinsicht zunehmend ähnlicher werden und die Grenzen gar drohen gänzlich zu verschwinden. Folglich sollte jeder daran arbeiten diese Grenzen zwischen tierischer Ordnung und menschlicher Ordnung wieder trennscharf zu machen. Denn es bleibt die Intuition, dass unsere Ordnung der tierischen weitaus überlegen ist, wodurch die Unterscheidung leicht ausfallen sollte.
Heinrich will also mit dem Erschaffen einer verblüffend menschenähnlichen Gemeinschaft aus Tieren zu bedenken geben, dass die menschliche Ordnung droht in Zustände zu verkommen, in denen man sie gar nicht mehr von der tierischen unterscheiden kann.
Kritik zu den Figuren der mittelalterlichen Ordnung
Die Figuren und ihre Beschaffenheit sind für eine Ordnung von zentraler Bedeutung. Auf sie wirkt die Ordnung ein und von ihnen wird die Ordnung aufrecht gehalten. Bei der Wahl einer adäquaten Metapher für die Figuren der menschlichen Ordnung, kam Heinrich auf Tiere. Schon das ist Indiz für eine kritisches Urteil über die handelnden Figuren in der menschlichen Ordnung, nämlich die Menschen.
Figurencharakteristik und Handlungsmotiv
Allgemein lässt sich sagen, dass die handelnden Figuren in Reinhart Fuchs Tiere sind. Diese Tiere nehmen vorwiegend menschliche Eigenschaften an, nicht zuletzt die Fähigkeit zu Sprechen. Neben ihrer Gestalt und ihrem Aussehen macht sie wenig zu wirklichen Tieren. Doch die meisten Eigenschaften und Charakteristika der Tiere - außer ein paar Ausnahmen bei dem die Tiere beschrieben werden - werden dem Leser erst durch ihr Handeln bewusst (vgl. Ruh 1980, 30)[Ruh 1980]. Folglich ist das, was sie überhaupt zur Handlung treibt, von äußerstem Interesse. Das vorwiegende Motiv, welches die Tiere zum Handeln bewegt, ist von solcher Art, dass es wiedermal sowohl dem Tier als auch dem Menschen zugeordnet werden kann. Es handelt sich um den Drang nach Nahrung, nach Sex, nach Selbsterhaltung und nach Macht. Kurzum: Es handelt sich um den Drang grundlegendste Bedürfnisse zu befriedigen. Beispiele hierfür wären, der Drang des Wolfes nach Futter(vgl. RF, V. 648-750)[Heinrich der Glîchezâre 2005], der (egoistische) Drang des Löwen zur Selbsterhaltung (vgl. RF, V. 1873-1891)[Heinrich der Glîchezâre 2005] und der Drang des Elefanten und des Kamels nach Macht (vgl. RF, V. 2097-2108, 2120-2135)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. Aus dieser Art Drang werden die meisten Handlungen begangen und wiederum aus diesen Handlungen realisieren sich die Charaktereigenschaften der Tiere (vgl. Ruh 1980, 30)[Ruh 1980].
Haben wir es nun in der Ordnung des Reinhart Fuchs mit menschenähnlichen Tieren zu tun oder eher mit Menschen, welche noch einiges vom Tier mit sich tragen? Auch diese Entscheidung macht uns Heinrich schwer. Tatsächlich gibt es Eigenschaften die klarerweise für Tiere sprechen und Eigenschaften die klarerweise für Menschen sprechen. Aber das Motiv zu handeln, woraus die meisten Eigenschaften - außer natürlich die tierische oder menschliche Gestalt selbst - hervorgehen, ist sowohl tierisch als auch menschlich.
Kritik an Eigenschaften und Motiv
Obwohl die Figuren im Reinhart Fuchs offensichtlich von tierischer Gestalt sind, bleibt offen, ob diese zusammengenommen tatsächlich Tiere sind oder doch Menschen. Mit den offensichtlichen Parallelen der Ordnung von Reinhart Fuchs zur Ständegesellschaft des Mittelalters, kann dieser Befund auch auf die Figuren der mittelalterlichen Ordnung übertragen werden. Heinrich sagt hier aus, dass auch die Figuren in der Gesellschaft des Mittelalters, d.h. die Menschen, in ihren Eigenschaften und Motiven zu Handeln so verkommen sind, dass es auch bei ihnen schwer fällt, zu entscheiden, ob es sich bei ihnen um Menschen oder Tiere handelt, obwohl sie ihr Gestalt nach klarerweise Menschen sein sollten. Wenn solch eine Entscheidung schwer fällt, dann scheint einiges fragwürdig. "Wie sollen die Figuren in einer Ordnung aussehen?", "Wie sollen die Figuren in einer Ordnung handeln?" und "Wie sollen die Figuren in einer Ordnung beschaffen sein?", damit klar wird, dass sie Menschen sind. Die Kritik soll eben all diese Fragen im Rezipienten aufrufen.
Nebenfolge des Handlungsmotivs
Doch die Art des Handlungsmotivs hat noch eine verhängnisvolle Nebenfolge, welche wiederum eine unschöne Charaktereigenschaft realisiert. Während das Ziel die Bedürfnisse zu befriedigen emsig verfolgt wird, mangelt es vor und bei der Ausführung der Handlung meist an der richtigen Überlegung, sodass viele der Handlungen der Tiere unbedacht und naiv wirken (bspw. der Wolf, der wegen seines Handlungsmotiv seinen Schwanz verlieren musste oder der Löwe, der der wegen seines Handlungsmotivs sein Leben verlieren musste). Die Tiere im Reinhart Fuchs geraten so häufig in eine Art Tunnelblick, der ihnen die Übersicht über die Handlungsumstände verwährt. Schließlich sind die Tiere dann, wenn das Motiv greift, nur auf die Befriedigung der Bedürfnisse aus und lassen andere Bemühungen um bspw. Vernunft fallen. Diese Nebenfolge des Handelns aus Begierde macht sie schwach und lässt sie nicht zuletzt oft dumm dastehen. Diese Nebenfolge tritt ebenfalls sowohl beim Tier als auch beim Menschen auf. Wie Tiere, so lassen sich auch Menschen viel zu oft von ihrem Trieb zu unüberlegten Handlungen verleiten, sodass sie dann auch oft naiv und unaufmerksam durch das Leben gehen. Heinrich weist darauf hin, dass auch dieser Punkt die Entscheidung, ob es sich bei den Figuren der mittelalterlichen Ordnung wirklich um Menschen handeln, schwerer macht. Weiter realisiert hier das Handlungsmotiv eine der problematischsten Charaktereigenschaften, die dem Meschen wie auch dem Tier eigen ist: das dumme Handeln aus Trieb. Darüber hinaus gibt er aber auch zu bedenken, dass eben diese Unüberlegtheit in manchen Handlungen - wie man noch sehen wird - den Menschen, so stark er auch ist, am verwundbarsten macht. Mit anderen Worten: Wir stellen uns oftmals genauso dumm an wie Tiere.
Kritik an einzelnen Vertretern der Ordnung
Unter diesen groben Kritikpunkten zu den Figuren der mittelalterlichen Ordnung werden dann auch einzelne Vertreter der Ordnung kritisch auseinander genommen. Allem voran der König leidet unter seinen charakterlichen Defiziten. Er ist wie sein Name "Vrevel" sagt zwar überaus stark, aber in vielen Situationen tollkühn und dummdreist (vgl. Bertau 1983, 21)[Bertau 1983]. Er, der gerade den Frieden erklärt hat, führt aus Zorn über Befehlsverweigerung kurz darauf wieder Krieg. Er kämpft als Größter gegen kleine Tiere und fühlt sich nach der göttlichen Aufgabe des Adels "tu protege" auch noch dazu verpflichtet (vgl. Neudeck 2016, 21)[Neudeck 2016]. Aus seinem Toben und seiner unüberlegten Gewalt erntet er die Quittung. Er muss für seine dummdreiste Art leiden und lässt gar am Höhepunkt der Handlung aus Angst vor dem eigenen Tod sein Leid zum Grund für weiters Blutvergießen werden. Aufgrund seines blinden Handeln um das Ziel der Selbsterhaltung zu erreichen, gerät er in den bereits erwähnten Tunnelblick. Dieser bewirkt, dass er keine Übersicht über die Handlungssituation mehr hat und sich nur noch auf sein Ziel konzentriert. All seine Macht nützt ihm nun nichts mehr, denn er handelt, wie beim Ameisenvolk, nach seinem Trieb, ist dadurch unaufmerksam und kann überlistet werden. Der Löwe und damit auch der König allgemein gesprochen, wird als ein tyrannisch-willkürlicher Machthaber skizziert, dessen bestimmte triebhafte Motive ihn zu Handlung führen, die ihn untreu, ungerecht und nicht zuletzt dumm aussehen lassen (vgl. RF, V. 1890-2235)[Heinrich der Glîchezâre 2005] (vgl. Ruh 1980, 23)[Ruh 1980]. Nach diesem überaus deutlichen Urteil Heinrichs über den obersten Machthaber, nimmt er sich den ganzen weiteren höheren Adel vor. Auch diese "Tiere", d.h. auch Administrale des Königs, sind durch ihre Eigenschaften und Handlungsmotive äußerst kritisch gezeichnet. Beispielsweise handelt Brun der Bär nur aus Gier nach Nahrung, sodass der ehemals große Hofkaplan naiv wird und an einem Machtvolleren scheitert kann (vgl. RF, V. 1525-1559)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. So ergeht es auch mehrfach dem Wolf Isengrin (vgl. RF, V. 648-815, 873-955)[Heinrich der Glîchezâre 2005], der aus Gier naiv wird und an dem selbigen Machtvolleren scheitern. Weiter ergeht es so auch dem Elefanten und dem Kamel, die aus Gier nach Macht, unüberlegt in fremde Lande reisen, nur um ebenfalls zu scheitern. Ganz allgemein verfügt der größte Teil der Tiere im Reinhart Fuchs über eben solche Handlungsmotive, sodass der Großteil der Tiere auch als dumm bezeichnet werden kann.
Zusammenfassung
Heinrich zeigt mit seinen verblüffend menschlichen Tieren nicht nur das allgemeine Problem der Figuren der mittelalterlichen Gesellschaft, sondern demonstriert auch an einzelnen Figuren der Ordnung, wie schwerwiegend sich die Defizite auswirken. Er kritisiert folglich nicht nur den Menschen, der durch seine Motive und Eigenschaften gar nicht mehr vom Tier unterschieden werden kann, sondern explizit auch den König, seine direkten Bediensteten und größere Teile adeliger Gesellschaft, mit unter Barone, Weise aus fernen Ländern und etliche "Herren".
Die Gefahr der Sprengung der Ordnung
Zuletzt kommen wir zur größten und durchschlagskräftigsten Kritik Heinrichs an der gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters. Wo es noch bei den anderen Kritiken um die unbefriedigende Form und Beschaffenheit der Ordnung ging, geht es jetzt um etwas das die Ordnung als solche bedroht. Denn die Ordnung und ihr Aufbau ist so mangelhaft, dass sie Lücken aufweist. Diese Lücken können ferner von einer entsprechenden Figur, welche sie erkannt hat, aufgebrochen werden. Die Folge daraus ist nichts geringeres als eine katastrophale Sprengung der Ordnung.
Die Figur Reinhart Fuchs
Hier kommt die Hauptfigur der Erzählungs "Reinhart Fuchs" ins Spiel. Auch Reinhart ist eine Figur der allgemeinen Ordnung in Reinhart Fuchs. Dementsprechend steht auch er nach seiner Gattung, seiner Kraft und Größe in einer spezifischen hierarchischen Position, sodass einige Tiere über ihm stehen und andere unter ihm. Trotzdem umgibt er sich, wie kein andere Figur, mit Tieren, die hierarchisch weit über ihm stehen. Ferner scheint es so als wäre er keiner Gruppe zugehörig, er steht nicht an irgendeiner Position fest, er ist vielmehr in ständiger Bewegung. Ultimativ gelingt es ihm alle Position zu übersteigen, dem obersten gegenüberzustehen und eben diesen verheerend seiner Position zu berauben. Wie kann es sein, dass ein relativ kleiner und schwacher Fuchs viele stärkere Tiere übergeht und selbst dem stärksten Tier "das Wasser reichen kann" (vgl. Neudeck 2016, 22)[Neudeck 2016].
Reinharts Mittel zur Macht
Reinhart erkennt seine körperliche Unterlegenheit gegenüber anderen Tieren. Aber Reinhart gibt nicht wie andere Tiere auf und beugt sich dem allgegenwärtigen Recht des stärkeren, sondern behilft sich eines anderen Mittels. Wie auch Hübner sagt, geht "aus seiner Not der körperlichen Unterlegenheit" ein anderes Mittel zur Selbsterhaltung hervor. So könne Reinhart nur durch intellektuelle Überlegenheit "kundekeit" für seine Selbsterhaltung sorgen (vgl. Hübner 2016, 87)[Hübner 2016]. Immer wenn Reinhart sich einem stärkeren Tier ausgesetzt fühlt, befleißigt er sich im Angesicht der Gefahr eines anderen Mittels der Macht, um der Kraft des Gegenübers die Stirn zu bieten. Er führt also neben der Kraft und Gewalt ein weiteres, von der allgemeinen Ordnung nicht vorgesehenes Kriterium der Macht auf das Spielfeld. Reinharts Mittel scheint zudem größere Wirkung zu haben als das Mittel, welches die allgemeine Ordnung vorsieht. Intelligenz verhilft dem Inhaber mithin zu einem größeren Grad an Macht als es Stärke tun könnte. Dies hat folgenden Grund: Die Intelligenz befähigt den Intelligenten genau das auszunutzen, was den Starken unabhängig von seinem Grad an Stärke machtlos macht. Die starken Tiere lassen sich von ihren Handlungsmotiven in unüberlegte Handlungen treiben. Genau dann, wenn die starken Tiere so unaufmerksam und so unüberlegt in ihrem Handeln sind, kann der Intelligente daraus seinen Vorteil ziehen. In dem Sinne besteht Intelligenz hier zunächst in der "aktionalen Kontrolle über die Deutung der Handlungssituation" (vgl. Hübner 2016, 88)[Hübner 2016]. Reinhart ist sich über Begierden seiner viel stärkeren Gegenüber bewusst, führt sie in unüberlegte Handlungen und macht es sich so leicht die Dummen zu überlisten (vgl. Ruh 1980, 31)[Ruh 1980]. Reinhart hat folglich ein Rezept für seinen Erfolg. Er ist einer von wenigen Intelligenten Tieren und sieht sich in vielen Situationen gezwungen im Angesicht von Gefahr seine Intelligenz zu seinem Vorteil zu nutzen. Dies gelingt ihm deshalb so gut, weil die meisten Tiere die gleichen Handlungsmotive haben, welche für Reinhart gut vorhersehbar sind (vgl. Ruh 1980, 31)[Ruh 1980]. Zudem verfügt Reinhart über weitere Fähigkeiten, wie z.B.: Rethorik, welche es ihm erlauben seinen Gegenüber gemäß seiner Motive zu Handlungen zu überreden, die ihn verwundbar machen. Reinhart weiß es den "Willen der anderen zu kanalisieren" (vgl. Neudeck 2016; 23,24)[Neudeck 2016]. Den absurden Höhepunkt findet dies in der Überlistung der obersten Instanz der alten Hirarchie (vgl. RF, V. 2220-2235)[Heinrich der Glîchezâre 2005]. So kann Reinhart, wie bei allen anderen starken Tieren, auch das stärkste Tier durchschauen, seine Handlungsmotive vorhersehen, diese durch seine Redekunst zu seinem Vorteil ausnutzen und dann, wenn der Dumme am verwundbarsten ist, zuschlagen. Reinhart hat es geschafft, sich mit seiner (erlernten) Intelligenz über die Grenzen seiner Gattung hinwegzusetzen, seine ehemals festen Position der Hierarchie zu verlassen, in andere Positionen zu wandern und letztendlich sich über die Instanz zu stellen, über der niemand anderes stehen dürfte. Er sprengt damit die alte allgemeine Ordnung und erschafft eigens eine neue, in der das Kriterium der Macht Intelligenz ist (vgl. Neudeck 2016; 24)[Neudeck 2016].
Zusammenfassung
Übertragen auf die Gesellschaft des Mittelalters zeigt Heinrich hiermit, dass die vorherrschende Ordnung mit den unüberwindbaren Ständen und der allbekannten Machtverteilung nicht unzerstörbar ist. In der Tat ist sie, sieht man auf die anderen Punkte der Kritik, durch ihren Aufbau und Beschaffenheit - insbesondere die monarchische Spitze- in einer solch miserablen Verfassung, dass sie gestürzt werden kann. Dafür braucht es nicht einmal einen stärkeren König, der es vermag die Ordnung mit Gewalt zu stürzen. Es genügt eine winzige Figur, die es versteht die miserable Verfassung der Ordnung zu ihrem Vorteil auszunutzen, um die Ordnung in ihren Grundfesten zu sprengen.
Damit verbunden richtet Heinrich einen Appell an alle Rezipienten. Sollte man weiter auf Motiven, Charaktereigenschaften und Ordnung verharrt, welche man mehr oder weniger mit den Tieren teilt, ohne dass man etwas gegen diese Mängel unternimmt, so bleibt auch die Gefahr einer Sprengung der Ordnung. Kurz: Wenn man sich weiter so dumm anstellt, findet sich schnell jemand, der schlauer ist. Da man nicht schnell genug über sich selbst gerichtet hat, wird dieser dann über den Adel richten.
Fazit: konstruktive Satire oder doch destruktive Kritik?
Aufgreifen der Hypothese
Die Entscheidung solche Parallelen sichtbar und damit verbunden den kritischen Bezug auf die mittelalterliche Gesellschaft deutlich zu machen, wurde, so lautete die Hypothese, nicht ohne Grund gefällt. Nur welchen Grund hat Heinrich, solch scharfe Aussagen zu treffen? Ferner: Welches Ziel verfolgt er mit dem Einfügen dieser unterschwelligen Aussagen? Sind seine Ziele genauso drastisch wie seine Aussagen? Befindet Heinrich eine Reorganisation für nötig? Oder ist es ihm etwa ein Anliegen, mit der feudalen Subgesellschaft abzurechnen? Weshalb sonst sollte er vor allem so kritisch gegen den adeligen Teil des Spektrums der Ordnung vorgehen. Er kritisiert Hofstaat, Administration, feudale Moral und nicht zuletzt die ultimative Machtinstanz, den Monarchen. Macht ihn das nicht anti-feudal?
Heinrich ist nicht anti-feudal
Von solchen Argumentationen ist aus verschieden Gründen abzusehen(vgl. Ruh 1980, 29)[Ruh 1980] .
Trotz der Anonymität des Namens "Heinrich", kann man davon ausgehen, dass der Autor, wie die meisten Autoren dieser Zeit, selbst dem Stand nach adelig war. Er schrieb über den Stand, von dem er am meisten interne Informationen sammeln konnte. Nur mit der grundlegenden Auseinandersetzung der Struktur des Adels konnte er zu einer solchen expliziten und empfindlich genauen kritischen Haltung insbesondere gegenüber den Figuren des Adels gelangen. Er war aber in diesem Sinne keinesfalls um eine destruktive Kritik bemüht, denn er war faktisch Teil des Standes. Mit Auflösung oder dramatischer Reorganisation der Stände inklusive des Adels wäre auch er als privilegiertes Mitglied des Adels negativ betroffen. Dies hätte kaum seine Absicht sein können (vgl. Ruh 1980, 33)[Ruh 1980].
Darüber hinaus war die Literatur, die er schrieb, in der Form exklusiv, als sie ausschließlich dem Adel vorbehalten war. Das Publikum war dementsprechend Adel, sodass es sich anbot, auch über den Adel zu schreiben. Die Kultur, die im Adel vertreten war, war in größtem Grade unterschiedlich zu der, die in der "wirklichen" Welt vorherrschte. Die Welt, in der die Handlung stattfindet, und die Themen, um die sich die Handlung dreht, sollten, damit das geneigte Publikum thematisch anknüpfen kann und "mitspielt", möglichst nahe an der Realität des Publikums sein. Kein Adeliger hatte vor, bei solch einer Lesung über den Hunger der Bauern, die unfairen Lehensabgaben geschweige denn über die alltäglichen Probleme des einzelnen Bauern nachzudenken, sondern wollte sich allen voran amüsieren. Helden, Bösewichte, schöne Jungfrauen, Kämpfe und politische Intrigen waren da unterhaltsamer. Man musste sozusagen die Themen und Inhalte der Welt in verträgliche Happen schneiden, sodass das adelige Publikum bereit war die Inhalte anzunehmen.
Heinrich schreibt keine destruktive Kritik
So kann man, wenn man es genau nimmt, auch nicht von einer harten Kritik, wie in einem heutigen sozialkritischen Roman, sprechen, sondern von einer kritischen Satire. Die Kritik war nicht als scharfe Ermahnung oder eine strenge Belehrung, sondern eher als satirisches Aufheitern zum Nachdenken gedacht. Heinrich wollte kaum darstellen, wie und warum die Ordnung zum Scheitern verurteilt ist, oder nach Illustration der Untragbarkeit der derzeitigen Situation in der Weise gar zu einer Reorganisation raten. Er war kein Revolutionär. Denn er selbst profitierte aus der Aufrechterhaltung des Adels und der geläufigen Ständeordnung. Wie Ruh pointiert, müsse derjenige, der schon "eine Welt gewonnen" hat, eine selbstkritische Position gewinnen, nicht um Gewonnenes zu zerschlagen, sondern um es zu bewahren (vgl. Bertau 1983, 28)[Bertau 1983] (vgl. Ruh 1980, 33)[Ruh 1980]. Außerdem gab es zu dieser Zeit (12. Jahrhundert) keine weitere Ideologie, welche den Adelsstand hätte gefährden und eine destruktive Kritik hätte begrüßen können (vgl. Ruh 1980, 32)[Ruh 1980].
Heinrich fand während seines Lebens in der adeligen Gesellschaft - vermutlich in der eigenen Erfahrung mit dem Adel - seine Gründe die Strukturen kritisch zu erwähnen. Ob Heinrich nun selbst oder durch einen Auftraggeber zu einem Grund kam die Idealwelt zu "demaskieren" (vgl. Ruh 1980, 16,32)[Ruh 1980] ist weniger wichtig. Wichtiger war die Wirkung, die er sich von seinem Handeln versprach. Ziel war nicht mehr als in angeheiterter Stimmung dem adeligen Publikum unterschwellig einige kritische Themen zu vermitteln und sie so anzustimmen über diese nachzudenken. Er wies auf Gefahren und Bedrohungen hin, um ein längeres Fortbestehen der Ordnung zu sichern.
So etwas war mit Sicherheit nicht seine primäre Aufgabe als Schreiber. Die tatsächliche Aufgabe eines Schreibers war generell Geschichten zu sammeln und diese zum Amüsement der feudalen Gesellschaft aufzubereiten. Heinrich im Besonderen ist zu Gute zu halten, dass er es inhaltlich nicht bei bloßer Unterhaltung beließ, sondern einen Schritt weiterging. Er nutze seinen Einfluss bei der richtenden Gesellschaft, schrieb satirisch-unterhaltsam und verstecke in diesem satirischen Gewand seinen konstruktiven Beitrag zur Erhaltung der Ordnung.
Quellenverzeichnis
- [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler, Gabriela: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung für Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48.
- [*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.
- [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980, S. 13-32.
- [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016, S. 11 - 24.
- [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 86 - 94.