Die Ständegesellschaft der Tiere in "Reinhart Fuchs": Unterschied zwischen den Versionen
Zeile 131: | Zeile 131: | ||
Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam der Gattin nur allzu spät mit seinen in (4) beschriebenen Gefolge hinterher. In seiner darauffolgenden Klage nennt er auch nochmals die glückliche Heirat des Paares (3), während sich Rheinhart davon stohl. Damit endet die Episode des Gerichtstags. | Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam der Gattin nur allzu spät mit seinen in (4) beschriebenen Gefolge hinterher. In seiner darauffolgenden Klage nennt er auch nochmals die glückliche Heirat des Paares (3), während sich Rheinhart davon stohl. Damit endet die Episode des Gerichtstags. | ||
Textbelege (5) und (6) sind Ausschnitte aus einer Zwischenepisode, welche direkt auf die Gerichtagsepisode folgt und den Ursprung der handlungskonstitutiven mysteriösen Krankheit, an der der König leidet, erklären soll. | Textbelege (5) und (6) sind Ausschnitte aus einer Zwischenepisode, welche direkt auf die Gerichtagsepisode folgt und den Ursprung der handlungskonstitutiven mysteriösen Krankheit, an der der König leidet, erklären soll. Der in (5) beschriebenen König hat einen Landesfrieden beschlossen. Doch als er auf ein Ameisenvolk stößt, fordert er die unweigerliche Gefolgschaft der Ameisen. Nach der Weigerung der Ameisen den Befehlen des Königs folge zu leisten (6), überspringt dieser kuzerhand ein Ultimatum und erklärt dem kleinen Volk den Krieg. Der Ameisenherr kommt zu spät zum Geschehen hinzu und erfährt von seinem aufgebrachten Volk, ihre vortefflichen Burgen seinen von dem Tyrann zuerstört worden. Mit der Absicht sich an der Ungerechitgkeit zu rächen kriecht der Armeisenherr in einer ruhigen Minute des Königs in das Ohr des selbigen, um dem Kriegstreiber schreckliche Kopfschmerzen zu bescheren. Dieser, von Kopfschmerzen heimgesucht, deutet dies als ein Urteil Gottes wegen der Versäumnis des Gerrichtags und ruft einen Hoftag ein. Dieser Hoftag bildet die letzte Episode der Erzählung, spitzt sich zum Klimax der Betrügerreien Reinharts und dirket zum Kollabs des Herrschaftshierarchie zu. | ||
Version vom 28. Mai 2020, 18:13 Uhr
Wegweiser
Der Artikel verbindet eine Analyse der Herrschafts-Hierarchie der Tiere in "Reinhart Fuchs" vom "kleinen" bis zum "größten" Tier mit einer Interpretation der einhergehenden Parallelen zur Standesgesellschaft des Mittelalters. Die Interpretation lenkt hierbei den Fokus auf verborgene kritische Aussagen des Autors zu Ideal, Gesellschaft, Macht und Ordnung und schließt mit einem Ausblick auf das Motiv, welches der Autor verfolgte, wenn er solche Aussagen traf.
Einführung mit Hypothese
Lange vor der Zeit von freier Marktwirtschaft und der Idee "selbstgemachter Chancen" war die soziale Ordnung des Alltags noch äußerst streng gegliedert. Von Gott gegeben - so könnte man sagen - fügten sich die Menschen in einen ihnen angeborenen Stand ein, der spezifische Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftliche Funktionen vorsah. So betete man unterwürfig, verteidigte das Vaterland oder - wie die meisten es taten - arbeitete mit dem Ziel seinen Teil zum gemeinsamen Leben beizutragen. Im Verlauf in die frühe Neuzeit erwiesen sich die einst so unüberwindbaren Grenzen des theoretischen Konstrukts - ganz zum Leidwesen der Konstrukteure - als überwindbar. Diese "sozialen Mobilität" ist nur eine der Faktoren in der die idealisierte Ordnung der Oberschicht von der Wahrheit abwich. Tatsache war: Die alltägliche Realität unterschied sich in vielerlei Hinsicht (christliche Tugend, Stände, Machtausübung) von der theoretisch idealisierten Ordnung. Die Konstrukteure regierten mit Mahnungen zur (selbstverständlichen) Normativität und Propaganda der ritterlichen bzw. geistlichen Tugenden. Viel interessanter sind aber diejenigen Autoren, denen das "idealisierte" an der Ordnung bewusst war, die Gefahr in der Differenz zur realen Situation erfassten und mit kluger Manier die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Zeit in Veröffentlichungen manifestierten. Vielleicht sogar, um das überwiegend feudale Publikum über die Realität im Gewand der Satire aufzuklären.
Einer war "Heinrich von Glichezare" der Autor des Tierepos "Reinhart Fuchs", welcher der (Versuchs-)Gegenstand dieses Artikels sein soll. Im Hintergrund der oben aufgeführten Annahmen lässt sich folgende Hypothese aufstellen:
Der "Spielmann" lässt nicht ohne Grund Parallelen zur Ständegesellschaft des Mittelalters erahnen. Er will das vorwiegend adelige Publikum "erheitern" sich mit der gesellschaftlichen Situation auseinanderzusetzen! Genauer: Er will auf Mängel und mögliche Gefahren der realen Ordnung hinweisen.
Analyse
Die Analyse soll methodisch die Gesellschaft der Tiere von den groben hin zu den besonderen Strukturen durchleuchten. Um die grundlegendsten Strukturen der Ordnung zu analysieren, ist es naheliegend nach notwendigen Bedingungen - d.h. Existenzbedingungen - für grundlegende hierarchische Strukturen zu suchen. Eine simple hierarchische Ordnung verlangt mindestens zwei notwendige Grundsatzannahmen. Die Figuren in der Ordnung müssen sich (1) im allgemeinen wie im besonderen voneinander unterscheiden und (2) ein Kriterium dieser Unterscheidung (das Spezifikum) muss den Grund dafür darstellen, dass die Figur eine bestimmte hierarchische Position einnimmt.
Sicherung der Grundsatzannahmen: Übersetzung exemplarischer Textbelege
Zunächst sei also durch einige Textstellen belegt, dass die Tiere im "Reinhart Fuchs" (1) keineswegs/nicht von der gleichen Art oder vom gleichen Stand sind und (2) einige von ihnen eine spezifische Eigenschaft besitzen, welche ihnen eine hohe Position in der Hierarchie zusichert.
(1) Die Tiere unterscheiden sich grundlegend voneinander.
Es gibt solche, die groß sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung daz was der helfant vnde der wisen, Das waren der Elefant und der Wisent, di dovchten Reinharten risen, welche Reinhart wie Riesen vorkamen, die hinde vnde der hirz Randolt, die Hinde und der Hirsch Randolt, die waren Ysengrine holt, welche Isengrin zugetan waren, Brvn der bere vnde daz wilde swin Brun der Bär und das Wildschwein wolden mit Ysengrine sin. wollten Isengrin zur Seite stehen. zv nennen alle mich niht bestat, Ich befleißige mich nicht alle zu nennen, swelich tier grozen lip hat, aber jedes große Tier, daz was mit Ysengrine da; war mit Isengrin da;
Es gibt solche, die klein sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung der hase vnde daz kvneclin Der Hase und das Kaninchen vnd ander manic tierlin, und verschiedene andere kleine Tiere, des ich niht nennen wil, die ich nicht alle nennen will, der qvam dar vzer moze vil. kamen in unzählbaren Massen herbei.
Es gibt solche, die schön sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung da was manic tier lvssam Es waren viele stattliche Tiere vnser beider kunne. unserer Verwandschaft da.
Es gibt solche, die furchterregend und stark sind.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung mit Isengrine qvamen die svne sin, Mit Isengrin kamen dann sogleich seine Söhne manic tier vreisam und viele gefährliche Tiere; mit Ysengrine qvamen dar san;
Es gibt solche die Klug oder Weise sind.
(2) Es gibt ein Spezifikum, welches einerseits ein weiteres Unterscheidungskriterium bildet und andererseits die Position in der Hierarchie rechtfertigt.
In Anwesenheit des Spezifikums besteigt man eine hohe Position.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung ein lewe, der was Vervil genant, ein Löwe, namens Frevel, gewaltic vber daz lant. mit Verfügungsgewalt über das ganze Land, (...) si leisten alle sin gebot, sie leisten alle seinem Befehl gehorsam, er was ir herre ane got. er war nach Gott/mit Gottes Segen/bei Gott ihr Herrscher.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung des enwolden si niht volgen, dem wollten sie nicht Folge leisten, des wart sin mvt erbolgen. dadurch wurde sein Gemüt erzürnt, vor zorne er vf die burc spranc, er sprang vor Zorn auf die Festung, mit kranken tieren er do ranc, da kämpfte er mit schwachen Tieren, in dvchte, daz iz im tete not. denn er dachte, dass er dazu verpflichtet sei/dass es notwendig ist.
In Abwesenheit des Spezifikums bleibt man auf einer niedrigeren Position.
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung Der hase gesach des kvniges zorn, Der Hase sah den Zorn des Königs, do want er zage sin verlorn. da ahnte er, der Feigling, sein Verderben. daz ist noch der hasen sit. Das ist noch immer des Hasens Art.
Angeführt sind unterschiedliche Ausschnitte aus den Episoden, aus denen sich die gesamte Handlung der Erzählung ergibt. Textbelege (1) und (2) sind Ausschnitte aus dem Anfang Gerichttags-Episode. Nach einer ganzen schmachvollen Episode, in der Ysengrin auf verschiedenste Weisen von Reinhart gedemütigt und entmannt wurde, ist selbiger in frischer Verbundenheit mit seinen Jungen und seiner Frau zu Fehde entschlossen. Einem Verwandentem des Fuchses dem Luchs ist es zu verdanken, dass doch ein rechtlicher Weg einzuschlagen wurde. Er bewirkt einen Grichtstag, an dem Reinhart sich verantworten soll. Den Anfang dieses Gerichtages macht eine Aufzählung der Teilnehmer, welche zum Teil in (1) und (2) wiederzufinden ist. Unglücklicherweise ist jene Tagung nich von langer Dauer führt zu einer plötzlichen Flucht des Angeklagten mit anschließender Verfolgungsjagd bis in einen Dachsbau. Damit nicht genug lässt sich der Verfolgte nochmals zu einer Untat an der Frau des Klägers herab. Textbelege (3) und (4) schließen direkt daran an. Denn der bestürzte Ysengrin kam der Gattin nur allzu spät mit seinen in (4) beschriebenen Gefolge hinterher. In seiner darauffolgenden Klage nennt er auch nochmals die glückliche Heirat des Paares (3), während sich Rheinhart davon stohl. Damit endet die Episode des Gerichtstags.
Textbelege (5) und (6) sind Ausschnitte aus einer Zwischenepisode, welche direkt auf die Gerichtagsepisode folgt und den Ursprung der handlungskonstitutiven mysteriösen Krankheit, an der der König leidet, erklären soll. Der in (5) beschriebenen König hat einen Landesfrieden beschlossen. Doch als er auf ein Ameisenvolk stößt, fordert er die unweigerliche Gefolgschaft der Ameisen. Nach der Weigerung der Ameisen den Befehlen des Königs folge zu leisten (6), überspringt dieser kuzerhand ein Ultimatum und erklärt dem kleinen Volk den Krieg. Der Ameisenherr kommt zu spät zum Geschehen hinzu und erfährt von seinem aufgebrachten Volk, ihre vortefflichen Burgen seinen von dem Tyrann zuerstört worden. Mit der Absicht sich an der Ungerechitgkeit zu rächen kriecht der Armeisenherr in einer ruhigen Minute des Königs in das Ohr des selbigen, um dem Kriegstreiber schreckliche Kopfschmerzen zu bescheren. Dieser, von Kopfschmerzen heimgesucht, deutet dies als ein Urteil Gottes wegen der Versäumnis des Gerrichtags und ruft einen Hoftag ein. Dieser Hoftag bildet die letzte Episode der Erzählung, spitzt sich zum Klimax der Betrügerreien Reinharts und dirket zum Kollabs des Herrschaftshierarchie zu.
Beobachtung: Die Tiere in "Reinhart Fuchs" unterscheiden sich offensichtlich durch ihre Spezies und deren biologisch-evolutionäre Eigenschaften. Die Tiere unterscheiden sich nicht nur und leben in einer pluralistischen Gemeinschaft, sondern sind an eine hierarchische Ordnung gebunden. Diese Ordnung nimmt die dargelegten Differenzen zwischen den Tieren auf und kategorisiert sie in Gattungen oder Gemeinschaften, welche auf unterschiedlicher Höhe in der hierarchischen Leiter zu verorten sind.
Eine einfache hierarchische Ordnung ist erkennbar: Die großen und starken ganz oben, die schwächeren darunter. Was ist nun das Spezifikum, durch das ein Tier hierarchisch höher oder tiefer gestellt ist?
Eine weiterführende Diskussion ergründet dann, wo die kritische Aussage des Autors die größte Deutlichkeit erhält, denn die idealisierte Ordnung kann, einmal demaskiertet, auch zum Kollabs geführt werden.