Die halbe Birne: Unterschied zwischen den Versionen

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
<!--
 
==Handlungsübersicht==
==Handlungsübersicht==
Ein König hat eine schöne Tochter namens Adelheid. Auf ihren Wunsch hin lässt der König ein Turnier um die Hand seiner Tochter veranstalten, bei welchem der Ritter Arnold durch seine Tatkraft deutlich heraussticht. Zur Belohnung wird der Ritter zum Abendessen eingeladen, am Tisch neben der Prinzessin Platz zu nehmen. Hierbei unterläuft dem Ritter jedoch ein Etikettenfehler, denn als Adelheid und Arnold zum Nachtisch eine Birne gereicht wird, zerteilt der Ritter diese in zwei Hälften und wirft sich die eine ungeschält in den Mund, ohne vorher der Prinzessin ein Stück anzubieten.  
Ein König hat eine schöne Tochter namens Adelheid. Auf ihren Wunsch hin lässt der König ein Turnier um die Hand seiner Tochter veranstalten, bei welchem der Ritter Arnold durch seine Tatkraft deutlich heraussticht. Zur Belohnung wird der Ritter zum Abendessen eingeladen, am Tisch neben der Prinzessin Platz zu nehmen. Hierbei unterläuft dem Ritter jedoch ein Etikettenfehler, denn als Adelheid und Arnold zum Nachtisch eine Birne gereicht wird, zerteilt der Ritter diese in zwei Hälften und wirft sich die eine ungeschält in den Mund, ohne vorher der Prinzessin ein Stück anzubieten.  
Zeile 15: Zeile 15:


==Das Motiv der halben Birne==
==Das Motiv der halben Birne==
Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist die Birne ein bedeutsames und symbolträchtiges Motiv des Märe. Nachdem Arnold es schafft, sich im Turnier zu beweisen, wird er an der Tafel neben der Prinzessin platziert, wo sein Siegeszug letztlich an mangelnden Tischsitten scheitert. Die Ausgangslage für seinen Fehltritt ist folgende: Ihm wird eine Birne zum Essen gereicht, die er für sich und die Prinzessin zunächst halbiert. Allerdings begeht er den Fehler, seine Hälfte auf bäuerliche Art zu verschlingen, ehe er die andere Hälfte zerteilt und übergibt. Arnolds unhöfisches Verhalten wird durch den ungezügelten Umgang mit der Birne entlarvt, die einerseits Weiblichkeit und weibliche Sexualität und andererseits Mäßigung und Selbstbeherrschung versinnbildlicht. <ref> Tschachtli, Sarina: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzueberschreitung in der Halben Birne A, in: Silvan Wagner (Hg.): Mären als Grenzphaenomen, Berlin 2018, S. 162. </ref> Ein besonderer Kontrast entsteht, indem die Schamesröte der Prinzessin mit der Kirsche verglichen wird, die im Gegensatz zur Birne mit einem Mal verzehrt werden kann und aus diesem Grund mit Triebhaftigkeit konnotiert wird. Hinzu kommt, dass der Verzehr von Äpfeln und Birnen bereits im Schwank als Umschreibung des Geschlechtsverkehrs galt. Daher beschränke sich der Hintergrund für die Reaktion der Königstochter laut Tschachtli nicht auf reine Schadenfreude, vielmehr enthalte ihr Verhalten einen ethischen Anspruch, da die Birne zum Symbol seiner mangelhaften Fähigkeiten als Liebhaber und Ehemann wird.
Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist die Birne ein bedeutsames und symbolträchtiges Motiv des Märe. Nachdem Arnold es schafft, sich im Turnier zu beweisen, wird er an der Tafel neben der Prinzessin platziert, wo sein Siegeszug letztlich an mangelnden Tischsitten scheitert. Die Ausgangslage für seinen Fehltritt ist folgende: Ihm wird eine Birne zum Essen gereicht, die er für sich und die Prinzessin zunächst halbiert. Allerdings begeht er den Fehler, seine Hälfte auf bäuerliche Art zu verschlingen, ehe er die andere Hälfte zerteilt und übergibt. Arnolds unhöfisches Verhalten wird durch den ungezügelten Umgang mit der Birne entlarvt, die einerseits Weiblichkeit und weibliche Sexualität und andererseits Mäßigung und Selbstbeherrschung versinnbildlicht. <ref> Tschachtli, Sarina: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzueberschreitung in der Halben Birne A, in: Silvan Wagner (Hg.): Mären als Grenzphaenomen, Berlin 2018, S. 162. </ref> Ein besonderer Kontrast entsteht, indem die Schamesröte der Prinzessin mit der Kirsche verglichen wird, die im Gegensatz zur Birne mit einem Mal verzehrt werden kann und aus diesem Grund mit Triebhaftigkeit konnotiert wird. <ref> Ebd., S. 159. </ref> Hinzu kommt, dass der Verzehr von Äpfeln und Birnen bereits im Schwank als Umschreibung des Geschlechtsverkehrs galt. <ref> Ebd., S. 163. </ref> Daher beschränke sich der Hintergrund für die Reaktion der Königstochter laut Tschachtli nicht auf reine Schadenfreude, vielmehr enthalte ihr Verhalten einen ethischen Anspruch, da die Birne zum Symbol seiner mangelhaften Fähigkeiten als Liebhaber und Ehemann wird. <ref> Ebd. </ref>


Außerdem bestehen gewisse Parallelen zwischen dem Märe und dem weitverbreiteten Motiv der Apfelprobe, bei der „das Schälen der Frucht […] besondere höfische Sensibilität ausweist.“ In Konrads „Engelhard“ begeht der gleichnamige Held ebenso einen Fehltritt: Ihn durchfährt ein plötzlicher Liebesschmerz, durch den er das Messer fallen lässt. Die positive Reaktion seiner Tischpartnerin verdeutlicht, dass beim gemeinsamen Essen nicht primär die höfischen Tischsitten, sondern der gemeinsame Umgang und „das Sozialverhalten“ unter Beweis zu stellen sind.
Außerdem bestehen gewisse Parallelen zwischen dem Märe und dem weitverbreiteten Motiv der Apfelprobe, bei der „das Schälen der Frucht […] besondere höfische Sensibilität ausweist.“ <ref> Ebd., S. 165. </ref> In Konrads „Engelhard“ begeht der gleichnamige Held ebenso einen Fehltritt: Ihn durchfährt ein plötzlicher Liebesschmerz, durch den er das Messer fallen lässt. Die positive Reaktion seiner Tischpartnerin verdeutlicht, dass beim gemeinsamen Essen nicht primär die höfischen Tischsitten, sondern der gemeinsame Umgang und „das Sozialverhalten“ unter Beweis zu stellen sind. <ref> Ebd., S. 166. </ref>


<references/>
<references/>
Zeile 102: Zeile 102:


===Sekundärliteratur===
===Sekundärliteratur===
-->

Version vom 27. August 2020, 14:19 Uhr

Handlungsübersicht

Ein König hat eine schöne Tochter namens Adelheid. Auf ihren Wunsch hin lässt der König ein Turnier um die Hand seiner Tochter veranstalten, bei welchem der Ritter Arnold durch seine Tatkraft deutlich heraussticht. Zur Belohnung wird der Ritter zum Abendessen eingeladen, am Tisch neben der Prinzessin Platz zu nehmen. Hierbei unterläuft dem Ritter jedoch ein Etikettenfehler, denn als Adelheid und Arnold zum Nachtisch eine Birne gereicht wird, zerteilt der Ritter diese in zwei Hälften und wirft sich die eine ungeschält in den Mund, ohne vorher der Prinzessin ein Stück anzubieten.

Daraufhin wird der Ritter am nächsten Tag des Turniers von der Prinzessin vor dem gesamten Hof verspottet, in dem sie ihm vorwirft, dass es ihm an höfischer Zucht fehle. Der Ritter verlässt den Hof, möchte aber mit seiner geplanten Rückkehr den höfischen Schein entlarven. So gibt er sich auf den Rat seines Knechts Heinrich als taubstummen Narren aus. In dieser Rolle begibt er sich erneut an den Hof, wo er vor Adelheids Kemenate lauert. Dort wird er von einem Mädchen entdeckt, und auf Geheiß der Prinzessin führt sie ihn zu Adelheid, die ihn zur Unterhaltung eintreten ließ. Die Frauen tollen vergnügt mit ihm herum, und als der Narr sich ans Feuer setzt, wird der Blick auf den Glied frei, das sich sogleich aufrichtet.

Prinzessin Adelheid schickt alle Hofdamen bis auf Adelheid fort, und verlangt, dass ihr Trieb sofort befriedigt werde. Irmgard rät Adelheid dazu, sich mit dem Narren im Bett zu vergnügen, da aufgrund seiner Stummheit das Vorhaben nicht öffentlich gemacht werden könne. Doch Arnold, der die Erregung der Königstochter bemerkt, bleibt tatenlos liegen. Da dieser nicht regt, ergreift Irmgard einen Stab und sticht Arnold, der auf der Prinzessin liegt, in sein Hinterteil, sodass er die gewünschten Bewegungen ausführt und Adelheid penetriert. Die Prinzessin ruft dabei Irmgards Namen und treibt sie mit ihren Worten dazu an, Arnold weiterhin zu stupfen.

Am nächsten Tag des Turniers verspottet Adelheid erneut den Ritter aufgrund seines Etikettenfehlers; dieser wiederum wiederholt die Worte, die die Prinzessin in der Nacht zu ihrer Hofdame Irmgard sagte, wodurch diese erkennt, dass es sich bei dem Narren eigentlich um den Ritter Arnold handelte. Um die Ehre beider zu retten und zu bewahren, dass die Schande öffentlich wird, heiratet die Prinzessin schließlich den Ritter.

In einem letzten Abschnitt wendet sich der Erzähler an die Zuhörerschaft und legt dieser das Verhalten der beiden Figuren aus. Der Erzähler rät und schlussfolgert aus der Geschichte, der Mann solle sich an die Regeln halten und nicht gegen die Etikette verstoßen. Die Frauen mahnt er, ihre sexuellen Triebe zu zügeln.


Das Motiv der halben Birne

Wie der Titel bereits vermuten lässt, ist die Birne ein bedeutsames und symbolträchtiges Motiv des Märe. Nachdem Arnold es schafft, sich im Turnier zu beweisen, wird er an der Tafel neben der Prinzessin platziert, wo sein Siegeszug letztlich an mangelnden Tischsitten scheitert. Die Ausgangslage für seinen Fehltritt ist folgende: Ihm wird eine Birne zum Essen gereicht, die er für sich und die Prinzessin zunächst halbiert. Allerdings begeht er den Fehler, seine Hälfte auf bäuerliche Art zu verschlingen, ehe er die andere Hälfte zerteilt und übergibt. Arnolds unhöfisches Verhalten wird durch den ungezügelten Umgang mit der Birne entlarvt, die einerseits Weiblichkeit und weibliche Sexualität und andererseits Mäßigung und Selbstbeherrschung versinnbildlicht. [1] Ein besonderer Kontrast entsteht, indem die Schamesröte der Prinzessin mit der Kirsche verglichen wird, die im Gegensatz zur Birne mit einem Mal verzehrt werden kann und aus diesem Grund mit Triebhaftigkeit konnotiert wird. [2] Hinzu kommt, dass der Verzehr von Äpfeln und Birnen bereits im Schwank als Umschreibung des Geschlechtsverkehrs galt. [3] Daher beschränke sich der Hintergrund für die Reaktion der Königstochter laut Tschachtli nicht auf reine Schadenfreude, vielmehr enthalte ihr Verhalten einen ethischen Anspruch, da die Birne zum Symbol seiner mangelhaften Fähigkeiten als Liebhaber und Ehemann wird. [4]

Außerdem bestehen gewisse Parallelen zwischen dem Märe und dem weitverbreiteten Motiv der Apfelprobe, bei der „das Schälen der Frucht […] besondere höfische Sensibilität ausweist.“ [5] In Konrads „Engelhard“ begeht der gleichnamige Held ebenso einen Fehltritt: Ihn durchfährt ein plötzlicher Liebesschmerz, durch den er das Messer fallen lässt. Die positive Reaktion seiner Tischpartnerin verdeutlicht, dass beim gemeinsamen Essen nicht primär die höfischen Tischsitten, sondern der gemeinsame Umgang und „das Sozialverhalten“ unter Beweis zu stellen sind. [6]

  1. Tschachtli, Sarina: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzueberschreitung in der Halben Birne A, in: Silvan Wagner (Hg.): Mären als Grenzphaenomen, Berlin 2018, S. 162.
  2. Ebd., S. 159.
  3. Ebd., S. 163.
  4. Ebd.
  5. Ebd., S. 165.
  6. Ebd., S. 166.

Forschungstexte

Christian Kiening: Ästhetik der Struktur. Experimentalanordnungen mittelalterlicher Kurzerzählungen

Christian Kiening untersucht in seinem Aufsatz „Ästhetik der Struktur“ die Konstruktion des Märe und versucht dabei, die Strukturierung von Orten, Figuren und der Sprache in der Geschichte herauszuarbeiten. Anhand dieser überinhaltlichen Struktur des Texts will Kiening zeigen, wie auch die Strukturierung weitere Sinndimensionen in den Text bringen kann und die Ideen der Geschichte unterstreicht.


Struktur der Handlung und Handlungsräume

Bei der Einteilung des Ablaufes orientiert sich Kiening an den Handlungsräumen als Einheiten:

  1. Teil: Hof
  2. Teil: Außerhalb
  3. Teil: Hof
  4. Teil: Außerhalb
  5. Teil: Hof

Ebenso betont Kiening in seiner Strukturuntersuchung die Doppelungen:

  • Zweimaliger Abzug vom Hof
  • Zweimalige Verwandlung (von Ritter zu Narr und zurück)
  • Zweimalige Beratung mit dem Knecht

Auch seien die verschiedenen Rollen in den Hof-Einheiten (1/3/5) aufeinander aufgebaut: So sehen wir im ersten Teil (1) den Ritter Arnold, im Nächsten (3) den Narren und schließlich die Zusammenfügung der beiden Rollen im letzten Teil (5). Diese Doppelungen und Wiederholungen unterstreichen laut Kiening die „Kippfigur“: Vom Ideal des höfischen Raumes kippten die Situation wie auch die Figuren um in das Nicht-Ideale, was sich an Arnolts schlechten Tischmanieren und am sexuellen Begehren der Prinzessin zeigt. Vor allem der höfische Raum sei als Schauplatz von Erzählungen aufgeladen mit Idealen und zu erwartenden Traditionen, die auch hier zunächst bedient würden. Räume wie die Kemenate und Veranstaltungen wie Turniere oder Festmahle, sowie der Wonnemonat Mai sind bekannt, ebenso wie die Idealisierung des Personals Ritter und Königstochter. Der Text entspreche darin zunächst allen Erwartungen, diese würden dann aber verkehrt und entstellt. So bricht Arnolt beim Festmahl, zu dem er explizit geladen wurde, die höfische und damit auch ritterliche Etikette und die Kemenate der minneclîchen maget verkehrt sich zu einem Ort des sexuellen Spiels. Der Text führe den Rezipienten an den Rand eines höfischen Raumes, der selbst zu Kippfigur geworden ist, soziale Normen und Regeln kollabierten im Text und es würden Abgründe aufbrechen.


Struktur der Sprache

Kiening befasst sich zudem ebenfalls mit der Bedeutung der Sprache in der Geschichte:

  • Ritter Arnold wird von der Prinzessin mit Schmährufen während des Turniers beleidigt (Teil 1)
  • Als Narr bleibt Arnolt bei Hofe stumm und erzeugt so bei den Damen die falsche Gewissheit, von dem Narr gehe nicht die Gefahr aus, bloßgestellt zu werden (Teil 3)
  • Wieder als Ritter: Arnolt nutzt die Sprache gegen die Prinzessin; nach erneuter Schmähung überführt er sie mit seinem Gegenruf „stupfa, [...]“ der Schande (nur im Privaten); (Teil 5)

Nicht nur der Dialog in der Geschichte, auch die für die Beschreibung genutzte Sprache sei dabei in diesen Szenen auffällig, wie zum Beispiel die Nutzung von Minne- und Turniervokabeln bei der Beschreibung der Erektion des Narren. Das verkehre erneut dashöfische Ideal. Auch die Sprache besitze also in der Geschichte eine klare Struktur und sei von wichtiger Bedeutung.


Struktur der Figuren

Der Autor betont zudem die besondere Rolle der nichtadeligen Figuren in der Geschichte: Diese, also Knappe Heinrich als Ratgeber des Ritters und Kammerzofe Irmgard als Dienerin der Prinzessin, seien die eigentlichen Lenker der aventiuren. Das Geschehen bei Hofe wirke so von außerhalb ferngesteuert.


Sarina Tschachtli: Sexuelle Ethik und narrative Kontrolle. Zur Grenzüberschreitung in der Halben Birne A

Tschachtli verlagert in ihrem Aufsatz den Schwerpunkt der Untersuchung von der „unheimlichen Begehrlichkeit der Frau“ auf das „ungezügelte Begehren im Allgemeinen“1, um aufzuzeigen, dass die Entdeckung der weiblichen Begierde die zuvor entdeckte männliche Begierde tarnt und untersucht somit die Ähnlichkeit des strategischen Machtkampfs der beiden Protagonisten.

Im ersten Punkt „erbeiten niht enmohter: Sexuelle Ethik“ distanziert sich Tschachtli von der gängigen Forschungsmeinung, das Märe übe Kritik an einem übertriebenen Verständnis von höfischen Verhaltensregeln (161) und führt als Gegenargumente „die intradiegetische Wertung des Verhaltens des Ritters und […] die sexuelle Konnotation des Essens“(162) auf, die in der Forschung vernachlässigt wurden. Da der gesamte Hof und die Öffentlichkeit das Fehlverhalten des Ritters bezeugen, liege es nahe, die Einschätzung der Königstochter in der Interpretation ernst zu nehmen. (162) Ähnlich verhält es sich mit der sexuellen Aufladung des Birnenmotivs, das als komisches Element zwar wahrgenommen, aber nicht hinreichend ernstgenommen werde. (163) Tschachtli deutet das Verhalten Arnolds als weitere Bewährungsprobe, die Rückschlüsse auf seine Fähigkeiten als Liebhaber und Ehegatten zulassen. (164) Daraus folgert sie, dass das Vorgehen der Königstochter einen ethischen Anspruch habe und sich nicht auf die Einhaltung konventioneller Regeln beschränke. (163) Schließlich wird auf die Parallelen zur Apfelprobe verwiesen, bei der das Schälen des Apfels „besondere höfische Sensibilität“ ausdrücke. (165) Laut Feistner verdeutlicht der Vergleich die Bedeutung der Symbolkraft im Kontext des Märe. Diese These bezieht auch Tschachtli in ihre Untersuchung mit ein und stützt damit die Annahme, dass Arnolds Fauxpas die missglückte Interaktion zwischen den Protagonisten versinnbildliche und den Ritter als potenziellen Ehemann disqualifiziere. (165-166)

Der zweite Punkt trägt den Titel „stupfa, frouwe Irmengart: Inversion der Rollen. Davon ausgehend, dass die Reaktion der Königstochter Ausdruck ihrer sexuellen Ethik und selbstbestimmten Einflussnahme ist, wird Arnolds strategisches Vorgehen neu interpretiert und auf die „Struktur der Umkehrung“ hingewiesen. Das höfische Verhalten werde nun nicht mehr der Königstochter, sondern dem Ritter zugeschrieben, der sich durch seine Zurückhaltung im Liebesspiel beweise. 168 Aus diesem Grund solle die Essensszene in der Interpretation allerdings ebenso ernst genommen werden, woraus laut Tschachtli zu schließen ist, dass sich beide Parteien mangelnder Zurückhaltung schuldig machen. (168-9)

Im dritten Punkt „list und leckerheit: Ehe als fiktionaler Pakt“ wird letztlich die Wiederherstellung der ehelichen Ordnung untersucht. Hierbei sei der „kontrollierte Umgang mit dem Erzählen“ (170) von besonderer Bedeutung, da der Ritter auf diesem Wege erstens seine mangelnde Zurückhaltung ausgleiche und sich zweitens die Macht über das künftige Geschehen sichere. Somit werde ein Zustand der Ordnung und Kontrolle hergestellt, ohne dass sich die Protagonisten im höfischen Sinne bessern. (171)


Patrizia Barton: "Stüpfa, maget Irmengart!" - Die Entdeckung des anderen Begehrens in der Halben Birne A

Ein wichtiger Bestandteil in Patrizia Bartons Forschungstext ist die Pervertierung des höfischen Romans, die sie im ersten Teil umfassend erläutert. Der Handlungsraum der Erzählung Die halbe Birne ist schnell festgelegt: der Hof. Zunächst treten die Königstochter Adelheid und später der Ritter Arnold auf, welcher sich bei dem Turnier um die Hand der Prinzessin als tatkräftig erweist. Dem Ritter unterläuft noch am selben Abend ein Etikettenfehler: er zerteilt eine Birne nach „gebiureschlîcher art“ (V. 89: auf bäuerliche Art) in zwei Hälften und wirft sich eine davon ungeschält in den Mund, ohne der Prinzessin vorher ein Stück anzubieten. Arnold Fressgier und der unterlassene Dienst an der Minnedame werden ihm zum Verhängnis und stellen einen Erwartungsbruch dar.

Am nächsten Tag verspottet Adelheid den Ritter Arnold wodurch der Fauxpas, den zunächst nur Adelheid beobachtet hatte, vor dem gesamten Hof öffentlich gemacht wird. Folglich stellt der Fehltritt des Helden nicht nur ein Vergehen auf Handlungsebene dar, sondern leitet den Übergang vom höfischen Roman zur Schwankhandlung ein. Arnold verlässt die räumliche Sphäre des Hofes, wodurch sich sein sozialer Austritt manifestiert.

Die spätere Reintegration gelingt durch die Negierung der höfischen Werte am Hof selbst. Mit seiner Rückkehr möchte Arnold die Zivilisation der höfischen Gesellschaft als bloßen Schein entlarven, in dem er das Unhöfische als einen Teil des Höfischen enthüllt; hier handelt es sich um eine sogenannte ‚Anti-Bewährung‘, wie Barton es nennt. Der Ritter schlüpft auf Anraten seines Knechts in die Rolle eines taubstummen Narren, wobei dieser Wendepunkt nicht nur eine Zäsur markiert, sondern er besiegelt auch den Gattungswechsel vom höfischen Roman zum Schwank. Der Narr als Symbol des Unhöfischen personifiziert damit das, was Adelheid ihm vorgeworfen hat zu sein. Somit dringt der Held als Grenzgänger, als das Exkludierte, in die höfische Sphäre ein und der Narr dient als Figur des ‚Re-Entry‘.

Ein zweiter wichtiger Teil ist für Barton die Potenzierung des Schwanks. Am Hof selbst wird schnell die Faszination am Narren deutlich, aber: Wer mit dem Narren Spaß haben wolle, der müsse auch das Narrenspiel über sich ergehen lassen, also selbst zum Narren werden. Mit seinem Ankommen leitet der Narr die Demaskierung des Hofes ein, der seine zuht vergisst und Gefallen am Narrenspiel findet.

In der darauffolgenden Kemenatenszene versucht Arnold, das Unhöfische aus der höfischen Prinzessin hervorzulocken. Deshalb lauert er auf dem Boden vor ihrer Kemenate, wird aber von einer frouwen Adelheids entdeckt und auf Verlangen der Prinzessin zu ihrer Unterhaltung eingelassen. Als der spärlich bekleidete Narr sich ans Feuer setzt, wird der Blick auf „sîn vil lsnc geschirre“ (V. 262: „sein sehr langes Glied“) frei. Die Frauen tollen vergnügt mit ihm herum, bis die „starke natûre“ (V. 274: „mächtige Natur“) ihr Recht fordert und Arnolds „ebenalter“ (V. 277: „Gleichaltriger“) sich aufrichtet. Damit entflammt Adelheids Liebesgier und ihr Verlangen nach sofortiger Triebbefriedigung, die sie einfordert. Irmgard rät Adelheid dazu, sich im Bett mit dem Narren zu vergnügen, da wegen seiner Stummheit das Vorhaben niemals öffentlich werden könnte. Bis hierhin findet eine schemagerechte Darstellung statt, denn die „grundsätzliche Schwäche der Frau“ scheint, ganz nach Arnolds Vorhaben, entlarvt zu sein. Im Folgenden kann der Mann seine ‚natürliche‘ Überlegenheit unter Beweis stellen; während Arnold den Narren nur spiele, könne die Frau ihre Liebesgier nicht mehr kontrollieren – die höfische zuht der Prinzessin sei nur Schein, der Trieb hingegen ihre wahre Natur.

Arnolds Racheakt kehrt sich jedoch gegen sich selbst, da die beiden Frauen in der Kemenate nach und nach die Kontrolle übernehmen. Da Adelheid bemerkt, dass der Narr neben ihr liegt, ohne sich zu rühren, fordert sie Irmgard auf, die ihrer Herrin sogleich ihren dienst anbietet: Nachdem der Narr auf der Prinzessin liegt, stupft sie mit einem Stab Arnold in sein Hinterteil, sodass er die gewünschten Bewegungen ausführt, und so nimmt Irmgard seine Position ein, wodurch sie selbst Teil des Minnespiels wird. Arnold jedoch gibt die Kontrolle noch nicht gänzlich ab, da er kurz vor Adelheids Höhepunkt innehält. Aber Irmgard ergreift erneut den Stab und bringt auf Befehl der Prinzessin diese zum Höhepunkt, die Irmgards Vornamen ausruft. Von diesem Moment an endet Arnolds Schwank und der Schwank der Frauen beginnt: Es spielt nun keine Rolle mehr, dass sich der Mann zwischen den beiden Frauen befindet und er wird zum Objekt degradiert; Arnold dient als Spielzeug und ist nur eine Verlängerung von Irmgards Stock. Dadurch wird der Narr entmenschlicht, und gewissermaßen doppelt vergewaltigt, da er zum einen körperlich penetriert wird (jedoch nur symbolisch, nicht tatsächlich durch Irmgards Stock), zum anderen aber seiner Subjektposition beraubt wird.

Arnold entlarvt die Kehrseite der Heterosexualität, die nur im geheimen Raum der Kemenate stattfinden kann. „Dennoch: Diese weibliche Herrschaft muss unter Verschluss gehalten werden“ (S. 155). Würde sie nach Außen dringen, hätte sie das Potential, Adelheid und auch Arnold in schande zu stürzen. Durch die Ehe zwischen Adelheid und Arnold, zu der Irmgard rät, wird die heteronormative Ordnung scheinbar wiederhergestellt.


Konrad von Würzburg als Autor der Halben Birne

Die Autorschaft Konrads von Würzburg ist ein vieldiskutiertes Element der Forschung zum Märe Die halbe Birne. Trotz der Nennung des Autors in fünf der sieben überlieferten Schriften (fünf Handschriften und zwei Fragmente), wurde die Zugehörigkeit zu Konrads Œuvre erstmals 1820 von Karl Lachmann, später ebenso vor allem von Konrad Zwieržina 1900 und Hans Laudan 1908, vehement verneint. Im ersten Fall verläuft die Argumentation gegen die Autorschaft und für ein ‚untergeschobenes Werk‘ auf einer moralischen Ebene. Bei Laudan und Zwieržina wird diese Argumentation dann noch durch eine scheinbare Unterscheidung im Stil erweitert. Im gleichen Zeitraum bestehen jedoch auch schon die Gegenstimmen, die den lediglichen moralischen Ansatz des Versuchs, Konrads Namen vom Märe zu lösen, kritisieren (Wolff). Vor allem in den letzten vierzig Jahren werden die Stimmen in der Forschung nach einer neuen Untersuchung und Einschätzung dieser Nicht-Zuteilung lauter.

In einem 2019 veröffentlichten Forschungsansatz wird diese Ähnlichkeit oder Nichtähnlichkeit erneut untersucht durch das methodische Austesten von Wortzugehörigkeiten zu Konrads Korpus im Vergleich mit dem Märe Die halbe Birne.

Der Aufsatz schlussfolgert im Fazit nach der Untersuchung, dass eine Zugehörigkeit des Textes zu Konrads Œuvre „recht plausibel“ (S.90) sei. Zwar liegt die Erkennungsquote (69,8%) noch knapp unter einem eindeutigen Zuordnungsbereich, überschreitet aber ganz klar den Zufallswert von 5 Prozent. Von den Autoren heißt es zu diesem Befund: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die in zwei Attributionstests ermittelte relativ geringe Distanz der ‚Halben Birne‘ zum Konrad-Korpus auf dem Zufall beruht, ist recht niedrig.“ Trotz dieser neueren Bewegung, die sich auf eine wahrscheinliche Zuordnung zu Konrads Korpus zubewegt, wird der Autor des Märe oft in Druckausgaben des Märe noch als anonym gekennzeichnet oder mit einem Fragezeichen versehen.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Sekundärliteratur