Treue und Verrat (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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== Reinhart Fuchs - ein Verräter? ==
== Reinhart Fuchs - ein Verräter? ==


Betrachtet man die  
Betrachtet man die unter [[1.2 Verrat]] verfasste Definition von Verrat, so können eindeutige Parallelen zu Reinharts Verhalten gegenüber seinen Kontrahenten gezogen werden. Reinharts vergeblichen Beutezüge zu Beginn des Epos bis hin zum Rachezug nach der Wolfsbegegnung - jede einzelne Situation wird von Täuschung, Hinterhalt sowie Betrug begleitet. Der zwielichtige Fuchs täuscht seine Gegenspieler, indem er eine bestehende Treuepflicht zwischen ihm und seinen Co-Akteuren simuliert und diese letztlich hintergeht: Dem Hahn Scantecler gaukelt er eine jahrelange Vertrautheit ihrer Väter vor, um ihn anzulocken und letztendlich fressen zu können; die Meise begrüßt er als Kusinchen und zwingt sie dazu, aufgrund seiner Patenschaft mit ihrem Sohn (Vgl. Scantecler, Meise, Isengrin  
 
Reinhart täuscht seine Gegenspieler, indem er eine bestehende Treuepflicht zwischen ihm und seinen Co-Akteuren simuliert und diese letztlich hintergeht. (Vgl. Scantecler, Meise, Isengrin  
- Mit Hinblick auf Definition: Stimmen die Punkte mit Reinhart überein? Wer kommt ihm gleich?
- Mit Hinblick auf Definition: Stimmen die Punkte mit Reinhart überein? Wer kommt ihm gleich?



Version vom 17. Februar 2021, 17:59 Uhr

Dieser Artikel thematisiert die im Reinhart Fuchs[1] verschieden auftretenden Aspekte der Treue ("triuwe") sowie des Verrats. Dabei wird das Verhalten des gerissenen Reinharts analysiert, welcher die Treue in der Verwandtschaft als Vorwand nimmt, um durch den anschließenden Verrat an jenen Verwandten jegliche Gegebenheiten zu seinen Gunsten zu wenden. Ebenso werden Verhaltensweisen von Figuren untersucht, die Reinhart in seinem verräterischen Dasein gleichkommen.

Definition von „Treue“ und „Verrat“

Treue

Die Treue (mhd. triuwe) beschreibt die Zuverlässigkeit eines Individuums gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache. Treue wird als Tugend angesehen und nimmt eine bedeutsame Rolle in der Gesellschaft ein, indem sie in verschiedenen alltäglichen Situationen von einzelnen Menschen, Gruppierungen oder auch in der Rechtswissenschaft aufgegriffen wird. Im Alltag beruht die Treue meist auf gegenseitigem Vertrauen, wobei beide Parteien an einer eingegangenen vertraglichen oder persönlichen Bindung festhalten und sich somit zu einer gegenseitigen Treue verpflichten. Ein Verhalten gemäß dieser Tugend drückt jedoch nicht aus, dass es auch als positiv bewertet werden muss. So kann der Treuebegriff durchaus missbraucht werden, um Handlungen zu rechtfertigen, die amoralisch sind und den eigenen Zwecken dienen (Bsp.: Volkstreue zum „Führer“ im Nationalsozialismus). [Wikipedia 2020]

Verrat

Der Verrat bezeichnet die Zerstörung eines Vertrauensverhältnisses durch Täuschung, Hinterhalt, Betrug oder ähnliches. Er stellt einen Treuebruch dar, in dem ein Individuum seinem Gegenüber lediglich vortäuscht, dass eine verpflichtende Treue zwischen ihnen besteht. [Dudenredaktion 2020] Letztendlich agiert der „Verräter“ entgegen jenes simulierten Treuebündnisses und handelt meist zu eigenen Gunsten, wodurch der Gegenüberstehende oftmals zu Schaden kommt. Dabei kann der Verrat in verschiedensten Formen auftreten: Vom Verrat von Geheimnissen bis hin zum Straftatbestand des Hochverrats. Die Intensität des Verrats ist somit variabel, wobei auch die persönliche Auffassung jedes Individuums die Bewertung jener Intensität beeinflussen kann.

Die Rolle der Verwandtschaftstreue

Die Verwandtschaftstreue spielt im Reinhart Fuchs durchweg eine zentrale Rolle. Während im gesamten Tierepos die verwandtschaftlichen Beziehungen aufgegriffen werden, wird meist nicht differenzierter erläutert, inwiefern nun eine Verwandtschaft besteht (vgl.Verwandtschaftsbeziehungen (Reinhart Fuchs)). Neben der biologischen Verwandtschaft scheint insbesondere die „Gevatterschaft“ (gevater mhd. Verwandter, Freund, Gefährte) eine Möglichkeit zu sein, bei der die Tiere unabhängig ihrer Spezies Bündnisse eingehen können, die einer freundschaftlichen gar familiären Beziehung gleichkommen. Ab der ersten Szene im Reinhart Fuchs bis hin zum Ende des Epos werden kontinuierlich Aspekte der Verwandtschaftsbeziehung und die Rolle der damit einhergehenden triuwe thematisiert. Indem sich Reinhart stets auf die bestehende Verwandtschaft bezieht, gelingt es ihm meist, das Vertrauen seiner Gegenspieler zu gewinnen, um die „[...] Handlungssituation[en] so zu arrangieren, dass die Deutung durch den Co-Akteur vorhersehbar und dem Handlungsziel des Akteurs dienlich ist [...].“ [Hübner 2016:88] Da die Treue eine Tugend darstellt, sehen es Reinharts Co-Akteure als eine Pflicht, sich dem Treueschwur unterzuordnen, um ihren tugendhaften Vorfahren nachzukommen. Doch „[w]ährend die Dialogpartner an verbindliches vorbildhaftes Handeln ihrer Vorfahren gemahnt oder zu verwandtschaftlichem Entgegenkommen eingeladen oder gedrängt werden, gibt Reinhart selbst durch seine Hypokrisie das erste Signal, daß Verwandtschaftswerte nur verbal, nicht aber faktisch hoch im Kurs stehen. Der einvernehmliche normative Gehalt der Verwandtschaftsbindungen gerät ins Zwielicht, da Reinhart — und nicht nur er — das Argument der verwandtschaftlichen Rechts- und Verpflichtungsgemeinschaft notorisch zu egoistischen Zwecken mißbraucht.“ [Ruberg 1988:45] Dadurch, dass die Treue innerhalb des Verwandtschaftsbündnisses eine derartig fundamentale Bedeutung darstellt, schafft Reinhart es also, das vorhersehbare Verhalten seiner Gegenspieler zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen.

Treue und Verrat im Reinhart Fuchs

Reinhart und der Hahn Scantecler

Verseinführung I

Reinhart versucht durch seine gerissenen Überzeugungsfähigkeiten das Vertrauen des Hahns Scantecler zu gewinnen, um ihn von einem Ast herunterzulocken, da er als potenzielle Mahlzeit diene. Dies gelingt ihm durch die Hervorhebung der Treue, die innerhalb der Verwandtschaft herrsche. Reinhart erwähnt den Vater Scanteclers und erzählt davon, wie dieser sich stets über den Besuch des Vaters von Reinhart gefreut haben solle und, im Gegensatz zu Scantecler, nie auf jegliche Äste geflüchtet sei:

V. 110-125

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhart sprach: ,daz mac wol sin. Reinhart sprach: ,Das mag wohl sein.
nv rewet mich dines vater tot, Nun tut mir der Tod deines Vaters leid,
wen der dem minnisten ere bot; denn dieser bot dem Geringsten seine Anerkennung;
wan trewe vndir kvnne Besonders die Treue unter Verwandten
daz ist michel wunne. ist eine große Freude.
dv gebares zv vntare, Du benimmst dich zu unfreundlich,
daz sag ich dir zware. das sag ich dir gewiss.
din vater was des minen vro, Dein Vater freute sich über meinen,
ern gesaz svst hohe nie also, er saß nie so hoch wie du,
gesaech er den vater min, sah er meinen Vater,
erne vlvge zv ime vnde hiez in sin so flog er zu ihm hin und hieß ihn
willekvmen, ovch vermeit er nie, willkommen, auch fluchte er nie,
ern swunge sine vitichen ie, noch schwang er seine Flügel,
iz were spate oder vru, egal, ob es spät oder früh war,
die ovgen tet er beide zv er schloss beide Augen
vnde sang im als ein vrolichez hvn.' und sang ihm wie ein fröhliches Huhn vor.'

Analyse & Interpretation I

„Dass der Hahn so hoch über dem Fuchs sitze, gehöre sich unter Verwandten nicht, weil es gegen die Verwandtschafts-triuwe verstoße.“ [Hübner 2016:88] Durch das Eingehen auf die Familie bekräftigt Reinhart die innige Treue, die bereits zwischen ihren Vorfahren, nämlich seinem Vater und dem Vater Scanteclers bestanden haben solle. „Der Plausibilisierung der Situationsdeutung, die Reinhart dem Hahn nahelegt, dient die Berufung auf die sozialen Ordnungsverhältnisse als Kriterium für richtiges und falsches Handeln; das Handeln der Väter exemplifiziert seinerseits die Richtigkeit des Kriteriums.“ [Hübner 2016:88] Somit fordert Reinhart Scantecler nicht nur dazu auf, ihm, seinem Verwandten, die Treue zu erweisen und sich zu ihm zu begeben - er weist geradezu auf einen Verrat an ihren Vätern hin, den Scantecler beginge, sollte er sich der jahrelangen Vertrautheit der Väter entgegenstellen.

Verseinführung II

Scantecler ist durch seine Treue zu seinem Vater förmlich gezwungen, zu Reinhart zu fliegen und willigt somit, ohne jegliches Zögern, ein. Reinhart nutzt ebenjene Treue aus und ergreift Scantecler sofort mit seinem Maul, der unmittelbar seine Augen geschlossen hat, um mit dem Gesang beginnen zu können:

V. 126 - 138

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Scantecler sprach: ,daz wil ich tvn, Scantecler sprach: „Das will ich tun,
iz larte mich der vater min: es lehrte mich mein Vater;
dv solt groz wilkvmen sin.' du sollst sehr willkommen sein.“
die vitich begond er swingen Er begann die Flügel zu schwingen
vnde vrolich nider springen. und sprang fröhlich herunter.
des was dem toren ze gach, Da war der Narr allzu eifrig,
daz gerowe in sere dar nach. was ihm rasch leidtun sollte.
slinzende er singende wart, Als er blinzelnd singen wollte,
bi dem hovbete nam in Reinhart. packte Reinhart ihn beim Nacken.
Pinte smrei vnde begonde sim missehaben, Pinte schrie und beginn zu klagen.
Reinhart tet niht danne draben Darauf trabte Reinhart nur
vnde hvb sich wundernbalde und brach in Windeseile auf
rechte hin gegn dem walde. in Richtung des Waldes.

Analyse und Interpretation II

Bereits zu Beginn des Werkes werden Treue und Verrat als zentrales Thema aufgegriffen; den Lesenden wird bei der ersten Begegnung die Skrupellosigkeit Reinharts vorgeführt: Seinem entschlossenen Handeln zufolge täuscht er offenbar nicht zum ersten Mal eine gegenseitige Treue vor, um den Gegenüberstehenden von sich überzeugen zu können. Reinhart scheint bereits mehrere Male auf die Treue innerhalb der Verwandtschaft zurückgegriffen zu haben, zumal er gekonnt und ohne Scheu Scantecler umstimmt und ihn letztendlich verrät.


Reinhart und die Meise

Verseinführung I

Nach Reinharts misslungenen Versuch, Scantecler als Beute zu erlangen, trifft er auf eine kleine Meise. Da er noch immer keine Mahlzeit zu sich genommen hat, versucht er, auch die Meise mit seinen Listen dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, um sie anschließend verspeisen zu können.

V. 178 - 188

Mittelhochdeutsch Übersetzung
er sprach: ,got grveze evch, gevater min! Er sprach: „Gott grüße Euch, mein Gevatter!
ich bin in einem geluste, Ich habe das Verlangen,
daz ich gerne chvste, dass ich gerne küsste;
wan, sam mir got der riche, doch, beim mächtigen Gott,
dv gebares zv vremdicliche. du verhältst dich so befremdlich.
gevatere, dv solt pflegen treuwen! Gevatter, du sollst deine Treue beweisen!
nv mveze iz got rewen, Nun müsste es Gott ärgern,
daz ich ir an dir niht envinde! wenn ich sie an dir nicht finden könnte!
sam mir die trewe, die ich dinem kinde[] Bei der Treue, die ich deinem Kinde,
bin schvldic, daz min bate ist, dessen Pate ich bin, schuldig bin,
ich bin dir holt ane arge Iist!' ich bin dir wohlgesinnt ohne arger List!“

Analyse & Interpretation I

„[Reinhart] biedert sich als Gevatter an, stellt sich verliebt, wünscht einen Kuss.“ [Ruh 1980:17], wodurch dem Leser eine Beziehung zwischen beiden vermittelt wird. Die Art der Beziehung, ergo ob Reinhart und die Meise nun Bekannte, Freunde oder gar Verwandte sind, ist dabei unklar. Reinharts Intention besteht darin, durch jene Anrede ihr Vertrauen zu gewinnen. Er gibt vor, sie zur Begrüßung küssen zu wollen, was die Zuneigung hervorhebe und dem hungrigen Reinhart somit die Möglichkeit biete, der Meise nah genug zu kommen, um nach ihr schnappen zu können. Erkennbar ist eine Parallele zur Scantecler-Szene, denn auch hier spricht Reinhart das zurückhaltende Verhalten seines Gegenübers an, das entgegen der eigentlich bestehenden Treue zwischen Gevattern spreche. Ebenso wie bei Scantecler, zwingt Reinhart die Meise gleichermaßen zu einem Treuebeweis. Während Reinhart in der vorherigen Szene einen Treuebruch zwischen Scantecler und seinem biologischen Vater hervorhob, pointiert er hierbei die Verärgerung des Gott-Vaters, sollte die Meise seinem Gevatter keine Treue erweisen. Im Gegensatz zur Meise stellt sich Reinhart selbst als treuer Verwandter dar, zumal er sich als Pate des Kindes der Meise präsentiert und somit erneut die bedeutsame Rolle der Treue in der Familie akzentuiert. „Zweifellos eignet dem gevater-Status auch hier Rechtscharakter, eine Verpflichtung zur triuwe zwischen Taufeltern und Taufzeugen sowie insbesondere zwischen Pate und Patenkind (mhd. pate).“ [Ruberg 1988:39] Reinhart verspricht also seine Treue durch die bestehende Patenschaft und versucht hiermit die Meise von seiner freundlichen Gesinnung zu überzeugen, um sie vom Baum locken zu können.

Verseinführung II

Doch die Meise scheint etwas anderes vorzuhaben: Sie spricht Reinhart direkt auf seine Listen an und fordert von ihm, seine furchterregenden Augen zu schließen.

V. 189 - 210

Mittelhochdeutsch Übersetzung
die meyse sprach: ,Reinhart, die Meise sprach: "Reinhart,
mir ist vil manic ubel [ ] art mir wurden oft viele üble Dinge
von dir gesaget dicke. von dir erzählt.
ich vurchte din ovgenblicke, Ich fürchte mich vor deinen Blicken,
di sint grvelich getan. sie sind so grausig beschaffen.
nv laz si ze samen gan Nun lass sie beide zu
so kvsse ich dich an dinen mvnt so küsse ich dich
mit gvtem willen dristvnt.' mit gutem Willen dreimal auf den Mund.“
Reinhart wart vil gemeit Reinhart war sehr zuversichtlich
von der cleinen leckerheit, von dem kleinen Genuss,
er vrevte sich vaste. er freute sich sehr.
dannoch stvnt sin gevatere ho vf einem aste Dennoch stand seine Gevatterin hoch auf einem Ast
Reinhart blinzete sere Reinhart blinzelte eifrig
nach siner gevatern lere. nach der Unterweisung seiner Gevatterin.
ein mist si vnder irn fvz nam, Sie nahm ein bisschen Dreck unter ihren Fuß,
von aste ze aste si qvam sie sprang von Ast zu Ast
vnde liez ez im vallen an den mvnt. und ließ ihn in seinen Mund fallen.
do wart ir vil schire chvnt Da war ihr sofort die
irz gevatern schalkeit: die Bosheit ihres Gevatters bewusst:
die zene waren ime gereit Seine Zähne waren bereit
daz mist er do begripfte, um nach dem Dreck zu fassen,
sin gevater im entwischte. seine Gevatterin entwischte ihm.

Analyse & Interpretation II

Hierbei besteht ein direkter Unterschied zwischen dem Hahn Scantecler und der Meise: Scantecler lässt sich von Reinharts vermeintlicher Treue überzeugen und will mit seiner eigenen Treue ihm gegenüber entgegnen, indem er zu ihm herabfliegt. Der Meise hingegen ist bewusst, dass sich hinter der von Reinhart vorgetäuschten Treue zu ihm und seinem Kind verräterische Intentionen verbergen. Sie spricht Reinhart offen darauf an, dass bereits Geschichten von seinen Treuebrüchen kursieren und sie deshalb keinen Grund hätte, ihm bedenkenlos zu vertrauen. Doch anstatt ihm aus dem Weg zu gehen, versucht die Meise selbst, Reinhart auszutricksen, indem sie ihm Dreck in sein Maul wirft. Durch jenes Verhalten wird die Meise selbst zum Verräter: Obwohl sie Reinhart klarmacht, dass sie sich vor ihm fürchtet, spielt sie - unter der Bedingung, dass er seine Augen schließt - dennoch ihre Treue vor. Im Anschluss daran nutzt sie die Ahnungslosigkeit Reinharts aus und fügt ihm durch den Dreck Schaden zu, wodurch sie Reinhart in seinem verräterischen Dasein gleicht. Dass eine Ähnlichkeit zwischen Fuchs und Meise als Verräter besteht, wird umso mehr bei ebenjener Aufforderung der Meise deutlich, dass Reinhart seine Augen schließen solle. Denn jene Anforderung stellt Reinhart zuvor an Scantecler, der seine Augen schließen solle, um mit seiner Gesangseinlage zu beginnen. Während Reinhart jenen Trick bisher nur aus der Verräterperspektive kannte, setzt die Meise jenen Trick als vermeintliches Opfer ein, wird somit selbst zum Verräter - und macht zudem Reinhart zu einem Opfer des Verrats. [Dimpel 2013:406] Dadurch gelingt es ihr, Reinharts eigentliche treulose Absicht zu enttarnen, da dieser ohne zu zögern sein Maul aufreißt, um nach der Meise zu schnappen. Somit nimmt nicht nur die Meise selbst die Rolle eines Verräters ein, sondern sie schafft es zugleich, Reinhart als Verräter zu offenbaren. Reinhart verrät sich also selbst als Verräter, indem er nach dem Dreck schnappt und sein bösartiges Vorhaben entlarvt.


Reinhart und die Wolfsfamilie

Verseinführung I

Als Reinhart den Wölfen begegnet, bittet er diese darum, ihn als Gefährten in ihrer Familie aufzunehmen. Sowohl Reinhart als auch Isengrin würden davon profitieren, zumal sich Reinhart seiner Klugheit bedienen kann und Isengrin stark ist, wodurch sich beide mit ihren Fähigkeiten in einer Gevatterschaft ergänzen können. Isengrin und seine Frau Hersant kommen zu dem Entschluss, Reinhart tatsächlich als Vetter in ihre Familie aufzunehmen, sodass sich ein offizielles Verwandtschaftsverhältnis herausbildet, das von Verwandtschaftstreue gefestigt wird. Als Isengrin eines Tages mit seinen Söhnen losziehen will, um nach Beute zu jagen, vertraut er seine Frau Hersant Reinhart an.

V. 416 - 419

Mittelhochdeutsch Übersetzung
sin wip nam er bi der hant Seine Frau nahm er bei der Hand
vnde bevaldt si Reinharte sere und vertraute sie Reinharts
an sine trewe vnde an sine ere. Treue und Ehre an.
Reinhart warb vmb di gevatern sin. Doch Reinhart umwarb seine Gevatterin.

Analyse & Interpretation I

Verdeutlicht wird hierbei, wie Isengrin dem treuen und ehrenhaften Reinhart seine Frau anvertraut. „Reinhart und Isengrin schließen einen Gesellenbund, im gegenseitigen Interesse, wie es der Fuchs formuliert: ich bin listic, starc sît ir (397). Diese Gevatterschaft ist dann die Voraussetzung für Reinharts Werbung um Hersant, von der bereits die Rede war.“ [Ruh 1980:19] Aufgrund des Treuepaktes durch die Aufnahme Reinharts in die Wolfsfamilie scheint jedoch keiner der Angehörigen misstrauisch gegenüber ihrem neuen Vetter zu sein. Keiner weiß, dass Reinharts Intention darin besteht, Hersant zu umwerben. Dadurch, dass der Leser schon zu Beginn der Einigung Reinharts Intention erkennt, nämlich Hersant zu umgarnen, basiert das Verwandtschaftsbündnis bereits auf einem Fundament des Verrats. Doch Isengrin zeigt sich als treuer Gevatter, der sich an jenen Zusammenschluss hält und somit auch Reinhart seine Treue erweist, indem er ihm seine Frau überlässt. Isengrins Treue gegenüber Reinhart steht also im direkten Widerspruch zu Reinharts verräterischen Absichten gegenüber der Wolfsfamilie.

Verseinführung II

Reinhart versucht, Hersant zu verführen - doch diese lässt sich nicht davon beeindrucken:

V. 428 - 433

Mittelhochdeutsch Übersetzung
,Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' „Halte deinen Mund, Reinhart!“
sprach er Ysengrinis wip, sprach Isengrins Frau,
,min herre hat so schonen lip, „Mein Mann hat einen so schönen Körper,
daz ich wol frvndes schal enpern. dass ich wohl auf einen Liebhaber verzichten kann.
wold aber ich deheines gern, Wollte ich aber irgendeinen,
so werest dv mir doch zv swach.' so wärst du mir doch viel zu schwächlich.“

Analyse & Interpretation II

Hersant weist Reinhart ab, indem sie klarmacht, dass sie bereits einen Mann - Isengrin - an ihrer Seite hat. Dadurch wird zunächst ihre Treue zu ihrem Mann erkennbar, den sie als stark und schön betitelt und so Reinhart klarmacht, dass sie kein Interesse an ihm hat. Hervorgehoben wird dadurch ihre Zuverlässigkeit gegenüber Isengrin, zumal dieser nicht anwesend ist und sie dennoch zu ihm steht. Doch andererseits betont Hersant, dass Reinhart zu schwächlich auf sie wirkt und er daher sowieso nicht als Liebhaber infrage käme. So stellt sich hierbei die Frage, ob Hersants Treue zu ihrem Mann auch weiterhin bestünde, wenn Reinhart mächtiger als Isengrin erscheinen würde. Durch die Betonung der Wichtigkeit des Körpers wirkt Hersants Treue zu ihrem Mann nur noch halb so authentisch, vielmehr wirkt es so, als sei es nicht die Liebe zu ihrem Mann, sondern vielmehr sein physisches Aussehen, das ihr den Grund für eine Beziehung mit ihm gebe. Es könnte durchaus sein, dass sie sich für einen anderen Gatten entscheiden würde, wenn dieser doch größer und stärker als ihr jetziger wäre. Hersant sei also „prinzipiell zum Ehebruch bereit [...], wenn ihr Mann den genannten Anforderungen nicht mehr genügen sollte.“ [Mecklenburg 2017:95] Dadurch wird die Bereitwilligkeit der Wölfin für einen Treuebruch bzw. Verrat an Isengrin verdeutlicht, was im Widerspruch zu dem anfänglichen treuen Eheverhältnis und der Abweisung Reinharts steht.

Verseinführung III

Als Isengrin vergeblich von seiner Beutejagd zurückkommt, schlägt Reinhart vor, den Schinken eines Bauern zu klauen. Nachdem die Wölfe seinem Vorschlag zustimmen, humpelt Reinhart auf den Bauern zu und schafft es durch seinen geschickten Einfall, ihn abzulenken, sodass sich Isengrin den Schinken schnappen kann. Doch ohne auf Reinhart zu warten, stürzt er sich gewissenlos auf das Fleisch.

V. 470 - 474

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Ysingrin hvb sich balde: Isengrin erhob sich schnell:
e dan der gebvre mochte wider kvmen, Ehe der Bauer wieder zurückkommen konnte,
so hat er den bachen genvmen so hatte er den Schinken genommen
vnd hat in schire vressen. und ihn schnell gefressen.
Reinhartes wart vergessen. Doch Reinhart wurde vergessen.

Analyse & Interpretation III

Dass Isengrin zunächst als treuer Gevatter Reinhart in die Familie aufnimmt, ihm seine Frau anvertraut und dabei keinerlei Misstrauen gegenüber Reinhart hegt, steht im direkten Kontrast zu seiner darauffolgenden Tat. Obwohl es Reinhart ist, der sich mit verräterischen Absichten in die Wolfsfamilie aufnehmen lässt, um Hersant näherzukommen, ist Isengrin derjenige, der den ersten Verrat begeht, welcher für alle Parteien sichtbar ist. Nachdem Isengrin von seinem erfolglosen Beutezug zurückkehrt, kann er seinem neuen Vetter nichts bieten. Doch Reinhart nutzt diese Chance, um Isengrin und insbesondere Hersant zu beweisen, dass nicht die physische Stärke den Erfolg ausmacht, sondern die Fähigkeit der kundikeit diejenige ist, die über allen anderen steht. Reinhart stellt sich als treuen, hilfsbereiten Gevatter dar und „[...] erbeutet mit einer List, nämlich dem Vortäuschen von (gerade nicht als ›männlich‹ konnotierter) Schwäche, einen ganzen Schinken von einem Bauern.“ [Mecklenburg 2017:94-95] Dabei riskiert er sogar sein eigenes Leben, um für alle ein potentielles Mahl zu ermöglichen. Reinhart vertraut Isengrin und Hersant, indem er sich einer Gefahr aussetzt und darauf hofft, dass die Wölfe den Schinken mitnehmen, sodass jeder in der Familie davon profitiere. Doch Isengrin verrät seinen neuen Vetter, indem er sein Vertrauen und seine vermeintliche Treue ihm gegenüber ausnutzt und den Schinken frisst, ohne dabei auf denjenigen zu warten, dem die Speise überhaupt zu verdanken ist.

Verseinführung IIII

Reinhart kehrt zurück und erkennt, dass der Schinken verschwunden ist, woraufhin er Isengrin und Hersant damit konfrontiert:

V. 489 - 498

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhart qvam spilinde vnde geil, Reinhart kam vergnügt herbei,
er sprach: ,wa ist hin min deil?' er sprach: „Wo befindet sich mein Anteil des Schinkens?“
do sprach Ysengrin: Daraufhin sprach Isengrin:
,vrege di gevatern din, Frag deine Gevatterin,
ob si iht habe behalten, des ir wart.' ob sie nichts davon übrig gelassen hat, was ihr zustand.“
,nein ich', sprach si, ,Reinhart, „Nein, ich“, sprach sie, „Reinhart,
iz dvchte mich vil svze. Es schmeckte mir zu sehr.
daz dir got Ionen mvze! Dass Gott es dir lohne!
vnde zvrne dv niht, Und erzürne nicht,
wenne mirs nimmer me geschiht.' denn es wird nie mehr geschehen.“

Analyse & Interpretation IIII

Sowohl Isengrin als auch Hersant verraten Reinhart, indem sie seine Hilfe ausnutzen und den Schinken vollständig auffressen und „brechen damit das durch die Gevatterschaft begründete triuwe-Verhältnis zwischen den dreien.“ [Mecklenburg 2017:95] Nach Reinharts Konfrontation scheinen beide Wölfe keine Reue zu zeigen: Zwar bedankt sich Isengrin für das Mahl - doch entschuldigt weder er sich bei ihm, noch scheint sich seine Frau wirklich für die Gefühlslage Reinharts zu interessieren. Auffällig ist jedoch, dass Hersant mit „nein ich“, sprach si, „Reinhart, / iz dvchte mich vil svze. / daz dir got lonen mvze! / vnde zvrne dv niht, / wenne mirs nimmer me geschiht.“ (RF, V. 494-498) „[...] nun im sprachlichen Register der höfischen, sich in Bezug auf die strukturellen Machtverhältnisse in Geschlechterbeziehungen normgerecht unterordnenden Dame [erwidert]. [Mecklenburg 2017:95] Im Kontrast dazu steht ihre zuvor abweisende Haltung gegenüber Reinharts Minnebegehren aufgrund seiner physischen Unterlegenheit. Konnte Reinhart durch den Gebrauch seiner kundikeit das Vorurteil Hersants loswerden und beweisen, dass er trotz seiner physischen Unterlegenheit stärker ist als die Wolfsfamilie? Vermutlich nicht, sonst hätte das Wolfspaar wohl kaum den Schinken aufgefressen, wenn sie die Gerissenheit des Fuchses fürchten würden. Allerdings könnte der Grund für ihre Sorglosigkeit auch in jenem beschlossenen Verwandtschaftsverhältnis liegen, welches die Wölfe vor einer möglichen Bestrafung durch Reinhart schützen könne. So scheinen die Wölfe Reinharts Fähigkeiten weiterhin zu unterschätzen und sehen sich selbst nach wie vor als dominierende Spezies. Jener Bruch der Verwandtschaftstreue mag den Wölfen zwar nicht bewusst sein, dennoch spielt diese eine signifikante Rolle für den Verlauf des Tierepos: „Isengrin hat Reinhart Fuchs über dessen Vorschlag hinaus durch eine Gevatterschafts-Beziehung in seine Familie hineingenommen, die damit verbundene Treueverpflichtung dann aber sofort verletzt, kann sich also nicht beklagen, wenn er nun regelmäßig auf genau dieser Ebene ausgetrickst wird.“ [Mecklenburg 2017:95] Reinharts Intentionen scheinen sich durch den Verrat der Wölfe an ihm zu verändern: Während er zuvor das Fleisch für die Familie besorgt hat, versucht er in den darauffolgenden Szenen Gewalt durch seine kundikeit auszuüben, indem er die Wölfe in Gefahr bringt und sich an ihren Leiderfahrungen, wie dem Schwanzverlust Isengrins oder der Vergewaltigung von Hersant, ergötzt. Doch durch Mecklenburgs Beschreibung scheinen Reinharts Listen durch den erstmaligen Treuebruch der Wölfe gegenüber dem Fuchs gerechtfertigt zu sein. Reinhart bliebe nichts anderes übrig, als sich an den untreuen Gevattern zu rächen und selbst zum Verräter zu werden. Doch Isengrin reflektiert weder sein eigenes Falschverhalten, als er den Schinken auffrisst und dadurch seinen Gevatter verrät, noch erkennt er die „[...] entsprechende[n] Verhaltensänderungen [seines Gegners]“ [Mecklenburg 2017:95] Reinharts wahre verräterische Absicht begreift Isengrin erst nach der Vergewaltigung seiner Ehefrau, woraufhin er offiziell das Treueverhältnis der Gevatterschaft auflöst und durch einen Gerichtsprozess Rache an Reinhart ausüben will.

Reinhart Fuchs - ein Verräter?

Betrachtet man die unter 1.2 Verrat verfasste Definition von Verrat, so können eindeutige Parallelen zu Reinharts Verhalten gegenüber seinen Kontrahenten gezogen werden. Reinharts vergeblichen Beutezüge zu Beginn des Epos bis hin zum Rachezug nach der Wolfsbegegnung - jede einzelne Situation wird von Täuschung, Hinterhalt sowie Betrug begleitet. Der zwielichtige Fuchs täuscht seine Gegenspieler, indem er eine bestehende Treuepflicht zwischen ihm und seinen Co-Akteuren simuliert und diese letztlich hintergeht: Dem Hahn Scantecler gaukelt er eine jahrelange Vertrautheit ihrer Väter vor, um ihn anzulocken und letztendlich fressen zu können; die Meise begrüßt er als Kusinchen und zwingt sie dazu, aufgrund seiner Patenschaft mit ihrem Sohn (Vgl. Scantecler, Meise, Isengrin - Mit Hinblick auf Definition: Stimmen die Punkte mit Reinhart überein? Wer kommt ihm gleich?

Fazit

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Literaturverzeichnis

<HarvardReferences />

[*Wikipedia 2020] URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Treue (zuletzt abgerufen am 07.02.2021).

[*Dudenredaktion 2020] URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Verrat (zuletzt abgerufen am 10.02.2021).

[*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im Reinhart Fuchs, S. 88.

[*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33.

[*Ruberg 1988] Ruberg, Uwe: Verwandtschaftsthematik in den Tierdichtungen um Wolf und Fuchs vom Mittelalter bis zur Aufklärungszeit. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Hrsg. von Hans Fromm. 110. Bd./ Heft 1 (1988) Tübingen, S. 29-63.

[*Dimpel 2013] Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit - des weste Reinharte niman danc. Bd. 135: Walter de Gruyter, S. 399-422.

[*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: Abenteuerliche Überkreuzungen - Vormoderne intersektional. V&R unipress, S. 94-95.

  1. Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819).