Walthers sogenannte Mädchenlieder; Definition (nach Bennewitz / Grafetstätter)

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Erfindung der Intimität; Walthers sogenannte Mädchenlieder

In der Minnesangforschung der mediävistischen Literaturwissenschaft wird unter anderen stets der Lyriker Walther von der Vogelweide erwähnt. Seine vielfältigen Werke geben immer wieder Anlass zu Rezeption, Interpretation und Diskussion.

Eines der vielfach diskutierten Themen in der Mediävistik, und so auch das Thema der Diskursanalyse „Begehren und Erhören“, verfasst von Bennewitz und Grafetstätter, sind Walthers sogenannte Mädchenlieder, wobei schon allein der Terminus für sich eine Kontroverse ausgelöst hat, da die Definition des Mädchenliedes an sich unklar ist und sich daher nicht ohne Weiteres dafür eignet, eine eigene Gattung der Minnelyrik zu beschreiben.

Es folgt zunächst eine knappe Abgrenzung von anderen Gattungen der Minnelyrik, denn die Mädchenlieder – wenn auch nicht konkret definierbar – lassen sich aufgrund der unten genannten Einordnungskriterien keiner anderen Gattung zuordnen.

Hohe Minne

Das Konzept der Hohen Minne beinhaltet den Minnedienst, also den Lobgesang für eine bestimmte Dame, sowie das sehnsuchtsvolle Streben des Sängers nach der Liebe, dem Lohn dieser Dame, den er jedoch nie erhalten wird. Während sich die besungene Dame in einem Zwiespalt zwischen minne (Liebe, die sie eventuell für den Sänger verspürt) und êre (öffentlich-höfisches Ansehen, Ehre) befindet und sich letztendlich für die êre entscheidet, da sie sich tugendhaft und gut verhält, erweist sich der Sänger gerade dadurch als edel, dass er trotz der permanenten Zurückweisung durch die Frau nicht von seinem Lobgesang ablässt, diesen also auch ohne den Dank der Dame fortsetzt. Dieses lebenslange Werben ohne Dank entspricht dem höfischen Ritterideal, welches sich um 1170 etabliert (Brunner/Hahn/Müller/Spechtler: „Walther von der Vogelweide; Epoche – Werk – Wirkung“). → Mädchenlieder hingegen beruhen auf dem Konzept der Gegenseitigkeit der Liebe – für das Werben um eine bestimmte Frau erhält der Sänger deren Dank (der Sänger klagt nicht, sondern er schwärmt und träumt vielmehr von der Schönheit der besungenen Person und von der Erfüllung der Liebe). Somit sind Mädchenlieder keinesfalls der Gattung der Hohen Minne zuzuordnen.

Kreuzlied

Zwar behandeln auch die Kreuzlieder die Minne, doch sie tun dies nur in einer speziellen Form: Es ist die Gottesminne, die hier thematisiert wird. Der Mensch, der im Diesseits für Gott kämpft und somit seine Gottesminne beweist, wird nicht nur bei der erfolgreichen Rückkehr von den Kreuzzügen (für die in den Kreuzliedern geworben wird) die Belohnung in Form von Reichtum und hohem höfischem Ansehen erhalten, sondern ihm wird auch der jenseitige Platz im Himmelreich zugesichert. → Diese Gattung hat insofern logischerweise nichts mit den Mädchenliedern zu tun, als es sich bei Letzteren um die körperliche, sinnliche und emotionale Liebe zu einer weiblichen Person handelt. Eine Gemeinsamkeit im weiteren Sinne kann man höchstens in der Gegenseitigkeit der Liebe erkennen, denn auch die Gottesminne bezieht sich auf die Liebe zwischen Gott und den Menschen, nicht nur auf die der Menschen zu Gott.

Frauenlied

Diese Gattung des Minnesangs ist zwar üblicherweise – wie im Übrigen alle anderen Gattungen auch – von männlichen Sängern verfasst und auch vorgetragen worden, doch der Sprecher ist im Frauenlied stets eine „frouwe“ (eine adlige Dame), die sehnsuchtsvoll über einen Angebeteten spricht und darin meist auch die mit der Liebe einhergehenden emotionalen sowie gesellschaftlichen Schwierigkeiten erörtert (Ingrid Kasten: „Frauenlieder des Mittelalters“. → Der offensichtliche Unterschied zu den Mädchenliedern liegt hier in der Rolleninszenierung des Sprechers: Während in den Frauenliedern, wie der Name schon sagt, eine adlige Dame spricht, tritt in den Mädchenliedern stets ein männliches Ich auf, das über eine weibliche Person sinniert.

Tagelied

Hier wird stets ein und dieselbe Situation in verschiedensten Varianten beschrieben: Nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht bricht der Tag an und die zwei Liebenden müssen sich trennen, was mit schmerzlicher Klage einhergeht.

→ Keines der Mädchenlieder Walthers beschreibt die Situation der schmerzvollen Trennung nach der Liebesnacht bei Morgengrauen,dieses Kriterium trifft also nicht zu. Außerdem sind Tagelieder generell in einem eher wehmütigen Stil verfasst, thematisieren sie doch hauptsächlich die Trennung, die beklagt wird, wohingegen Mädchenlieder in einem eher optimistischen, freudigen Ton gehalten sind; sie preisen beispielsweise die Schönheit der Besungenen oder auch die Freuden der erlebten Liebe an; der Sänger ist glücklich, nicht (allzu) wehmütig.

Wechsel

In einer imaginierten Sprechsituation wechseln sich sowohl ein männliches als auch ein weibliches Ich strophisch ab; sie referieren monologisch über den jeweiligen Partner.

→ Wie auch in den Frauenliedern ist hier der Unterschied in der Rolleninszenierung einer weiblichen Sprecherfigur zu finden(wie auch in der nachfolgenden Gattung des Dialogs); während im Mädchenlied die weibliche Figur nicht selbst zu Wort kommt, sondern lediglich von dem männlichen Sänger beschrieben wird, hat sie im Wechsel eine eigene Rolle inne.

Dialog

Die Form des Dialogs ist identisch mit der des Wechsels; beim Dialog sprechen das männliche und das weibliche Ich allerdings nicht monologisch übereinander, sondern im Dialog miteinander.

→ Wie auch in den Frauenliedern und dem Wechsel ist hier der Unterschied in der Rolleninszenierung einer weiblichen Sprecherfigur zu finden. während im Mädchenlied die weibliche Figur nicht selbst zu Wort kommt, sondern lediglich durch den männlichen Sänger beschrieben wird, hat sie im Wechsel eine eigene Rolle inne.

Definition (Ausschlussverfahren)

Daraus folgt also, dass Walthers Mädchenlieder aufgrund dieser Kriterien keiner der oben genannten Gattungen zuzuweisen ist, was dafür spricht, die Mädchenlieder tatsächlich als eigene Gattung zu verstehen. Soll sie jedoch als eine solche behandelt werden, so bleibt noch immer die Frage nach der angemessenen Definition.

Als Kriterium für die Mädchenlieder als eigene Gattung sind folgende auszuschließen:


1. Das Alter der besungenen Person

Termini wie „frouwe“ oder „maget“ vermitteln dem Leser rasch Bilder von erwachsenen, adligen Dame oder eben gegensätzlich dazu von jungen Mädchen. Allerdings ist fraglich, ob man sich hier nicht voreilig von den Begriffen in die Irre führen lässt (Vgl. Bennewitz und Grafetstätter: „Begehren und Erhören“): In Lied 185 der Carmina Burana beispielsweise wird die besungene Person zunächst als „chint so vol getan“ (etwa: „so hübsches Kind“) beschrieben und dann in einer Apostrophe als „frouwe“ („edle Dame“) betitelt – ähnlich dem Lied 51 Walthers, „Nement, frowe, disen cranz“, in denen von einer „wol getânen maget“ (einer „hübschen Maid“ / einem „hübschen Mädchen“) die Rede ist, der Sänger sie aber direkt anspricht mit „frowe“. Es ist also anzunehmen, dass Begriffe wie „chint“ und „maget“ als Koseworte benutzt wurden, um die zärtlichen Gefühle des Sängers für die Besungene kundzutun. Man kann diese Annahme allerdings weder handfest beweisen noch widerlegen.


2. Der soziale Stand der besungenen Person

Ebenso wenig, wie man anhand der Begriffe „frouwe“ und „maget“ sowie „chint“ eine definitive Aussage bezüglich des Alters der besungenen Person erhält, kann man an ihnen den sozialen Stand der Person festmachen, über die der Sprecher referiert (Bennewitz und Grafetstätter, „Begehren und Erhören“). Möglicherweise wertet der Sänger eine Frau von einfachem sozialem Stand durch die Betitelung „frouwe“ vorsätzlich auf, um ihr zu schmeicheln, oder er vollzieht diese persönliche Adelung, um ihr seine Ehrerbietung entgegenzubringen. Andererseits kann er auch eine edle Dame mit Koseworten wie „maget“ oder „chint“ umschreiben und somit ihre Schönheit anpreisen – womöglich eine kindlich naive, unschuldige Schönheit, die tatsächlicher weiblicher und zarter anmutet als das Bild der machtvollen Damen, die beispielsweise in der französischen Trobadourlyrik oder auch in dem Wechsel des von Kürenberg „Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne“ (Moser/Tervooren: „Minnesangs Frühling“) beschrieben werden (hier wird die Dame als gierige und besitzergreifende Herrin dargestellt, die das Werben eines Minnesängers zu Unrecht auf ihre Person bezieht und ihn unbedingt für sich haben will).


Beispiel:

Anhand einer Textstelle aus Walthers Lied 51 ist die Schwierigkeit der Interpretation der dargestellten Frauenfigur gut zu demonstrieren; die Textpassage lautet: „Si nam, daz ich ir bôt / einem kinde vil gelîch, daz êre hât“, wobei der erste Vers relativ leicht zu übersetzen ist (beispielsweise: „Sie nahm, was ich ihr anbot“). Interessant ist vor allem der folgende Vers „einem kinde vil gelîch […]“, da die mittelhochdeutsche Grammatik erlaubt, ihn auf zwei unterschiedliche Arten zu übersetzen, wobei die semantische Bedeutung dieser beiden Möglichkeiten deutlich voneinander abweicht. Übersetzt man den Vers wie folgt: „[…] einem ehrenhaften jungen Mädchen gleich“, so bedeutet dies, dass die Frau, von der die Rede ist, zwar tatsächlich kein „ehrenhaftes junges Mädchen“ ist, den Sänger aber aufgrund ihrer Reaktion an ein solches erinnert. Möglich ist aber auch die Übersetzung „[…] wie es sich für ein ehrenhaftes junges Mädchen gehört“: Dieser Satz impliziert, dass die Besungene genauso verhält, wie man es von ihr erwarten kann, da die Beschreibung in diesem Kontext sehr wohl auf sie selbst zutrifft. → Es ist also ein schwieriges, wenn nicht sogar unmögliches Unterfangen, aufgrund der vom Sänger verwendeten Termini wie „frouwe“, „maget“ oder „chint“ das Alter oder den sozialen Stand der besungenen Frauen herausfinden zu wollen.


Fazit:

Ein Lied kann der Gattung der Mädchenlieder zugeordnet werden, wenn …

… es nicht der Hohen Minne zugeteilt werden kann (da der Sänger für sein Werben den gewünschten Lohn erhält oder er nur eine begrenzte Zeit lang für eine einzige Frau wirbt und sich dann anderen Frauen zuwendet, weil diese eine sich nicht erkenntlich zeigt)

… es nicht als Kreuzlied eingeordnet werden kann (da sich die Minne auf die Beziehung zwischen zwei Menschen bezieht und nicht zwischen Mensch und Gott)

… es nicht als Frauenlied eingeordnet werden kann (da der Sänger eine Männerrolle innehat, die auf eine weibliche Person referiert)

… es nicht als Tagelied eingeordnet werden kann (da die obligatorische Situation des Morgengrauens und der damit verbundenen schmerzvollen Trennung des Liebespaares nicht vorhanden ist und das Lied generell eher Freude als Wehmut erweckt)

… es weder als Wechsel noch als Dialog eingeordnet werden kann (da keine Rollenwechsel stattfinden und generell nur ein Mann als Sprecher auftritt).

Quellen

1. Ingrid Bennewitz / Andrea Grafetstätter: Gender Studies – Begehren und Hören (2008);S. 141-158

2. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide (2. Auflage, 2005); S. 119-128

3. Horst Brunner / Gerhard Hahn / U. Müller / Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide; Epoche – Werk – Wirkung (2. Auflage, 2009); S. 74-78; S. 100-108

4. Otfrid Ehrismann: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide (1. Auflage, 2008); S. 15-16; S. 90-92