Sigune (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Als Tochter Schoysianes und Kyots ist Gralssippe::Sigune eine Cousine Parzivals und ebenfalls Mitglied der Gralssippe. Im Handlungsverlauf von Wolfram von Eschenbachs Parzival kommt es zu insgesamt vier Begegnungen zwischen Sigune und dem Protagonisten. Diese sind prägend für Parzivals persönliche Entwicklung und stellen Wendepunkte in seinem Leben dar. Eine der Besonderheiten der Figur Sigunes ist, dass Wolfram von Eschenbach im Nachhinein den Titurel verfasste, in welchem ihre Vorgeschichte, vor allem aber die Liebesbeziehung zu Schianatulander, dargestellt wird.

Die vier Sigune-Szenen

Sigune am Felsenhang (Pz. 138,9 – 142,2)

Nach dem tragischen Tod ihres Geliebten Schianatulanders in einer Tjost gegen Orilus hat sich Sigune, ähnlich wie Herzeloyde, in den Wald zurückgezogen, um ein Dasein in Trauer um den Verstorbenen zu fristen. Auf der Suche nach dem Arthushof wird Parzival auf schreckliche Klagerufe aufmerksam, denen er sogleich nachfolgt. Kurze Zeit später trifft er auf Sigune, die wehklagend ihren toten Geliebten im Schoß hält. Die Trauer um den Ritter Schianatulander scheint sie zu überwältigen. Ihre Verzweiflung spiegelt ihre tiefe Liebe wider. Der Tod nahm ihr nicht nur den Geliebten, sondern auch all ihre Hoffnung auf persönliches Glück. Da er in ihrem Dienst sein Leben ließ, klagt sie sich schließlich selbst an.

ich hete kranke sinne, Schwachsinnig war ich,
daz ich im niht minne gap: daß ich ihm nicht Liebe geben wollte!
des hât der sorgen urhap So hat denn der erste Grund allen Leids
mir freude verschrôten: auch mein Glück zerhauen.
nu minne i´n alsô tôten. Jetzt bin ich die Geliebte dieses Toten.

(Pz. 141,20-24)[1]


Diese Selbstvorwürfe Sigunes steigern sich zu Selbsthass, der zerstörerische Züge annimmt:

dâ brach frou Sigûne Da riß die edle Sigûne
ir langen zöpfe brûne ihre langen Zöpfe, die braunen,
vor jâmer ûzer swarten. vor Jammer aus der Kopfhaut

(Pz. 138, 17-19)


Auffällig ist bereits in dieser ersten Szene Sigunes besondere Art der minne und triuwe. Ihre Liebe überdauert den Tod und auf diese Weise wird sie zur „Geliebten des Toten“ (Pz. Übersetzung: 141, 23-24) und sagt wie selbstverständlich: „Nu minne i´n alsô tôten.(Pz. 141, 23-34)" Als Parzival verkündet, den Tod Schianatulanders rächen zu wollen, weist sie ihm die falsche Richtung, weil sie um sein Leben fürchtet und nicht noch einen Toten beklagen möchte, der für sie das Leben ließ. Gleichzeitig verneint sie hiermit auch jede Art von Tröstung und verhindert dadurch die Linderung ihres Leids, sodass sie sich weiterhin völlig dem Schmerz und der Kasteiung hingeben kann. Des Weiteren tritt Sigune als eine Art Wegweiserin in Parzivals Leben und ermöglicht ihm den „ersten Schritt zur Selbsterkenntnis“. [Bumke 2004: S. 58.] Parzival erfährt durch sie nicht nur seinen Namen, sondern auch, dass er aufgrund seiner Herkunft Erbe dreier Königreiche ist.

Sigune auf der Linde (Pz. 249,11 – 255,30)

Als Parzival Sigune das zweite Mal begegnet, erkennt er sie nicht wieder. Da sie das große Leid, den Schmerz um den Geliebten, als von Gott gesandt ansieht (Pz. 252, 20-22), gibt sie sich der Klage um Schianatulander völlig hin und nimmt dafür sogar den Verlust ihrer Schönheit in Kauf. Dieses Verhalten ist Ausdruck der ewigen Treue, welche eine der wichtigsten Charaktereigenschaften Sigunes darstellt. Ihre ewige Treue ist Grund dafür, dass sie das Angebot Parzivals, den einbalsamierten Leichnam zu begraben, ausschlägt. Sie vermag es noch nicht, sich von ihrem Geliebten zu trennen. Bezeichnend ist allerdings, dass sie trotz ihres großen Leids zu enormer Nächstenliebe in der Lage ist. Sie bringt ihr tiefes Mitleid gegenüber dem schwer kranken Anfortas zum Ausdruck und sagt, dass das einzige was ihr noch Freude bereiten könnte, die Erlösung des Gralkönigs von seinem Leid wäre (Pz. 253, 19-21). Dieses Mitleid sowie die Treue und das Leid Sigunes sind zentrale Merkmale der Gralssippe: "Jeder, der zu dieser Sippe gehört, vermag den anderen zu verstehen, obwohl und weil er selbst ein Leidender ist, er vermag gerade darum in innigem Mitgefühl an seinem Leiden teilzunehmen." [Labusch 1959: S. 70.] Als Sigune dann erfährt, dass Parzival es versäumte, Anfortas die erlösende Frage zu stellen, wirft sie ihm fehlendes Mitleid und Feigheit vor und verflucht ihn als ehrlosen Mann ("gunêrter lîp, verfluochet man!" [Pz. 255, 13]). Die vom Leid überwältigte, seelisch erschütterte junge Frau zeigt hier, zu welcher Boshaftigkeit und Stärke sie dennoch in der Lage ist. Gleichzeitig beweist Sigune "durch ihren Fluch ihre echte triuwe [gegenüber dem Gralsgeschlecht], welche sich in Härte und Strenge äußern muss." [Labusch 1959: S. 77.]

Sigune als Klausnerin (Pz. 435,1 – 442,26)

Bei der dritten Begegnung erscheint Sigune als Klausnerin. Die Jahre in Trauer und das asketische Dasein nahmen ihre all ihre Schönheit, sodass Parzival sie anfangs erneut nicht wiedererkennt. Sie hat Schianatulander in der Klause begraben und verbringt seitdem die Tage betend über den Sarg gebeugt. Von nun an verharrt sie in ihrer Trauer und in völliger Hingabe zu Gott. Das Begräbnis könnte Zeichen dafür sein, dass sich Sigune mit dem Tod ihres Geliebten arrangieren konnte. Doch ob sie sich durch die Zuwendung zu Gott die Heilung ihrer Trauer und Trost erhofft, ist fraglich, da sie sich gleichzeitig völlig aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen hat und jedem irdischen Glück entsagt. Mit dieser "'Entweltlichung' Sigunes" [Braunagel 1999: S. 27.] geht auch der Verlust ihrer Schönheit einher, welcher ihren durch die Trauer und das Leid verursachten inneren Verfall widerspiegelt.

ir dicker munt heiz rôt gevar Ihre vollen Lippen, heiß und von roter Farbe,
was dô erblichen unde bleich, waren erblichen und bleich seit damals,
sît werltlîch freude ir gar gesweich. als das Glück der Menschenwelt sie verriet.
ez erleit nie magt sô hôhen pîn: Nie hat ein Mädchen so hohen Schmerz leiden müssen.
durch klage si muoz al eine sîn. Der Klage hingegeben lebt sie in Einsamkeit

(Pz. 435, 26-30)


Auch nach Jahren hält sie fest an der Liebe zu Schianatulander und bleibt ihm über den Tod hinaus treu. Sie fühlt sich schuldig für den Tod Schianatulanders, da sie ihm zu Lebzeiten ihre Liebe nicht gewährte, wobei er um der Liebe Willen für sie starb. (Pz. 436, 1-3). Als Zeichen ihrer Treue trägt sie noch immer den Verlobungsring, der für sie auch vor Gott die Ehe zu Schianatulander besiegelt. Jedoch stellt Sigune dieses Zeichen der ewigen Treue nicht als freie Entscheidung dar. Der Ring stellt für sie eine Fessel ihrer Treue dar, wodurch ihre Trauer fast passive Züge annimmt. Es scheint als nehme sie jedoch in Kauf, dass ihr Leid dadurch kein Ende nimmt.

daz ist ob mîner triwe ein slôz, Er ist eine Fessel meiner Treue
vonme herzen mîner ougen vlôz. und macht, daß mein Herz sich ausgießt mit den Augen.

(Pz. 440, 15-16)


In dieser Szene erfährt der Rezipient von Sigunes direkter Verbindung zum Gral. Sie stammt von dem Gralsgeschlecht ab und wird durch Cundrie vom Gral ernährt. (Pz. 438, 29 - 439, 5) Schließlich vergibt Sigune Parzival, den sie bei ihrer letzten Begegnung verfluchte, und wünscht ihm Gottes helfende Hand auf seinem weiteren Weg. Zuletzt rät sie ihm Cundrie nachzureiten. Hier nimmt sie in der Rolle der Beraterin Einfluss auf den weiteren Weg Parzivals, indem sie ihn bei der Suche nach dem Gral unterstützt.

Sigunes Tod

Auf dem Weg nach Munsalvaesche fragt Parzival die Gralsritter, die ihn begleiten, nach der Klausnerin Sigune. Die temnpleise sagen, sie wohne noch immer dort in dieser Klause. Sie bewundern Sigune darüber hinaus für ihre Treue und geben ihrer Bewunderung Ausdruck, indem sie Sigune als "rehter güete ein arke (eine Arche rechter Güte)" (Prz. 804, 16) bezeichnen. Durch diesen Ausspruch wird deutlich, dass Sigune auf ihr gesamtes Umfeld einen prägenden Eindruck macht und sich als besonders charakterstarke Person auszeichnet. Als Parzival und seine Begleiter daraufhin die Klause aufsuchen, finden sie Sigune tot auf, in kniender Haltung vor dem Sarg ihres Geliebten. „Sigune ist ihrem Geliebten nachgestorben“ [Bumke 2004: S. 120] und findet somit der "sêle ruowe" (Pz. 499, 30). Auf den Befehl Parzivals wird das Grab Schianatulanders aufgebrochen und Sigune neben den Leichnam des Geliebten gelegt. Nun sind die Liebenden im Tode wiedervereint.

Analyse

Es ist auffällig, dass Sigunes Auftreten immer "wichtige Stationen der inneren und äußeren Handlung markiert". [Bumke 2004: S. 212.] Der ersten Szene geht der Tod von Parzivals Mutter voraus, das zweite Treffen findet kurz nach Parzivals Frageversäumnis auf Munsalvaesche statt, der dritten Begegnung folgt die Einkehr bei Trevrizent und bei der vierten Sigune-Szene ist Parzival schließlich Gralkönig. Folglich stehen alle Szenen, in der Sigune auf Parzival trifft, in unmittelbarer Nähe von bedeutenden inneren und äußeren Veränderungen hinsichtlich Parzivals Leben. Sigune erhellt dabei an diesen "neuralgischen Punkten im Handlungsablauf" [Braunagel 1999: S. 6.] stets das Geschehen, indem sie ihrem Cousin entscheidende Hinweise und Informationen bezüglich seiner Identität gibt. Dies entspricht der im Parzival prominenten Technik, das bereits Erzählte nachträglich zu beleuchten. [Bumke 2004: vgl. S. 212.] Gleichzeitig stellen die vier Sigune-Szenen vier Stadien der Trauer und der Selbstzerstörung Sigunes dar. [Heinzle 2011: vgl. S. 924.] Das Schicksal Sigunes und der innere Reifungsprozess Parzivals verlaufen auf diese Weise parallel. [Zmaila 2002: vgl. S. 50.]

Anmerkungen

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

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Forschungsliteratur

[*Braunagel 1999] Braunagel, Robert: Wolframs Sigune: Eine vergleichende Betrachtung der Sigune-Figur und ihrer Ausarbeitung im "Parzival" und "Titurel" des Wolfram von Eschenbach. Göppingen 1999.

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).

[*Heinzle 2011] Heinzle, Joachim (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, Bd. 2, Berlin/New York 2011.

[*Labusch 1959] Labusch, Dietlinde: Studien zu Wolframs Sigune, Frankfurt a.M. 1959.

[*Zmaila 2002] Zmaila, Anders Till: Sigunes Schuld. Eine Interpretation der Sigunedichtung Wolframs von Eschenbach im Kontext seines Gesamtwerks, Freiburg im Breisgau 2002.