Der Gregorius-Prolog (nach Rainer Zäck)
Zusammenfassung
Im Rahmen seiner Studie zu Deutungsmodellen des 'guten Sünders' bei Hartmann von Aue und Arnold von Lübeck analysiert Rainer Zäck die rhetorische Struktur und das theologische Programm des Gregorius-Prologs. Zäck gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass im Prolog zeitgenössische Formen von Buße und Sünde dem Leser vermittelt werden sollen. Dabei ist es wichtig das Verhältnis zwischen Erzähler und dem Erzählten zu interpretieren.
Sachinformationen zum Prolog
Für das Verständnis der Argumentation Zäcks sind verschiedene Begriffe von Bedeutung, welche hier erläutert werden.
"Attritio cordis" kann wörtlich mit "Abreibung/Zerknirschung des Herzens übersetzt werden und beschreibt die von Herzen empfundene Reue eines Sünders. Diese innere Einstellung ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Buße. So erfahren wir im Prolog, dass noch keiner Person ihre Sünde nicht vergeben wurde "ob si von herzen riuwet und si niht wider niuwet"[1]. Attritio cordis ist demnach ebenso unerlässlich wie die Abwendung von der erneuten Begehung der Sünde.
Eine recht gegensätzliche Reaktion auf eine Sünde kann als "desperatio" (="Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit") bezeichnet werden. Der Betroffene hält seine Schuld für so groß, dass eine Begnadigung durch Gott ihm unmöglich erscheint. Dieser Urzweifel an der Barmherzigkeit Gottes wird im Prolog des Gregorius als "mortgalle" beschrieben, "den niemand mac gesüezen"[2].
Ein weiterer zentraler Begriff, "Superbia", bezeichnet den Hochmut und die Selbstüberschätzung des Sünders. Eine besondere Form ist hierbei "Praesumptio". Dieser Ausdruck kann sowohl mit "vorgezogener Genuß" als auch mit "Erwartung" übersetzt werden.Der Betroffene vertraut hierbei darauf, seine Sünden auch zu einem späteren Zeitpunkt noch büßen zu können. Die Buße wird somit willentlich aufgeschoben. Diese allzu hochmütige und vermessene Einstellung erfolgt entweder aus Bequemlichkeit oder aber aus jugendlichem Leichtsinn. Auch im Prolog des Gregorius ist von dieser Haltung die Rede. Sie wird demnach dem Sünder spätestens dann vergehen, wenn "der bitterlîche tôt den vürgedanc richet" [3] und ihm mit einem unerwartetem Ende seines Lebens die Möglichkeit der Buße nimmt.
Argumentation
Laut Hartmann von Aue existieren drei verschiedengewichtige Arten der Sünde. Der Autor differenziert zwischen dem „leichtfertigen Vertrauen auf [sein] das jugendliche[s] Alter“[1], welches damit einhergeht, dass die Buße bis zum letztmöglichen Termin aufgeschoben werden. Das kann bei einem „plötzlichen Tod“[2] verheerend sein, denn die „êhafte nôt“[3] kann dem Leben ganz schnell ein Ende bereiten und man bezahlt das „êwige leben“[4] für den „êwigen tôt“[5]. Die Unbußfertigkeit ist als eine Warnung vor der praesumptio, einer vermessenen Gnadenerwartung, zu verstehen[6] und gilt als die schwerste aller Sünden, da die Folgen irreversibel sind. Hierbei ist wiederum zu „unterscheiden zwischen dem bewußten vermessenen Rechnen auf die göttliche Gnade und dem gedankenlosen Weitersündigen.“[7] Denn die Zuversicht eines langen Lebens[8] hindert die Absicht, Buße zu tun daran, Wirklichkeit zu werden. Weniger stark gewichtig ist dagegen die Sünde des „zwîvel“, die damit einhergeht, dass man an der Vergebung der starken „schulde“[9] zweifelt und somit an der göttlichen Gnade verzweifelt[10]. Wenn der Sündiger den „zwîvel lâze“[11], ist nach wie vor noch nicht gewährleistet, dass seine Sünden vergeben werden, denn wenn er „sich […] bedenket houbethafter missetât“[12] und annimmt, dass diese zu gravierend sind, als dass Gott sie vergeben könnte, befindet er sich abermals auf dünnem Eis, denn „verzwîfelt er an gote […] sô hât der zwîvel im benomen, den wuocher der riuwe.“[13]. Die am leichtesten entschuldbare Sünde entspricht derjenigen, nach einer „missetat“ keine Reue zu empfinden, diese kann ganz einfach dadurch ausgemerzt werden, indem man „von herzen riuwet und si niht wider niuwet.“[14]. In diesem Fall führt die „erbarmekeit“[15] Gottes zur Vergebung der Sünden.
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- ↑ Rainer Zäck: Der guote Sündaere und der Peccator Precepuus, Göppingen 1989, S. 46
- ↑ Ebd.
- ↑ Hartmann von Aue: Gregorius, Stuttgart 2011, V.19
- ↑ Ebd., V. 32
- ↑ Ebd., V. 86
- ↑ Vgl. Zäck, Göppingen 1989, S. 47
- ↑ Ebd., S. 48
- ↑ Ebd., S. 49
- ↑ Aue, Stuttgart 2011, V. 52
- ↑ Vgl. Zäck, Göppingen 1989, S. 47
- ↑ Aue, Stuttgart 2011, V. 64
- ↑ Ebd., V. 66 f
- ↑ Ebd., V. 70 bzw. 74 f
- ↑ Ebd., V. 49 f
- ↑ Ebd., V. 111
Kritik
Fazit
Was bezweckt Hartmann also mit seinem Prolog? Lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Erzähler- oder gar Autorfigur ziehen?
Eine eindeutige Antwort wird es wohl nicht geben. Es liegt nahe, anzunehmen, dass der Erzähler sein theologisches Programm als solches nur benutzte, um etwa die richtige Erwartungshaltung beim Publikum für den darauffolgenden Stoff zu evozieren. Insgesamt wirkt die Erzählerfigur - wie fingiert oder "autornah" auch immer - auf den Rezipienten als Advokat und Propagandist eines theoretischen Systems. Demgegenüber deutet eine weniger kritische Lesart des Prologs darauf hin, diesen bloß als eine Art Erfahrungsbericht des Autors zu sehen: Der Autor-Erzähler hat aus seinen Fehlern gelernt ("nû weiz ich daz wol vür wâr"[1]). Als Vermittlerfigur ("Durch daz wære ich gerne bereit / ze sprechenne die wârheit"[2]) bietet er so dem Rezipienten Hilfe zur Selbsthilfe an, ruft zur Umkehr vom "wec der helle"[3] auf - und erleichtert im Prozess des Niederschreibens der Geschichte zugleich die eigene Sündenlast, als aktive Bußtat.