Das Paradoxon der Gewalt im Parzival
Die adelige Welt im Parzival definiert sich zum Teil über eine bestimmte Gewaltauslebung, über einen Ritterethos, der sich zwangsläufig gegen sich selber richtet. Die zentralen Dynastien von Anfortas und Artus bleiben ohne Nachkommen und belegen so einen nicht individuellen, sondern symptomatischen "krisenhaften" Zustand der Männerwelt. Wie kommt es nun zu diesem Paradoxon der Gewalt?
Parzival- ein Sippenroman?
sîniu kint, sin hôch geslehte hân ich iu benennet rehte, Parzivâls, den ich hân brâht dar San doch saelde het erdâht (827,15-18)[1] Mit diesen Worten des Dichters aus dem 16. Buch wird wird deutlich, dass nicht nur Parzival im Mittelpunkt dieses Werkes steht, sondern auch sîn hôch geslehte hân (827, 15f.). Auch der Aufbau von Wolframs Werk verweist die Hauptfigur mit nur ca. 50% der Erzählungen auf einen zumindest gleichberechtigten Platz neben die Sippe. Sowohl die Episoden über Gahmuret als auch über Gawan lenken lange Zeit die Geschicke des Buches, hinter die Parzival mit seinem Schicksal temporär zurücktreten muss. Damit wird deutlich, dass die Dynastie im Parzival eine übergeordnete Rolle spielen muss, was Peter Czerwinski zu der Bezeichnung des Sippenromans in Bezug auf den Parzival führt. Vor allem die Gawan-Bücher und die Erweiterung des âventuire-Schemas, durch Parzivals größere Defizite in Mindestausstattung adeliger Konstituenten, Ausbildung im Kampf und höfischem Ritual als beispielsweise andere Heroen der Zeit, wie Eric oder Iwein, machen die epische Erzählung […] zur reinen Verkörperung genealogischer Wahrnehmung, einer Wahrnehmung, die vollständig von Denkfiguren einer Identität im dynastischen Verband geprägt ist.[Czerwinski 1998: 135] Damit geht Czerwinski nicht von einem individuellen personellen Subjekt als Zentrum der Handlung aus, dass sich im Parzival manifestiert, sondern episches Subjekt ist demnach die Dynastie, repräsentiert durch ihre temporär auftretenden Mitglieder Pazival, Gawan und Gahmuret. Damit konstituiert sich die Einheit des epischen Romas über den "Körper der Dynastie" und nicht über spezielle Themen- und Problemkomplexe, wodurch der parataktische Aufbau des epischen Geschehens erklärt ist.[Czerwinski 1998: 136f.] Wie oben festgestellt, steht die Dynastie im Zentrum des epischen Werkes und so bietet sich an einen Blick auf ihren krisenhaften Zustand an, der sich an der ungeregelten Nachfolge der beiden großen Herrschaftsgeschlechter zeigt.
Die Krise der adeligen Männerwelt an drei Beispielen
Das feudaladelige Selbstverständnis Gahmurets
Einem der wichtigsten Aspekt einer Dynastie Rechnung tragend, Kontinuität durch legitime Nachfolge, beginnt Wolframs episches Werk mit den Tod des König Gandin. Ganz nach den Gesetzen der "Primogenitur" befiehlt König Gandin,"[…] daz der altest Bruder solle hân sîns Vater ganzen erbeteil"(5, 4f.). Durch diese Erbregelung wird schon ein deutliches Spannungsfeld in der Dynastie offenbart. [2] Die adelige Familie, die auf die "Produktion" mehrerer Nachfolger angelegt ist, kann nur dem ältesten Sohn im Todesfalle ein Erbe anbieten, die jüngeren Brüder bleiben ohne festumrissene Funktion und seigneuriale Autorität. So offenbart sich eine sichtliche Spannung im Sippengefüge, die dazu führt, dass viele Söhne, wie auch Gahmuret ihr Glück in der Ferne: "[…] ich will kêren in dui lant." (8, 8) suchen, um Ruhm und Ehre im Kampf und in der Minne zu erlangen, da allein diese heroische Lebensform, den Verlust der Herrschaftsposition zu überbrücken vermag. [Brall 1983: 163] Die politische, ökonomische und psychologische Mangelsituation der "Nachgeborenen" muss zwangsläufig zu einer sozialen Bindungslosigkeit führen, die schwelenden Unzufriedenheit und Aggressivität der Iuvens inidziert, die sich in den zahlreichen nicht-sesshaften Rittern manifestiert, deren Leben aus Kampf um Ehre und Ruhm besteht, Güter des Ritterethos, die sie auf andere Weise nicht erlangen können. [Brall 1983: 130f.; 136f.] Obwohl die Primogenitur in der adeligen Werte- und Rechtsordnung etabliert ist, verweist Wolfram auf ihre inhärente Problematik: „[…] daz ist ein wârheit sunder wân […]“ (5, 3); daz was der jungern unheil, daz in der tôt die pflihte brach […]“ (5, 6f.); „[…] daz ist ein fremdiu zeche.“ (5,21). Anders als die folgenden Könige Anfortas und Artus hat Gahmuret kein genealogisches Defizit, zeugt er doch zwei Söhne, die ihm in die Position eines Sippenoberhauptes folgen. Allerdings manifestiert sich in der Figur von Parzivals und Feirefiz Vater auf andere Art und Weise der krisenhafte Zustand der adeligen Männerwelt. Als junger Ritter ohne Land, maßgeblichen Einfluss und Ruhm ausgezogen in die Ferne, gelingt es Gahmuret durch seine kämpferischen Aktivitäten letztendlich zwei Königinnen, mehrere Länder und den Thron seines Heimatlandes zu erringen. Auffällig gestaltet sich die Verbindung zwischen Gahmuret und Herzeloyde, die sich als Kampf der Geschlechter interpretieren lässt, insofern Gahmuret sich nur widerwillig zur Ehe entschließt. (94, 5 ff. / 95, 20-23 / 96 23- 30) Sinnbildlich erscheint dieser „Minnekampf“ als „Zähmung des Falken“, die letztendlich doch am Freiheitsbedürfnis Gahmurets scheitern muss und so die domestizierende Kraft der minne ,nicht kategorisch, aber zumindest individuell verneint.[Brall 1983: 121ff.] So verbleibt er entgegen der adeligen Tradition in seiner Rolle als fahrender Turnier- und Soldritter, übernimmt niemals im gleichen Maße die Herrscherfunktion über seine Territorien, wie es Anfortas oder Artus tun ( 54, 17-20 / 96, 25-30). Damit ignoriert Gahmuret seine dynastischen Pflichten, die er durch seine Ehen und Territorialzuwachse auferlegt bekommen hat. So werden im ersten Abschnitt der epischen Konstruktion herrschaftlichen und genossenschaftlichen Elemente als Prinzipien des Zusammenhaltes und der Kontinuität des dynastischen Verbandes zweimal verneint - durch den Enterbung Gahmurets und durch seinen Unwillen als dynastisches Oberhaupt zu fungieren. Das heroische Ritterideal verliert durch diese Transformation seine Glaubwürdigkeit und versetzt so Gahmurets gesamten Sippenkörper einen harten Schlag; stürzt er doch seine Frauen in tiefes Leid, lässt seine Söhne vaterlos aufwachsen und offenbart die Schutzlosigkeit seiner Gebiete.[Brall 1983: 113; 126; 193] In der Figur des Gahmuret kommt ein Paradoxen zum Vorschein, dass in ähnlicher Weise bezeichnend ist für die gesamte adelige Männerwelt. Ihm ist es nicht möglich die Rolle des aggressiv-verwegenen, ungebundenem Minneritters, zugunsten des verantwortungsvollen Sippenoberhauptes abzulegen. [3], obwohl er in die erstere Rolle nur schlüpfen musste, weil ihm dynastischen Verpflichtungen verwehrt blieben. Die Satisfaktion des Auslösers seines Strebens nach Ruhm und Ehre, führt nicht zu einer Befriedung seiner Existenz als Ritter. Somit wird deutlich, dass Gahmurets feudalaristokratische Selbstverwirklichung, mit ihrem spezifischen Kodex, indem vor allem Gewalt eine tragende Rolle spielt, sich vor die Identität im dynastischen Verband schiebt und so unvereinbar mit der Restitution herrschaftlich- dynastischer Kontinuität erscheint. [Brall 1983: 193] Gahmuret bleibt in einer Identität behaftet, die bestimmt ist von einer individuellen Körper-Kollektivität. Ein Identitätswechsel hin zu einer Realabstarktion, im reflexiven Körper einer Dynastie vollzieht sich an ihm nicht und so stirbt er in der Ferne, wo seine zwei konkurrierenden Identitätsräume keine bedeutenden Rolle spielen.
Das Stigma des Anfortas
Das Titurel- Geschlecht ist anders als bei Gahmuret direkt von einem signifikanten Bruch in seiner Herrschaftskontinuität betroffen. Durch Anfortas fundamentalem Vergehen werden seine Geschlechtsorgane verletzt und diese Verwundung steht emblematisch für die „Kastration“ der gesamten Gralsgesellschaft . (479, 8-11)Mit der Hoffnung auf einen legitimen Nachfolgers schwindet auch die Macht des Titurel-Geschlechts, wie Trevrizent offenlegt: „[…] des edelen ardes hêrschaft was komen an sô swache kraft.“ (481, 3f.) Für eine Dynastie spielen zwei wichtige Faktoren eine Rolle: Macht und Mittel der Herrschaftsausübung und die Sicherung der Herrschaft durch […] partilineare Sukzession. Aber wo liegt sie Ursache für den Bruch der durch die gesamte Gralsgesellschaft geht? [Neudeck 1994: 55f.] Die Wunde des Anfortas ergibt sich aus seinem Verstoß gegen das göttliche Gesetz des Grals .
Original | Übersetzung |
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swelch grâles hêrre ab minne gert
anders dan diu schrift in wert, der muoz es komen ze arbeit und in siufzebaeriu herzeleit.
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Wenn aber der Herr des Grâls Verlangen hat nach einer Liebe,
die ihm nicht jene Schrift ausdrücklich erlaubt hat, dann muß ihm das Kummer bringen und Seufzen und Schmerzen (478, 13-16) |
Anfortas Verletzung an den Schamteilen, […], spiegelt in deutlicher Analogie zum mittelalterlichen Strafrechtdenken den Charakter seiner Verfehlung. […] Anfortas’ Leid ist Strafe für seinen leichtfertigen Verstoß gegen die Ordnung der auserwählten Sippe der Gralshüter. [Brall 1983: 286f.]Das Ausmaß der Verfehlung Anfortas’ verdeutlich sich an der Paralyse der Bewohner von Munsalvaesche, die unter dem Heilsverlust ihrer Sippe verzweifeln.(227, 14ff / 228, 26 / 229, 17) Ähnlich wie bei Gahmuret erliegt Anfortas dem typischen Ritterideal, dem Kampf und Herz und Hand einer adeligen Dame. Für den „normalen fahrenden“ Ritter fast schon ein Grundsatz, ist es Anfortas allerdings als Gralskönig verboten eine Frau frei zu wählen und als Ritter für sie in den Kampf zu ziehen. Er unterliegt also seiner Triebhaftigkeit, die durch den Ritterethos in kanalisierter Weise gefördert wird und verliert dadurch die elementaren Grundlagen seiner eigenen Legitimität und herrscherlichen Idoneität. Seine Identität als Ritter schiebt sich vor seine Identität als Gralshüter. Diese Verschiebung wird im Roman stärker geahndet als bei Gahmuret. So muss Parzivals Vater aufgrund seiner Verfehlung einen frühen Tod sterben und scheidet so aus der adeligen Welt aus, wenn auch mit drastischen Folgen für seine Sippe. Doch Anfortas’ Vergehen wiegt umso schwerer, als dass die Konsequenzen gottgewollt und unumkehrbar erscheinen. (481, 18; 484, 8) Denn sein Vergehen steht im Konflikt mit den heiligen Gesetzen des Grals, die eigentlich als Ordnungs- und Rechtssystem feststehen sollten. Dass er als oberster Gralshüter gegen sein eigenes Gesetzt verstößt offenbart erneut das Paradoxon der Adelswelt. Die Affektivität der ritterlichen Gesellschaft richtet sich gegen sich selber und offenbart die Effektlosigkeit ihrer eigenen Regelsysteme und die Agonie der ideellen Grundlagen adeliger Herrschaft- dem Gesellschaftsmodell des aristokratischen Familienverbandes. Stand doch die Gralsgesellschaft vor ihrem Fall für ein […] Modell einer genealogischen und genossenschaftlich organisierten adeligen Führungselite, die in althergebrachte Nobilitätsvorstellungen lebt und sich als Bewahrer dynastischer und charismatischer Traditionen versteht, einer Elite, die seit jeher zur Wahrung von Recht und zur Ausübung legitimer Herrschaft befähigt und berufen ist.“ [Brall 1983: 287] [Weber 1764: 671]
Das dynastische Defizit am Artushof
Anders als Anfortas zeugte Artus einen Sohn, der allerdings im Minnekampf um eine Dame starb. Auch scheint der bretonische König nicht direkt für den Bruch in seiner Herrschaftskontinuität verantwortlich zu sein, vielmehr scheinen auf den ersten Blick äußere Faktoren für die Schwäche seines Sippenkörpers verantwortlich zu sein. Durch einen Ehebruch seitens Clinschor mit der Königin von Sizilien kommt es zu seiner Kastration durch ihren Ehemann. Zutiefst körperlich und seelisch verletzt, […] schafft er mit Schastel marveile gleichsam ein steingewordenes Symbol der Aufhebung der Minne: er setzt dort Frauen und Männer gefangen [Neudeck 1994: 58] reißt […] Familien auseinander unterbindet Liebe und schafft einen Zustand vollständiger gesellschaftlicher Unfruchtbarkeit. [Bumke 1991: S. 114] Das Artusgeschlecht verliert dadurch Artus Mutter Arnive, deren Tochter Sangive, die Mutter von Gawan und ihre Schwestern Itonje und Cundrie büßt so erheblich an Stärke ein. Diese von Außen beeinflusste Schwäche des Artusgeschlecht korrespondiert allerdings mit einem inneren Manko der Artusgesellschaft, die sich in einem fast schon anarchistischen Zustand befindet. Einerseits schlägt der Seneschall Keie eine höfische Dame, obwohl seine Funktion in der Wahrung der Hofzucht liegt;
Original | Übersetzung |
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do erlachte ir minneclîcher mut.
des wart ir rükke ungesund. Dô nam Keye scheneschlant froun Cunnewâre de Lâlant mit ir reide hâre: ir lange zöpfe clâre die want er umber sîne hant, er spancte se âne türbant. ir rüke wart kein eit gestabt: doch wart ein stap sô dran gehabt, unz daz sîn siusen gar verswanc, durch die wânt unt durch ir vel ez dranc.
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Da kam ihr ein Lachen über den süßen Mund.
Das aber trug ihr Rückenschmerzen ein. Es packte nämliche Keye, der Senegal, die edle Cunnewâre de Lâlant bei den Lockenhaaren ihre Zöpfe, die klaren wickelte er fest um seine Hand: So war sie solide angehängt, und das ohne eiserne Beschläge Obwohl ihr Rücken keinen Eid zu leisten hatte, kam er doch in heftige Berührungen mit dem Richterstab, der auf sie niedersauste, bis er ganz zerschlissen war. Die Hiebe drangen durch das Kleid und durch ihre Haut.
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andererseits wird Artus Legitimität durch seinen Vetter Ither in Frage gestellt.
Original | Übersetzung |
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junchêrre, got lôn iu unt ir,'
sprach Artûses bauen sun. den zôch Utepandragûn: auch sprach der selbe wîgant ereschaft ze Bertâne ûfez lant. ez was Ithêr von Gahevienz: den rôten rîter man in hiez.
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Junger Herr, Gott lohne es euch und ihr,
sprach der Sohn von des Artûs Vaterschwester, der war im Haus des Utepandragûn erzogen worden. Und der Held hatte Anspruch erhoben auf die Herrschaft im Land Bertâe, er sei der rechte Erbe. Es war Ithêr von Gaheviez, den nannte man den Roten Ritter. (145, 10-16) |
Der Artushof erscheint hier entgegen seiner Gattungstradition, als Zerrbild seiner selbst und ähnlich wie bei der Gralsgesellschaft wird seine Funktion als Wertezentrum deutlich diskreditiert. Dies weist auf eine Entzauberung der Artuswelt hin, „Stück für Stück wird sie ihrer ästhetisch-überhöhten Aura entkleidet, der exklusive Rahmen ihrer Welt wird durchbrochen, die Figuren ihrer mythischen Unfaßbarkeit beraubt und in lebensgeschichtlichen, in menschlich-alltäglichen Situationen gesehen." [Brall 1983: 200] Zu erklären ist diese innere Schwäche nur mit dem Versagen Artus, dem es nicht gelingt den Sippenkörper, durch die Rettung der engsten weiblichen Angehörigen, zu heilen. Im gleichen Maße, wie Anfortas Geschlecht unter dem Versagen seiner männlichen Mitglieder leidet, wird die Artusgesellschaft durch den Verschluss und die Isolation ihrer weiblichen Mitglieder geschwächt.[Neudeck 1994: 59] In Analogie zu dem defizitären Zustand der männlichen Mitglieder der Gralsgesellschaft zeigt sich das Versagen der Männer des Artushof ebenfalls in einem gestörten Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Ein generationsübergreifender Blick zeigt, dass schon Artus Vater Utepandragun sich eines Frevels schuldig macht. Während eines Turnieres wird seine Frau und Artus Mutter entführt. Artus versucht, wenn auch vergeblich den Entführer zu stoppen, sein Vater jedoch tjostet einfach weiter, ohne sichtbare Reaktion auf den Verlust. (66, 1-6 / 74, 5-12) Jahre später erkennt Artus dann seine eigene Mutter nicht wieder und reagiert bei Erzählungen über gefangene Königinnen auf Schastel marveile nicht einmal. (672, 7-14) Weiterhin richtet sich der König auch direkt gegen den eigenen Sippenkörper, indem er Parzival zu Ither schickt obwohl er um die Möglichkeit eines tödlichen Ausganges des Kampfes weiß. Hier gibt sich aber nicht nur eine moralische Normwidrigkeit, sondern auch eine reale Schädigung des Sippenverbandes, da sein soziale und physische Geltung vermindert wird. [Czerwinski 1989: 151] Dass Artus dieses Problem nicht im Sinne des höfischen Wertesystems löst, wird an Königin Ginovers Klage deutlich:
Original | Übersetzung |
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'ôwê unde heiâ hei,
Artûss Werbezeit enzwei sol brechen noch diz wunder,
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Weh und noch einmal weh,
ungeheuerlich ist es zugegangen und moströs, davon muss das königliche Heil des Arts zerbrechen.
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Damit diskreditiert Artus seine Funktion als Friedenstifter und wiederholt das Paradoxon, dass gerade die Bewahrer und damit obersten Repräsentanten der höfischen Normensysteme, die Regelwerke und damit sich selbst korrumpieren. [Neudeck 1994: 60f.] „All dies verweist auf ein Versagen, das im Frevel gegen das eigene Geschlecht, in der Schädigung des Sippenkörpers durch ihr Oberhaupt Artus kulminiert.“ [Neudeck 1994: 61]
Die Normhorizonte und ihre Korrumpierung
Die Oberhäupter der beiden großen Sippen im Parzival haben neben ihren exekutiven Aufgaben auch „legislative Macht“. Sie sind gleichzeitig Repräsentanten und Garanten der Ordnungs- und Regelsysteme der adeligen Welt. Dieser Normhorizont konstituiert sich aus dem Gralsgesetz und dem ritterlich-höfischen Wertesystem der Tafelrunde. Doch worin liegt die Funktion dieser übergeordneten, an bestimmte Sippen gebundenen, Regelwerke? Sie dienen der Domestizierung des dem Adel inhärenten Aggressionspotenzials und seiner affektiven Willkür. Ihre Bindung an mächtige Dynastien soll die Angehörigen der Adelswelt zum Befolgen der Normhorizonte zwingen. Hinter diesem Bild werden die Vergehen von Anfortas, Artus und letztendlich auch Gahmurets deutlich. Anfortas Vergehen gegen das Gralsgesetzt definiert sich damit zu einem Delikt gegen eine Institution, die die sexuelle Willkür des affektiv handelnden adeligen Mannes mäßigt. Artus hingegen verstößt gegen die gesetzten Konfliktbewältigungsstrategien seiner Gesellschaft. Die Gewaltbereitschaft, die der König selbst und einige seiner Untertanen offenbaren, steht außerhalb des ritterlich-höfischen Wertesystems und sollte eigentlich durch eben dieses befriedet sein. Gahmuret verstößt hingegen nur indirekt gegen die Regelsysteme, indem es ihm nicht gelingt seine Ritteridentität zu Gunsten seines Sippenverbandes abzulegen. Als Oberhaupt seiner Dynastie und Beherrscher seiner Länder sollte er allerdings die Normhorizonte etablieren und durchsetzten, um eine Pazifizierung an seinen Untertanen zu vollziehen. Da diese Befriedung aber nicht einmal an seiner eigenen Person stattfindet, ist es ihm unmöglich die Rolle eines Sippenoberhauptes anzunehmen und die daraus folgenden Funktionen zu erfüllen. Die drei Hauptfiguren, sollten also eigentlich als Garanten der Ordnungssysteme, diese beschützen, doch sie untergraben vielmehr ihre normsetzende Kraft auf unterschiedliche Weise. Wie oben belegt, müssen die Sanktionen nicht nur das Individuum treffen sondern, sie bedrohen folgerichtig immer den ganzen Sippenkörper. [Neudeck 1994: 61f.]
Auswege aus der Gewalt?
Das Pazifizierungswerk des Gawan
Erst Gawan gelingt mit der „Eroberung“ der Burg Schastel marveile die Reintegration der weiblichen Mitglieder in die Artussippe und restituiert diese so. Anders als sein Sippenführer löst er Konflikte immer wieder in den Grenzen des Kodex der Tafelrunde und muss dabei nicht auf gewaltsame Strategien zurückzugreifen. Vielmehr gelingt es ihm die Aggressivität und Gewaltbereitschaft der adeligen Welt durch die Institution der Ehe zu befrieden. So gipfelt sein Zweikampf mit dem König Gamoflanz in einer Massenhochzeit, die zu einer weitführenden Versippung ehemaliger Feinde führt. [4] (729,1- 73,1) Gawan beweist also, dass das Befolgen des Wertesystems der Tafelrunde in Verbindung mit der Institution der Ehe durchaus, die Gewalt und ihre Auslebung zu Gunsten einer friedvollen Versippung eindämmen kann. [Neudeck 1994: 59f.]
Die "wahre Minne" des Parzival
Genau wie Gawan scheint, es Parzival zu gelingen, sich aus dem Kreislauf der unkalkulierbaren Affektivität der adeligen Welt zu befreien. Anders als nämlich sein Onkel Anfortas verneint er den Minnedienst für Orgeluse und durchbricht damit den Kreislauf der instrumentalisierten Minne, den die „femme fatale“ um sich er herum aufgebaut hat. (619, 1-13) Durch seine Minne-Ehe mit Condwiramus, die sich durch kontinuierliche, unzerstörbare triuwe determiniert, wird der ungezügelte Gemütszustand Parzivals kanalisiert und sein Denken und Handeln von der Maxime dieser Bindung gesteuert. [Bertau 1983: 55] Hier entsteht der entscheidende Bruch zu seinem Onkel und Vorgänger Anfortas, indem Parzival gemäß den Gralsgesetzen, die Synthese von Minne und Gralswürde gelingt. Dass Parzival sich vor dem Gral durch seine vorbildliche „triuwe“ bewährt hat, wird nicht nur durch seine Ernennung zum Gralskönig deutlich, sondern auch durch Trevrizents Worte zu seiner Ehe:
Original | Übersetzung |
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wert ir erfundn an rehter ê,
iu mac zer helle werden wê, diu nôt sol schiere ein ende hân, und wert von bandn aldâ verlân mit der gotes helfe al sunder twâl.
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Wenn ihr dereinst in rechter Ehe erfunden werdet,
so wird – denn es kann sein, dass ihr dann gerade in der Hölle weint- die Not sehr schnell ein Ende haben, und ihr werdet auf der Stelle und sofort von Fesseln frei durch Gottes Hilfe. (468, 5-9) |
Damit manifestiert sich abermals die Erkenntnis, dass eine auf Treue basierende Minne-Ehe, die Affektivität der adeligen Männer in geregelte Bahnen lenken kann und diese so befriedet wird. [Neudeck 1994: 58f.]
Fazit
Auf den ersten Blick scheint Wolfram mit den beiden größten Rittern ihrer Generation das Paradoxon der Gewalt aufgelöst zu haben, vollziehen sie doch ein großläufiges Pazifizierungswerk, welches sich in der Genesung beider Großdynastien manifestiert. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings klar, dass nur die Symptome des Gewaltparadoxons behoben wurden, allerdings nicht die Auslöser, die in der adeligen Identität selbst liegen. Diese konstituiert sich aus dem Gewaltmonopol einer Elite, welches sich zwangsläufig immer gegen sich selbst richten muss. Genauer bedeutet dies im Roman, dass […] die êre des adeligen Mannes [sich im Kampf konstituiert], das heißt in der Gewaltanwendung. [Neudeck 1994: 65f.] Wie oben gezeigt, bietet eine fortschreitenden Versippung eine Möglichkeit den gewalttätigen Aktionismus einzudämmen. Allerdings ersetzt Verwandtschaft nicht Ehre und Ruhm, Werte, die sich erst durch männliche Jagd nach strîte und minne entfalten. Die Disposition des dynastischen Verbandes scheint sich also wechselseitig zu gestalten. So dämmt sie durch ihre spezifischen Eigenschaften die Anarchie der ritterlichen Gesellschaft, mittels Konnexe auf Basis von triuwe, ein, gleichzeitig verstärkt sie diese, in dem Sinne, dass der Heroe einen Gewinn für den Verband darstellen muss, realisiert durch Reichtum und Reputation.[Czerwinski 1989: 156]
Es zeigt sich in den Figuren der Sigune und des Trevrizent, dass ein vollkommener Rückzug aus der adeligen Welt durchaus möglich ist, allerdings ist es unmöglich einer gesamten Gesellschaftsschicht die Waffen zu entziehen, durch die sie sich definieren, ohne eine signifikante Formlosigkeit und Identitätslosigkeit einer gesellschaftlichen Schicht zu provozieren. [Neudeck 1994: 65f.] Damit offenbart sich in letzter Konsequenz, dass das Paradoxon der Gewalt in der literarischen Darstellung, anders als in der Realität (FUßNOTE ZU BILDUNG DER TERRITORIALSTAATEN), nicht lösbar ist. Das beweist nicht zuletzt die Systematik der Gralsgesellschaft, eines theoretischen Entwurfes einer geistlich orientierten Kriegergesellschaft, als „utopisches Gegenmodell, welches sich in höchster Instanz auf Gott beruft, entworfen. So ist es ihren Mitgliedern nicht erlaubt, unterlegenen Rittern im Kampf Gnade zukommen zu lassen – ein Beweis für die letalen Gesetzte des Grals. Selbst in diesem modellhaften Idealentwurf einer auf Gott gerichteten Adelsgesellschaft, wie sie in der Forschung oft bezeichnet wurde, ist es nicht möglich der, dem ritterlichen Handeln inhärenten, Gewalt und ihrer selbstzerstörerischen Induktion zu entkommen.
Auch die reglementierenden Ordnungssysteme der adeligen Welt scheitern, durch die Fauxpas, der sie repräsentierenden Sippenoberhäupter. „Die Krise der beiden adeligen Großsippen indiziert dabei, daß Gewalt in einer Gesellschaft, die sich durch Gewalt definiert, prinzipiell nicht domestizierbar ist. [Neudeck 1994: 74]
Da eine Kanalisierung des Gewaltproblems scheitert, vollführt Wolfram eine Transzendierung des Paradoxons. Direkt stoppt Gott Parzivals Angriff auf seinen Bruder, indem er sein Schwert zerbrechen lässt und indirekt, durch Trevrizent aufgedeckt, offenbart sich, dass Gott mit der gesamten Menschheit verwandt ist. (465, 1-10) Damit artikuliert die Sippe sich, definiert als konkret erfahrene Verwandtschaft auf der Basis von triuwe, als ein Theologoumenon.[Bertau 1983:49] Folgerichtig wird die Sippe damit sakralisiert und das Pazifizierungsgebot zum göttlichen Gebot stilisiert. Damit beweist Wolfram, den Taten seiner beiden Helden zustimmend, dass Verwandtschaft Frieden schafft, allerdings nur […] wenn sie durch die schützende Rüstung des Ritters hindurch erkannt wird. [Neudeck 1994: 75]
Anmerkungen
- ↑ Im Folgenden stets zitierte Ausgabe: [Parzival].
- ↑ Brall erklärt genauer wie die Erbrechte sich definierten und wie ihre Verbreitung sich gestaltet: [Brall 1983] S. 131-137 .
- ↑ Damit verstößt Wolfram gegen ein gattungskonstitutives Schema des höfischen Aventiureromas, indem er seinen Helden nicht den Dreierschritt von Integration- Desintegration- Reintegration in das Zentrum der höfischen Gesellschaft gehen lässt; vielmehr endet sein Weg in einer erneuten Desintegration: [Brall 1983: 177] .
- ↑ Brall spricht hier von einem Übergang der Ordnung des Artushofes in die Ordnung der Sippe und einer damit einher gehenden Aufhebung des Artusideals. Es kommt zu einer Rückführung des für den Artusroman konstitutiven Gemeinschaftsideals der familia von „gleichen“ Individuen in den gegliederten Personenverband. Die Versöhnungen und die friedensstiftenden Vermählungen beweisen die Rückkehr zu den Normen und der Institution der aristokratischen Familie. Damit wird der Hof als zentrale Vergesellschaftungsmaschinerie abgelöst und in den Fokus rückt die Rehabilitierung der Verwandtschaft und eine umgehende Versippung. [Brall 1983: 297f.] .
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
- [*Bertau 1983] Bertau, Karl: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983.
- [*Brall 1983] Brall, Helmut: Gralsuche und Adelsheil. Studien zu Wolframs Parzival, Heidelberg 1983.
- [*Czerwinski 1998] Czerwinksi, Peter: Der Glanz der Abstraktion. frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M. & New York 1989.
- [*Neudeck 1994] Neudeck, Otto: Das Stigma des Anfortas. Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs >>Parzival <<, in: IASL, Bd. 19, Ht. 2 1994, S. 52-75.
Textausgabe
[*Parzival]Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.