Die Ständegesellschaft der Tiere in "Reinhart Fuchs"

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Lange Zeit war die soziale Ordnung des Alltags streng gegliedert. Von Gott gegeben - so könnte man sagen - fügten sich die Menschen in einen ihnen angebürtigen Stand ein, der eigene Rechte, Pflichten, Privilegien und gesellschaftliche Funktionen besaß. So betete man unterwürfig, verteidigte das Vaterland oder arbeitete, mit dem Ziel seinen Teil zum gemeinsamen Leben beizutragen. Es wurde als Selbstverständlichkeit verlangt sich diesen Trennscharfen Standesgrenzen zu beugen und die Aufgaben, die der jeweilige Stand inne hat, widerspruchslos zum Wohle aller zu erfüllen. Aus diesen durch scharfen Trennlinien der gesellschaftlichen Ordnung war lange kein entkommen. Dass aber diese idealisierte von Gott und Natur gegebene Ordnung keinesfalls ein Abbildung der Wirklichkeit ist, sollte noch früh genug klar werden. Gerade im Spätmittelalter erwiesen sich die einst so unüberwindbaren Grenzen der Stände als überwindbar. Das einst so undurchlässige theoretische Konstrukt wurde - ganz zum Leidwesen der Konstrukteure - durchlässig und wies Lücken auf. Kunst und Literatur nahmen diese neuartige "soziale Mobilität" auf und es ist nicht verwunderlich, dass auch sozialkritische Tendenzen mit diesem neunen "Schwung" aufkochten. Die Konstrukteure regierten mit einer Mahnung zur Normativität. Viel interessanter sind aber diejenigen Autoren, die die reale Situation erkannten und mit kluger Manier den sozialen Umschwung in ihren Veröffentlichungen manifestierten. Einer der Werke, die um die Zeit des Spätmittelalters erschien, war der "Reinhart Fuchs" des Herinrich von Glichezare. Interessant wäre es zu sehen wie sich hier die soziale Situation darstellt. Ist es eine nüchterne Analyse der Ständegesellschaft mit ihren Macken oder sind gar sozialkritische Standpunkte zu erkennen? Der vorliegende Artikel soll eben dieser Frage nachgehen und die versteckte Disposition des "Spielmanns" gegenüber der sozialen Hierarchie seiner Zeit ans Licht bringen. Den Hauptteil bildet eine Analyse der Herrschaftshierarchie der Tiere vom "kleinen" bis zum "größten" Tier und die Interpretation der einhergehenden Parallelen zur Standesgesellschaft des Mittelalters mit Fokus auf verborgene sozialkritische Haltungen des Autors zu Macht und Ordnung. In einer weiterführenden Diskussion soll Reinhart als "Medium" zwischen den Ständen beleuchtet werden (Schlüssel zur "Sprengung der sozialen Strukturen"): Wo in den Ständen ist Reinhart zu verorten? In welcher Form überwindet er die Grenzen der Stände? Welchem Mittel behilft er sich zur Überwindung dieser Grenzen? Wie kommt es zum Kollabs der Herrscherhierarchie?


Sicherung der Grundsatzannahme: Übersetzung exemplarischer Textbelege

Die Grundsatzannahme für jede folgende These ist, dass die Tiere in "Reinhart Fuchs" nicht von gleicher Art und Status sind, d.h. dass sie differieren. Zunächst sei also durch einige Textstellen belegt, dass die Tiere im "Reinhart Fuchs" keineswegs/nicht von der gleichen Art oder vom gleichen Stand sind. Sie variieren vielmehr in ihrer Gestalt, ihren Charakteristika und in ihrem Status unter den Tieren. Durch welche Charakteristika sich die Tiere unterscheiden, was das Spezifikum der Macht eines Tieres über das andere ist und in welcher Beziehung die Tiere miteinander stehen, soll noch deutlich werden.

Es gibt solche, die groß sind.

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
daz was der helfant vnde der wisen, da waren der Elefant und der Wisent
di dovchten Reinharten risen, welche Reinhart wie Riesen vorkamen,
die hinde vnde der hirz Randolt, Die Hinde und der Hirsch Randolt,
die waren Ysengrine holt, welche Isengrin zugetan waren,
Brvn der bere vnde daz wilde swin Brun der Bär und das Wildschwein
wolden mit Ysengrine sin. wollten Isengrin zur Seite stehen.
zv nennen alle mich niht bestat, Ich befleißige mich nicht alle zu nennen,
swelich tier grozen lip hat, aber welches Tier auch immer eine große Gestalt hat,
daz was mit Ysengrine da; das war mit Isengrin da;
(vgl. RF, V. 1103-1111)

Es gibt solche, die klein sind.

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
der hase vnde daz kvneclin Der Hase und das Kaninchen
vnd ander manic tierlin, und verschiedene andere kleine Tiere,
des ich niht nennen wil, die ich nicht alle nennen will,
der qvam dar vzer moze vil. kamen in unzählbaren Massen her.
(vgl. RF, V. 1113-1120)

Es gibt solche, die schön sind.

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
da was manic tier lvssam Es waren viele stattliche Tiere
vnser beider kunne. unserer Verwandschaft da.
(vgl. RF, V. 1220-1221)

Es gibt solche, die furchterregend und stark sind.

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
mit Isengrine qvamen die svne sin, Mit Isengrin kamen da sogleich seine Söhne
manic tier vreisam und viele gefährliche Tiere;
mit Ysengrine qvamen dar san;
(vgl. RF, V. 1188-1190)
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
ein lewe, der was Vervil genant, ein Löwe, der Vrevel gennant war,
gewaltic vber daz lant. mit Verfügungsgewalt über das ganze Land,
(...)
si leisten alle sin gebot, sie leisten alle seinem Befehl gehorsam,
er was ir herre ane got. er war nach Gott/mit Gottes Segen ihr Herrscher/Gebieter.
(vgl. RF, V. 1241-1242; 1245-1246)
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
des enwolden si niht volgen, dem wollte sie nicht Folge leisten,
des wart sin mvt erbolgen. dadurch wurde sein Gemüt erbost/erzürnt,
vor zorne er vf die burc spranc, er sprang vor Zorn auf die Festung,
mit kranken tieren er do ranc, da kämpfte er mit schwachen/kleinen Tieren,
in dvchte, daz iz im tete not. denn er dachte, dass es notwendig sei/wäre / er verpflichtet sei.
(vgl. RF, V. 1255-1259)

Und es gibt solche, die schwach und ängstlich sind.

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
Der hase gesach des kvniges zorn, Der Hase sah den Zorn des Königs,
do want er zage sin verlorn. da ahnte er, der Feigling, sein Verderben.
daz ist noch der hasen sit. Das ist noch immer des Hasens Art.
(vgl. RF, V. 1481-1483)

Beobachtung: Die Tiere in "Reinhart Fuchs" unterscheiden sich offensichtlich durch ihre Spezies und deren biologisch-evolutionäre Eigenschaften. Eine einfache hierarchische Ordnung ist erkennbar: Die großen und starken ganz oben, die schwächeren darunter. Was ist nun das Spezifikum, durch das ein Tier hierarchisch höher oder tiefer gestellt ist?