Zufall im Tristan (Gottfried von Straßburg, Tristan)

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Definition

Diesem Artikel zugrunde gelegt ist die Definition von Boethius,[Boethius 1957:89] die auch Worstbrock[Worstbrock 1995] seinem Aufsatz zugrunde legt: Zufall als eine „voraussetzungsvolle und komplexe Erscheinung. Er ereignet sich, wenn ein Handelnder infolge einer ihm unbekannten Verknüpfung von Umständen durch sein eigenes Tun etwas grundsätzlich anderes bewirkt, als er beabsichtigte und überhaupt ahnen konnte.“

Lokalisation

Oft werden im Tristan[Krohn 2007] Ereignisse aneinandergereiht, die alle gemeinsam ein anderes Ereignis bedingen oder ermöglichen (siehe Schwertsplitter). Bei näherer Betrachtung wirken diese Ereignisabfolgen unwahrscheinlich und können so als Zufälle innerhalb der Erzählung interpretiert werden, die dann jedoch vom Autor bewusst erfunden worden sein müssen. Oder die Ereignisabfolgen sind im eigentlichen Sinne zufällig und bedingen deshalb ein Endereignis, das durch die Bedingtheit dann nicht mehr als Zufall bezeichnet werden kann.

Je nachdem aus, welcher Perspektive man diese Ereignisketten betrachtet, handelt es sich um reine (erdachte oder - nimmt man eine wahre Grundlage des Tristanstoffs an - reale) Zufälle, die eine erzählenswerte Geschichte erst entstehen lassen, oder es handelt sich um eine Geschichte, die, um erzählenswert zu sein, die enthaltenden Zufälle erst konstruiert.

Die verschiedenen Ereignisketten können dem Rezipienten demnach je nach Perspektive zufällig erscheinen oder aber sich bedingend. Somit kann auch das Endergebnis oder Handlungsziel einer Ereigniskette als Zufall oder als Bedingung interpretiert werden.

Beispiel Minnetrank

Gemälde von John William Waterhouse (1849-1917): "Tristan and Isolde with the potion"

Da der Minnetrank das konstitutive Motiv des Tristanromans und zugleich der „umstürzendste[] Zufall“ ist,[Worstbrock 1995:39] lässt sich rückschließen, dass ein Zufall die gesamte Handlung des Tristan konstituiert.

Die aufeinanderfolgenden und ineinandergreifenden Ereignisse, die als Zufälle zu interpretieren sind, sind[Worstbrock 1995:39] (V. 11654 f.):

1. Die Seefahrt wird ungeplant unterbrochen, Brangäne ist abwesend.
2. Tristan bittet um etwas zu Trinken.
3. Die junge Hofdame ergreift das falsche (für die konstruierte Handlung jedoch das „richtige“) Gefäß.
4. Der Minnetrank ist sorglos aufbewahrt und kann mit Wein verwechselt werden.

Die Liste lässt sich problemlos erweitern:

Tristan und Isolde bleiben beide an Bord, während die meisten Mitreisenden an Land gehen. Gerade diejenige Hofdame hält sich bei Tristan und Isolde auf, die auch weiß, wo der Minnetrank steht. Immerhin ist dieser verborgen (V. 11680), sie muss also gesehen haben, wie Brangäne den Trank an der bestimmten Stelle versteckte oder dies von Brangäne selbst erfahren haben. Brangäne, die sonst Fehlerlose, begeht einen Fehler, zumindest aber ist sie unachtsam. Tristan und Isolde trinken beide aus dem gleichen Gefäß – sie hätten auch von jeweils verschiedenen Getränken trinken können. Isolde trinkt ungerne (V. 1111683), tut es aber dennoch.

Funktion

Handlungsbeeinflussung

Die Gesamthandlung lässt sich in vier Handlungsziele untergliedern[Worstbrock 1995: 40,41,43,45], die sich sozusagen aus sich selbst heraus produzieren, wobei nachgewiesen werden kann, dass jedes Handlungsziel nur durch einen oder mehrere einschneidende Zufälle erreicht werden kann:

Handlungsziele Zufälle
Tristan soll als Sohn Riwalins und Neffe König Markes erkannt werden. Tristan muss dazu erst entführt werden, das wird in Gang gesetzt, indem er in das Schachspiel versunken ist, wobei er das Schachbrett zufällig entdeckt: von âventiure ez dô geschach, / daz Tristan in dem schiffe ersach / ein schâchzabel hangen (V. 2219 f.). Zusätzlich trifft Tristan zufällig auf seinen ihm unbekannten Onkel Marke.
Die Beantwortung der Frage „Wer ist Tantris?". Isolde findet durch Zufall den Schwertsplitter. Die Isolden führen die einzelnen Schritte zur Entdeckung Tristans Identität zwar bewusst durch, können aber nicht erahnen, dass sie dies zur Entdeckung führt.
Das wechselseitige Erkennen von Tristan und Isolde als Einheit. Hervorgerufen oder verstärkt durch den Minnetrank – siehe oben.
Die Entdeckung der Liebesbeziehung durch Marjodo. Tristan wird durch die Liebe anfälliger für Zufälle, er wird unvorsichtiger: Marjodo erwischt Tristan und Isolde in flagranti, nachdem er zufällig just in der Abwesenheit Tristans aus einem Traum erwacht und den Traum zudem Tristan erzählen möchte, zufällig Schnee liegt, sodass er Tristans Fußspuren verfolgen kann, zufällig scheint außerdem der Mond hell genug, um die Spuren erkennbar zu machen und Brangäne lässt als Krönung auch noch zufällig die Tür offen stehen.

Handlungsschöpfung

Tomasek[Tomasek 2007:182] weißt darauf hin, dass die gesamte Entführungsepisode mit den Worten In den zîten unde dô / kam ez von âventiure alsô (V. 2149 f.) beginnt, für die er als Übersetzung "Damals begab es sich zufällig ..." annimmt. Interessanterweise übersetzt Rüdiger Krohn die Anfangsworte mit "Damals trug es sich so zu ..." und lässt somit den Aspekt des Zufälligen völlig außen vor. Über den Grund hierfür kann nur spekuliert werden. Nimmt man aber an, dass die gesamte Entführung auf diesem Zufall (dass das Handelsschiff aus Norwegen in Parmenien anlegt) basiert, so bestimmt dieser somit auch die gesamte weitere Handlung: Wäre Tristan nicht entführt worden, hätte er Marke nicht kennengelernt und würde nicht auf der Brautfahrt den Minnetrank zu sich nehmen.

Tristans Leben wird durch die Verbindung von Riwalin und Blanscheflur ermöglicht. Auch dabei spielt der Zufall eine Rolle - die beiden treffen sich das erste Mal, indem Riwalin zufällig in Blanscheflurs Richtung guckt: dô kam ez von âventiure alsô, / daz Riwalîn gekêrte dô, / dâ Blanscheflur diu schoene saz. (V. 737 f.). Der Jäger findet außerdem von âventiure die Liebesgrotte (V. 17433).

Fazit

Im Tristentext selbst wird nicht erläutert, was Zufall ist. Somit muss der Rezipient selbst entscheiden, ob er den Zufall als göttlich bedingte oder geduldete Schichsalswendung betrachtet, als reines Erzählmotiv, das die Handlung durch spannende Unvorhersehbarkeiten bereichert oder ob er dem Zufall seine Willkür abspricht und somit in Unwahrscheinlichem Bestimmung erkennt oder das Unwahrscheinliche nicht als unwahrscheinlich wahrnimmt.

Aus der Abfolge der einzelnen Zufälle wird jedenfalls ersichtlich: jeder einzelne Zufall für sich ist nicht von großer Bedeutung. Rückblickend aber reiht sich jeder Zufall genau in die Ereignisabfolge ein, um zu einem Endergebnis oder Handlungsziel zu führen, das somit entweder als Zufall (genauer, Summe einzelner Zufälle) gelesen werden kann oder als ein im Gegenteil zwingend notwendiges Ereignis, das selbst kein Zufall ist, da die vorherigen Einzelereignisse das Endereignis geradezu herbeiführen.

Literatur

  • [*Boethius 1957] Boethius: Philosophiae V 1, 11-18, hg. v. Ludwig Bieler, Tournhout 1957.
  • [*Worstbrock 1995] Worstbrock, Franz Josef: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds 'Tristan', in: Fortuna, in: 1995, S. 34-51.
  • [*Krohn 2007] Gottfried von Straßburg: Tristan, ins Neuhochdeutsche übers. von Krohn, 12. Auflage, Stuttgart 1980.
  • [*Tomasek 2007] Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007.