Unheilige und Antilegenden
Definition nach André Jolles
In der mittelalterlichen Hagiographie ist in erster Linie von Heiligen und ihren Tugenden die Rede. Diese Heiligen leben in imitatio christi. Doch auch Viten (vermeintlich) negativer Figuren sind in Legendaren (wie dem mittelhochdeutschen Passional) niedergeschrieben. Nach André Jolles steht dem Kanonisationsprozess und der tätigen Tugend von Heiligen ein Gegenbegriff entgegen. Der Tugend steht das Verbrechen gegenüber. Jedoch bedarf es mehr als eines einfachen Verbrechers. Die Tat muss sich zur sprachlichen Gebärde verdichten und das strafbare Unrecht im Täter vergegenständlichen.[1] So wie es Heilige und Legenden gibt, dürfte es auch Unheilige und Antilegenden geben.[2] Bei diesen Unheiligen wird die imitatio genau in ihr Gegenteil umgewandelt. Sie sind Figuren, denen man gerade nicht folgen sollte.[3] Gefängnisse und Zellen in welchen diese Figuren ihre Strafe verbringen musste, werden, so Jolles, nach ihnen benannt, wie es bei Heiligen und Kirchen geschieht. Gleichwohl gebe es aber keinen Prozess, welcher der Kanonisation entgegenstehen würde (keine Unheiligsprechung). Die Verkehrung zum Negativen vollziehe sich in der Sprache der Gemeinschaft.[4]
Erzählstrukturen von Antilegenden
Historizität und Fiktivität (nach F.P. Knapp)
In Anknüpfung an Franz-Josef Schmale und Hans-Werner Goetz stellt Fritz Peter Knapp zunächst fest, dass Heiligenviten für sich eine historische Faktizität beanspruchen (historia). Dieser Anspruch wurde, einerseits, sehr ernst genommen. Andererseits wurden auch fiktive Erzählungen geglaubt, Kirchen nach den vermeintlichen Heiligen benannt und Reliquien dieser begehrt.[5] Dabei fasste wohl schon Augustinus die Fiktivität solcher Texte schlichtweg als Fälschung auf.[6] Wieso verzichtet bspw. die legenda aurea dennoch nicht auf die Ausführung solch schlecht belegter Geschichten, wie der des Judas von Iscariot? Ein Grund ist wohl, dass man hinsichtlich der historischen Faktizität z.B. zwischen der Gregor-Vita und den Judas- oder Pilatus-Viten kaum unterscheiden kann.[7] Folglich ist es nicht möglich die Fälschung zu identifiziert und im Zweifelsfall solle lieber keine Lücke im biblischen Bericht entstehen.[8] Die Unsicherheit hinsichtlich der Faktizität wurde jedoch keineswegs unterschlagen: Zweifel wurden durchaus im Voraus geäußert; niemand wurde zur Lektüre gezwungen und die niedergeschriebenen Viten sollten auf keinen Fall als Widerspruch zum institutionellen Kanon verstanden werden.[9] Um die Frage der Historizität zu klären, greift Fritz Peter Knapp auf die Gattungsunterscheidung Engelberts von Admont zurück. Dieser unterscheidet fabula (Fabeln, Mythen, Sagen), historia/emplum (Erzählungen von Taten bestimmter, namentlich genannter Personen) und parabola (nicht faktische und im übertragenen Sinne zu verstehende Berichte, welche von irgendwelchen Personen ausgeführt werden konnten).[10] So waren und blieben "falsche Legenden" ein Skandalon. Die Theologen und Verfasser der Legendensammlungen blieben skeptisch (Bsp. Judas) oder sahen die Texte schlichtweg als non legendae (Bsp. vitae sancti Gregorii, vitae sancti Albani). Sie wurden, wie die lateinische Version der Alban-Legende, gar nicht als Legenden aufgefasst, sondern als Parabeln.[11]
Ent-Zeitlichung und Finalität (nach A. Hammer)
Der Tod eines Heiligen begründet immer zugleich einen neuen Anfang. Doch auch der Tod einer unheiligen Figur ist oftmals kein Abschluss ihrer Geschichte. Die von Anfang an narrativ angelegte Schuld und Verdammnis wird im Tod explizit. So steht Judas z.B. ein endloses Ende (Hammer) bevor, indem er zwischen Himmel und Erde gefangenen ist und keiner dieser Sphären wirklich angehören kann.[12] Ähnliches ergeht es Pilatus, dessen Körper keine Ruhe finden kann.[13] Zugleich sind solche negativen Figuren fester und notwendiger Bestandteil innerhalb der Providenz des göttlichen Heilsplanes und somit für die christliche Religion unerlässlich.[14]
Beispiele
Judas
Judas im mhd. Passional
Die Figur des Judas steht oftmals für den Bösen 'par excellence'.[15] Zumindest die negative Symbolisierung der Judasfigur wurde mittlerweile jedoch, trotz der anhaltenden Aktualität von Jolles, durch diverse Forschungsbeiträge relativiert und differenzierter betrachtet: Hans Richard Brittnacher und Jutta Emming lieferten in dieser Hinsicht bedeutende Beiträge. Eming merkt sogar an, dass ein gewisser Versuch der ‚Rehabilitation‘ der Judasfigur bereits seit dem 18. Jahrhundert bestehe. Zudem merkt sie an, dass die Judasvita im Passional bspw. über reine Konstruktionen von Beispiel – Gegenbeispiel und Gattungsumrisse von Antilegenden (Jolles) hinausgehe und die Figur sehr ambivalent dargestellt sei. Vor Eming stellte Hans-Josef Klauck aber auch klar, dass ‚Rehabilitation‘ nicht mit einer Freisprechung von jeglicher Schuld verwechselt werden sollte. Friedrich Ohly richtet die Schuld des Judas dabei an der Verzweiflung (desperatio), dem Abwenden von der Gnade Gottes, aus.[16]
Die Judaslegende ist im Passional keine eigenständige Legende, sondern ist als Abschnitt der Vita des Matthias (Nachfolger des Judas) eingebaut.[17] Die Geschichte des Judas beginnt noch vor seiner Geburt. Cyborea (die Mutter des Judas) ist besorgt, weil ihr in einem Traum ein Unglück durch die Geburt des Judas prophezeit wurde (V. 34499-34541).[18] Um dem Unglück zu entgehen, setzen die Eltern Judas nach der Geburt in einem Korb (vgl. Moses!) am Meer aus (V. 34550-34589). So wird er an das Ufer der Insel Scariot angespült und von der dortigen Königin aufgenommen. Diese gibt Judas zunächst als ihr eigenes Kind aus (V. 34615-34623). Nach einiger Zeit bekommt die Königin jedoch selbst ein leibliches Kind (V. 34645). Es stellt sich heraus, dass der königliche Sohn Judas zunehmend übertrumpft, was mit auf die Herkunft des Judas andeutenden Tiermetaphern narrativ begleitet wird:
swer eines lewarten vel
uber einen esel suwet
und des an im getruwet,
er springe im lewarten sprunc,
der ist an wisheit harte junc
und nicht vol wachsen dar an.
(V. 34690-34695)
er hat sin arbeit verlorn,
swer valken gevidere hat
und den raben schiften lat
er vluget im nimmer valken vluc,
wand der naturen wider zuc
in zu dem ase brenget snel.
(V. 34684 – 34689)
Dem tückischen Judas fehlt also, so die Andeutung im Passional, angeborene Edelkeit. Es geschieht, dass Judas schließlich seinen Stiefbruder erschlägt und auf seiner Flucht in den Dienst des Pilatus tritt (V. 34718-34741). Böses geselle sich nämlich zum Bösen (V. 34752f.). Als Pilatus nach den Äpfeln aus einem benachbarten Garten befielt, begibt sich Judas in jenen Garten und stiehlt die Früchte (V. 34799-34823). Dabei zerstört er die Bäume (V. 34817) und tötet (unwissentlich der Verbindung) seinen eigenen Vater (V. 34824-34844). Anschließend verheiratet Pilatus Judas mit der Witwe (V. 34862). Diese bekennt Judas ihre Vorgeschichte und Judas erkennt sowohl den Vatermord, als auch das inzestuöse Verhältnis (V. 34918-34921). In der Forschung wurde sich in diesem Zusammenhang immer wieder mit dem Ödipus-Motiv der Judaslegende auseinandergesetzt.[19] Nach dem Wiedererkennen schließt sich Judas Jesus an, welcher ihm eine Chance gibt (ab V. 34930). Jedoch ist er weiterhin habgierig, bis kurz vor seinem Tod. Dieser Umstand der Unumkehrbarkeit des Judas wird, ähnlich der o.g. Tiermetaphern, erneut ausgedrückt:
swaz man ot wischet den koln,
so wil er immer swartz wesen!
(V. 34968f.)
Letztlich erhängt Judas sich selbst (V. 34995) und seine Gedärme platzen auf (V. 35000f.). Durch diese kann die Seele entweichen, weil das durch den von Jesus geküssten Mund nicht möglich gewesen sein soll (V. 35006-35015). Er ist verdammt zur ewiclicher marterat (V. 35027).
Judas als Held (nach J. Eming)
Anmerkungen
- ↑ Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1930, S. 52.
- ↑ Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1930, S. 51f.
- ↑ Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1930, S. 53.
- ↑ Jolles, André: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1930, S. 54f.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 133f.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 134f.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 135f.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 136.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 136.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 151.
- ↑ Knapp, Fritz Peter: Legenda aut non legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in „falschen“ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 153.
- ↑ Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Anti-legenden, in: Udo Friedrich/ Andreas Hammer/ Christiane Witthöft (Hgg.), Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2014, S. 195f.
- ↑ Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Anti-legenden, in: Udo Friedrich/ Andreas Hammer/ Christiane Witthöft (Hgg.), Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2014, S. 195.
- ↑ Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Anti-legenden, in: Udo Friedrich/ Andreas Hammer/ Christiane Witthöft (Hgg.), Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2014, S. 191.
- ↑ Brittnacher, Hans Richard: Judas, der Archetyp des Verräters, in: Dörte Linke/ Florian Priese-muth/ Rosas Schinagl (Hgg.), Sprachen des Unsagbaren, Wiesbaden 2017, S. 181. Ebenso Stotz, Peter: Bilder des Bösewichts: Judas Ischariot in lateinischen Texten der Spätantike und des Mittelalters. Ebenso Peter Stotz (Hg.), Alte Sprache, neues Lied: Kleine Schriften zur christlichen Dichtung des lateinischen Mittelalters, Firenze 2012, S. 402
- ↑ Brittnacher, Hans Richard: Judas, der Archetyp des Verräters, in: Dörte Linke/ Florian Priese-muth/ Rosas Schinagl (Hgg.), Sprachen des Unsagbaren, Wiesbaden 2017, S. 181-198. Ebenso und insbesondere bzgl. des Ödipusmotivs sehr aufschlussreich Eming, Jutta: Judas als Held. Formen des Erzählens in der mittelalterlichen Judaslegende, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 120 (2001), S. 394 – 412. Zu nennen ist aber auch der etwas ältere Beitrag von Klauck, Hans- Josef: Judas ein Jünger des Herrn, Freiburg 1987. Eming, Jutta: Judas als Held, S. 396. Ebd., S. 403. Klauck, Hans- Josef: Judas ein Jünger des Herrn, Freiburg 1987, S. 141f. Ohly, Friedrich: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976, S. 36-42.
- ↑ Hammer, Andreas: Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Anti-legenden, in: Udo Friedrich/ Andreas Hammer/ Christiane Witthöft (Hgg.), Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, Berlin 2014, S. 191.
- ↑ Alle Versangaben beziehen sich auf folgende Edition des Passional: Passional, ed. Annegret Haase/Martin Schubert/Jürgen Wolf, (Deutsche Texte des Mittelalters 91), Berlin 2013. Eine Rezension dieser Edition findet sich bei Hammer, Andreas: Rezension zu: Passional, ed. Annegret Haase/Martin Schubert/Jürgen Wolf, (Deutsche Texte des Mittelalters 91), Berlin 2013.
- ↑ Überblick bzgl. des Ödipus-Motivs siehe Baum, Paull Franklin: The medieaval legend of Judas Iscariot, in: PMLA 31.3 (1916), S. 586-589. Zudem Ohly, Friedrich: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld, Opladen 1976.