Schwertsplitter (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Der Schwertsplitter bricht aus Tristans Schwert, als dieser Morold im Zweikampf besiegt. Er verbleibt in Morolds Kopf, wo er schließlich von der Morolds Schwester Isolde gefunden wird - sie entdeckt, dass der Splitter in eine Scharte in Tristans Schwert passt, der bis dahin als Mörder vor den Isolden unentdeckt geblieben war.
Der Splitter die wahre Identität Tristans; er ist der Beweis, dass Tristan Morold getötet hat. Tristan gerät durch den Splitter in Todesgefahr, da er der Rache der jungen Isolde zeitweise schutzlos ausgeliefert ist.
Vorgeschichte: Kampf

Tristan und Morold kämpfen. Zum Kampf kommt es, da Marke Gurmun zinspflichtig ist (V. 5924 f.). Morold, Gurmuns Vorkämpfer, fordert nach der Unterwerfung England und Cornwalls je dreißig hübsche Knaben aus beiden Ländern als Zins, die ausgelost werden. Nur durch einen Zweikampf können sich die Bewohner England und Cornwalls von dieser schande (V. 5966) befreien (eine weitere Möglichkeit wäre ein offener Krieg, der aber aufgrund der Schwächung England und Cornwalls nicht in Frage kommt).
Tristan erreicht Cornwall, als Morold gerade bei Marke ist und die Knaben ausgelost werden. Er wendet sich an die versammelten Landbarone, die um ihre Kinder losen und fordert diese auf, ihr Leben für das ihrer Söhne einzusetzen. Sie sollten einen kampfbereiten Mann aussuchen. Die Landbarone entgegnen, Morold sei unbesiegbar. Tristan stellt sich nun für den Zweikampf zur Verfügung. Der Kampf wird auf den dritten Tag angesetzt.
Tristan rüstet sich für den Kampf und Marke gürtet ihm ein Schwert um. Als Kampfschauplatz dient eine kleine, dem Ufer vorgelagerte Insel. Gleich zu Beginn des Kampfes zu Pferd zersplittern Lanzen und Schilder, sodass Morold und Tristan auf ihre Schwerter zurückgreifen. Morold verletzt Tristan mit seinem Schwert, das vergiftet ist, schwer am Schenkel. Noch während des Kampfes klärt Morold Tristan darüber auf, dass nur seine Schwester Isolde Tristan durch Heilkräuter vor einer tödlichen Vergiftung bewahren könne. Tristan kann Morold jedoch mit Hilfe seines Pferdes rammen, zu Boden reißen und ihm den Helm fortschlagen. Morold kann seinen Helm wieder ergreifen und möchte ihn wieder aufsetzen, sobald er auf seinem Pferd sitzt. Kurz bevor Morold aufsitzen kann kommt Tristan ihm zuvor, schlägt ihm die rechte Hand samt Schwert ab und trifft mit einem zweiten Schwertschlag Morolds Kopf:
und truoc ouch der sô sêre nider, | Der ging so tief herunter, |
dô er daz wâfen zucte wider, | daß, als er die Waffe wieder herausziehen wollte, |
daz von dem selben zucke | von ebendiesem Schlag |
des swertes ein stucke | ein Stück des Schwertes |
in sîner hirneschal beleip, | in der Schädeldecke steckenblieb, |
daz ouch Tristanden sider treip | das später Tristan eintrug |
ze sorgen und ze grôzer nôt: | Gefahr und große Bedrängnis. |
ez haete in nâch brâht ûf den tôt. | Es hätte ihm fast den Tod verursacht. |
(V. 7053 - 7060) | (V. 7053 - 7060) |
Anschließend schlägt Tristan dem geschwächten Morold den Kopf ab, sodass von Morold nichts als ein "zestuckete[r] man" (V. 7141) zurückbleibt.
Der Splitter wird mitsamt dem toten Morold nach Irland zu Gurmun überführt und von der älteren Isolde entdeckt, als sie und ihre Tochter Isolde den toten Bruder und Onkel betrauern, den Leichnam küssen und die Kopfwunden begutachten, um ihren Schmerz zu vertiefen.
Die ältere Isolde zieht den Splitter mithilfe einer kleinen Zange heraus, betrachtet ihn gemeinsam mit ihrer Tochter - und gemeinsam legen sie ihn zur Aufbewahrung in ein Kästchen. Was Isolde dazu bewegt, den Splitter aufzubewahren wird nicht erläutert. Hier wäre eine Erklärung jedoch hilfreich - beide Isolden wissen schließlich, dass Tristan der Mörder Morolds ist, können aber definitiv nicht ahnen, dass sie Tristan einmal begegnen werden, ohne zu wissen, dass er Tristan ist und einzig und allein der Schwertsplitter das Geheimnis seiner Identität lüften wird.
Dem verletzten Tristan kann nicht geholfen werden, da nur Isolde, Morolds Schwester, ihn zu heilen vermag. Tristan begibt sich also nach Irland und kann dadurch, dass er sich als Spielmann Tantris ausgibt, die ältere Isolde dazu bringen, ihn zu heilen. Im Gegenzug verpflichtet sich Tristan, die jüngere Isolde zu unterrichten. Durch eine Lüge verschafft sich Tristan nach einiger Zeit von Isolde die Erlaubnis, nach Hause zu fahren.
Nachdem Tristan im Zuge der Brautfahrt als "Tantris" erneut nach Irland fährt und den Drachen erfolgreich besiegt, bemerkt die jüngere Isolde an Tristans Schwert, dass der aufbewahrte Splitter aus Morolds Kopf ein herausgebrochenes Stück aus eben diesem Schwert ist. Durch den Schwertsplitter erkennt die jüngere Isolde also, dass Tantris zugleich Tristan und somit Mörder Morolds ist. Isolde beschließt daraufhin, Tristan zu töten: „Dieses Schwert wird sein Ende sein. [...]“ (V. 10038).
Der Schwertsplitter bringt Tristan also in Lebensgefahr.
Da aber die Isolden auf Tristen als wahren Drachentöter angewiesen sind und ihm als Tantris ihren Schutz versicherten, müssen sie auf Rache verzichten.
Erzählerkommentar
Mehrmals benutzt der Erzähler den Schwertsplitter als Vorausdeutung:
- "ein Stück des Schwertes / [...] / das später Tristan eintrug / Gefahr und große Bedrängnis. / Es hätte ihm fast den Tod verursacht." (V. 7056 f.),
- "wo später dieses kleine Stück / Tristan in Gefahr bringen sollte." (V. 7194 - 7195).
Auch, dass Tristan nach dem Kampf seine Wunde vor Morolds Begleitern bedeckt hält, benutzt der Erzähler als Vorausdeutung:
- "Später sollte ihn das retten, / denn diese fuhren fort, / ohne daß es einer herausgefunden hätte." (V. 7135 f.)
Später wird auf diese Stelle Bezug genommen (siehe V. 7885 f.).
Dies kann verschieden intepretiert werden.
Einerseits könnten die Vorausdeutungen der Spannungserhöhung dienen (der Rezipient darf sich gespannt fragen, welche Ereignisse die Geschichte noch beinhaltet; um welche Gefahr oder große Bedrängnis es sich handelt).
Andererseits könnte die Vorausdeutung einen Rezipienten, der die Geschichte mehrmals hört oder liest, auf die komplexen Zusammenhänge zwischen dem Schwertsplitter und den Herausforderungen, denen sich Tristan stellen muss, hinweisen, sodass dem Rezipienten der Zusammenhang im Nachhinein noch einmal verdeutlicht wird.
Wirkung des Splitters
Es stellt sich die Frage, inwiefern der Schwertsplitter den Handlungsverlauf beeinflusst. Die Geschichte würde auch ohne den Schwertsplitter funktionieren: Tantris bliebe als Morold-Mörder unerkannt, würde trotzdem sein Recht als Drachentöter auf Isolde geltend machen und eventuell auf der Rückfahrt zu Marke Isolde über seine wahre Identität aufklären. Für eine Rache von Seiten Isolde wäre es dann wohl zu spät und Tristan außer Gefahr.
Der Schwertsplitter ist also gewissermaßen ein nicht zwingend notwendiges Motiv, das jedoch die Geschichte verkompliziert und dadurch den Spannungsbogen noch weiter spannt: Der Rezipient weiß um den aufbewahrten Splitter, von dem der Protagonist Tristan jedoch wiederum nichts ahnen kann. Tristan befindet sich unerkannt in Obhut der Isolden und die Entdeckung den Zusammengehörens von Splitter und Scharte nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip wird durch eine Reihe von Ereignissen herbeigeführt:
- 1. Der Splitter bricht aus Tristans Schwert.
- 2. Er verbleibt in Morolds Kopf (und wird beispielsweise nicht von seinen Begleitern entfernt).
- 3. Die ältere Isolde findet den Splitter.
- 4. Sie bewahrt ihn auf!
- 5. Die junge Isolde begutachtet Tristans Schwert. (Auch der Erzähler ist an dieser Stelle ratlos: und enweiz niht, wie sie des gezam, / daz sî daz swert ze handen nam (V. 10065-10066)).
- 6. Ihr fällt der Schwarte auf.
- 7. Sie erkennt, dass der aufbewahrte Splitter in eben diese Scharte passt.
Würde nur eines der Ereignisse wegfallen, wäre der gesamte Aufbau Splitter-Episode in sich zusammegefallen. Als es schließlich zur Entdeckung kommt, erreicht der Spannungsbogen seinen Höhepunkt: Tristan befindet sich in Lebensgefahr. Ohne den Schwertsplitter wäre dem Rezipienten dieses "Vergnügen" vorenthalten worden.