Verwandtschaftsbeziehungen (Reinhart Fuchs)
In diesem Artikel soll es um die verwandtschaftlich scheinenden Beziehungen zwischen Reinhart Fuchs und vielen anderen Tieren gehen. Häufig ist die Rede von Vettern, Neffen oder Patenkindern - obwohl eigentlich eine offensichtliche Abgrenzung durch verschiedene Spezien besteht. Nun drängt sich die Frage auf, in wie weit diese Verwandtschaftsbeziehungen die Handlung in der Geschichte 'Reinhart Fuchs' (Heinrich der Glichezare, 12. Jahrhundert) beeinflussen und was es mit der großen "Familie der Waldtiere" auf sich hat. Diese Themen sollen im folgenden Artikel genauer betrachtet werden.
Begriffsklärung: Verwandtschaft im 12. Jahrhundert
Bevor es an konkrete Textstellen und die Analyse geht, muss zunächst geklärt werden, welche Bedeutung den Verwandtschaftsbezeichnungen im Mittelhochdeutschen überhaupt zukam. Recht schnell wird klar, dass die einzelnen Begriffe wohl noch nicht so fest belegt sind, wie wir es heute aus dem Neuhochdeutschen kennen. So kann "neve" beispielsweise Neffe, Onkel und Vetter zugleich bedeuten.[1] Ebenso verhält es sich mit dem Wort "gevater", welches sich sowohl auf einen tatsächlich biologischen Verwandten, als auch auf einen 'Freund der Familie' beziehen kann. Diese Auslegung wird auch in dem Bündis von Reinhart Fuchs mit der Wolfsfamilie deutlich, indem er als "gevater" (vgl. RF, Vers 405) aufgenommen wird.[2]
Zunächst ruft Mitterauer von der Universität in Heidelberg dazu auf, die Verwandtschaftssysteme als eine Einheit zu verstehen, nur dann ließe sich eine "Bedeutung für Familie und Gesellschaft erschließen"[3]. Damit ist gemeint, sich zu Beginn nicht in Bezeichnungen wie etwa Nenn-Verwandte, Wahlverwandte, Bluts- und Heiratsverwandtschaft zu verirren. Mitterauer verweißt im Folgenden auf einen kirchenjuristischen Text, datiert im 13.Jahrhundert, dessen Wirkungsfeld sich über Mitteleuropa und den Orient erstreckt und die Ehe unter Verwandten strengstens untersagt, was auf den Stellenwert und die Einbettung in religiöse Kontexte verweist. Dieser Nomokanon von dem Theologen Barhebräus bildet "eine Schnittstelle sehr unterschiedlicher Verwandtschaftssysteme des Hochmittelalters."[4] Dabi sei zwar auf die Wichtigekit des Verwandtschaftsbegriffs im Mittelalter verwiesen, noch nicht aber die Unterschiede der konkreten einzelnen Bezeichnungen im Vergleich zu der heute gebräuchlichen Bedeutung erschlossen. Darauf verweist Eva-Maria Butz in ihrer Rezension zu G.Lubichs 'Verwandtsein. Lesarten einer politisch-sozialen Beziehung im Frühmittelalter'[5]. Für einen besseren Überblick über die Problematik, die eine Betrachtung aus heutiger Sicht allein begriffstechnisch mitbringt, soll hier eine Zusammenstellung der wichtigsten Punkte folgen.
Textstellen, die auf verwandtschaftliche Verhältnisse verweisen
Reinhart Fuchs, Verse 176-191: Hier geht es um die Begegnung mit seiner "Kusine", der Meise, noch recht zu Beginn der Erzählung, nachdem Reinhart bereits einige Beute entwischt ist. "Mit der Meise geht es dem Reinhart Fuchs nicht besser. Er biedert sich als Gevatter an, stellt sich verliebt, wünscht einen Kuß." [6] ; gevater (mhd.) = Gevatter, Freund, Nachbar im Nhd.[7]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
vil harte in hvngern began. | Gewaltig knurrte ihm der Magen. |
Do gehort er ein meyselin. | Da hörte er eine kleine Meise. |
er sprach:,got grveze evch, gevater min! | Er redete sie an;"Grüß Gott, liebes Kusinchen! |
ich bin in einem geluste, | Ich bin in einer Laune, |
daz ich gerne chvste, | daß ich am liebsten küssen möchte; |
wan, sam mir got der riche, | aber, beim mächtigen Gott, |
dv gebares zv vremdicliche. | du benimmst dich so eigentümlich. |
gevatere, dv solt pflegen treuwen! | Kusinchen, du musst deine Treue unter Beweis stellen. |
sam mir die trewe, die ich dinem kinde | Bei der Treue, die ich deinem Kind, |
bin schvldic, daz min bate ist, | das ja mein Pate ist, schuldig bin: |
die meyse sprach: ,Reinhart, | Die Meise erwiderte:" Reinhart, |
mir ist vil manic ubel art | man hat mir oft genug viele üble Dinge |
von dir gesaget dicke. | von dir erzählt. |
Reinhart Fuchs, Verse 404-406, erste Begegnung mit den Wölfen & Aufnahme als Vetter (veter, mhd. = Onkel (Vaterbruder),Vetter (Brudersohn), Verwandter (väterlicherseits) im Nhd.) in die Familie. "Reinhart und Isengrin schließen einen Gesellenbund in gegenseitigem Interesse, wie es der Fuchs formuliert [...]. Diese Gevatterschaft [mhd. gevaterschaft = Nhd. Freundschaft] ist dann die Voraussetzung für Reinharts Werbung um Hersant [...]." [8]; In RF Vers 687 schließen Reinhart Fuchs und Isengrin dann eine Bruderschaft (engeres Verhältnis, Steigerung) [9]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
si wurden alle des in ein, | Sie [der Wolf Isengrin mit seiner Frau Hersant und den beiden Söhnen] kamen überein, |
daz er in zv gevatern nam do, | daß er ihn als Vetter in die Familie aufnähme, |
des wart er sint vil vnvro. | woran er später noch alle Freude verlieren sollte. |
Auflistung der verwandschaftlichen Beziehungen
Wie auch der Charakter jedes einzelnen Tiers sehr auf menschliche Werte personifiziert erscheint, stechen auch die verwandtschaftlichen Beziehungen ins Auge. Kompatscher-Gruftler erläutert in seinem Aufsatz 'Mensch-Tier-Grenze', dass diese gesellschaftliche Konstruktion von Tieren "historisch und kulturell bedingt"[10] ist. Neben Kompatscher-Gruftler beleuchtet auch Karl Bertrau die Konstellation der handelnden Tiere stellt die Beobachtung auf, dass die "zwischenmenschlichen, privaten Tierverhältnisse" von "rücksichtsloser Fressgier" und "untreuer Freundschaft", bzw. Liebe bestimmt sind.[11] Somit lohnt sich ein genauerer Blick auf das Themenfeld der Verwandtschaft, wobei häufig auch eine Verbindung zu Herrschaft und Gewalt hergestellt werden kann.
Bereits bei der ersten Begegnung mit anderen Tieren, in diesem Fall mit dem Huhn Frau Pinte und ihrem Mann Scantecler, zeigt sich ein hohes Maß an Bekanntschaft und beinahe Familiarität zwischen ihnen. Zwar wird die versuchte List Reinharts schnell aufgedeckt, dennoch erzählt er über seinen Vater und den des Scantecler.[12] Die beiden hätten sich immer höflichst begrüßt und eine gute Bekanntschaft gepflegt. Ob diese Geschichte wahr ist oder nicht, sei zunächst dahin gestellt - Scantecler erscheint sie wohl so glaubwürdig, dass er sich auf Reinharts Sticheleien einlässt. Obwohl der Mann von Frau Pinte vollständig unterlegen scheint, entkommt er aus Reinharts Fängen und kann zurück zum Bauernhof eilen. Besonders der Anfang dieser Szene, die Begrüßung also von Fuchs und Hahn, erinnert an eine beinahe dörfliche Gemeinschaft zwischen den Tieren.
Rolle der Verwandtschaftsbeziehungen für die Handlung
Nebst dem, dass der hohe Grad an verwandtschaftlichen Beziehungen dem Leser sofort ins Auge springt, greift diese Konstellation der Tiere in vielen Szenen in die Handlung ein, bzw. dient Reinhart zu mehr oder weniger erfolgreichen Durchführungen seiner Listen. Bereist im ersten Handlungsakt, in dem Reinhart versucht, den Hahn Scantecler als Beute zu gewinnen, wird durch den Väter-Vergleich richtiges Handeln aufgezeigt. Als Reinhart nämlich auf Scantecler trifft, erklärt er ihm, wie sich deren Väter früher in freundlicher und zugetaner Weise verhielt hätten und maßt dadurch Scanteclers Verhalten an, der hoch über ihm auf einem Ast sitzt. "Dass der Hanh so hoch über dem Fuchs sitze, gehöre sich unter Verwandten nicht, weil es gegen die Verwandteschaftstriuwe verstoße."[13] Dadurch gelingt es Reinhart, dass der Hahn sich auf ihn einlässt und nutzt dessen Leichtgläubigkeit unter "Berufung auf soziale Ordnungsverhältnisse als Kriterium für richtiges und falsches Handeln"[14] aus. Eine Frage, die an dieser Stelle aufkommt und vermutlich aufgrund einer fehlenden Alternativszene nicht eindeutig zu beantworten ist, wäre, ob sich der Hahn Scatecler nur auf Reinharts List einlässt und zu ihm herunterfliegt, weil ihn die verwandtschaftliche Pflicht, hervorgerufen durch die vermutlich vom Fuchs erfundene Geschichte über deren Väter, dazu drängt, oder ob er dies auf der Basis höflichen Handelns gegenüber jedem auch gemacht hätte. Betrachtet man eine der Folgeszenen, so erreicht Reinhart auch hier ein Annäherung. Indem er der Meise, seinem 'Kusinchen', gut zuredet, fliegt auch sie besseren Wissens von dem sicheren Ast herunter. Zwar erfährt Reinhart kurz darauf selbst eine List, jedoch könnte auch hier davon ausgegangen werden, dass sich die Meise ohne das Vortäuschen guter Absichten und unter Bezugnahme auf die verwandtschaftlichen Verhältnisse von Seiten Reinharts nicht auf ihn eingelassen hätte. Der Fuchs Reinhart beweist in diesen und weiteren Szenen einmal mehr seine Schlauheit in Form von "Situationsdeutungskontrolle"[15]. Hübner erklärt es so, dass Reinhart es verstanden hat, seine Co-Akteure im Gespräch zu beeinflussen und in eine bestimmte Handlunsgsrichtung zu weisen, wodurch er in vielen Situationen zumindest zunächst die Oberhand behalten kann.
Aufnahme in Familien am Beispiel der Wölfe
Was aus unserer heutigen Sicht zunächst eindeutig auf eine biologische Blutsverwandtschaft hinweist, wird durch die Aufnahme des Fuchses in die Wolfsfamilie in Frage gestellt. Während sich Bezeichnungen wie Cousine, Vetter oder Onkel im modernen Neuhochdeutsch auf biologisch nahe Verwandte beziehen, die man sich im Normalfall nicht aussuchen kann, findet ein solcher Auswahl-, bzw. Angebotsmoment in der Erzählung Reinhart Fuchs statt. Durch den Zusammenschluss des Fuchses mit den Wölfen erfährt der Leser von einer nicht unüblich scheinenden Symbiose, in die der Fuchs seine "kvndigkeit" (=Schlauheit, Listigkeit) und die Wölfe, speziell hier Wolfsvater Isengrin, ihre Kraft miteinbringt. Hierzu: Mecklenburg: Animalität, Geschlecht und Emotion, S.93-95.
Literaturverweise
- ↑ Reclamausgabe "Reinhart Fuchs", 2005, S.155, Anmerkung 12.
- ↑ RF, S.154f., Anmerkung 10
- ↑ Mittauer, Michael: Geistliche Verwandtschaft, Heidelberg 2009, S.173. (downloadbar im Internet)
- ↑ Mitterauer: Geistliche Verwandtschaft, S.175.
- ↑ https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-10726
- ↑ Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.16.
- ↑ Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 6. Auflage; ebenso alle weiteren übersetzungstechnischen Angaben
- ↑ Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.19.
- ↑ siehe Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.20.
- ↑ Kompatscher-Gruftler: Mensch-Tier-Grenze, in: Human-animal studies: eine Einführung für Studierende und Lehrende, 2017, S.31.
- ↑ Betrau: Über Literaturgeschichte, 1983, S.20.
- ↑ Heinrich der Glichezare_ Reinhart Fuchs, V.117-127.
- ↑ Hübner: Schläue und Urteil. Handlungswissen im Reinhart Fuchs, S.88.
- ↑ Hübner, S.88.
- ↑ Hübner, S.88.