Paläographie
Paläographie als Unterdisziplin der Handschriftenkunde
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Für die Arbeit mit mittelalterlichen Texten ist die Auseinandersetzung mit Handschriften oftmals unerlässlich. Insbesondere Hoch- und Spätmittelalterliche Schriften bereiten oftmals Schwierigkeiten beim Lesen. Unter Paläographie wird die Lehre der Geschichte der Handschrift von der ausgehenden Antike bis zum Ende des Mittelalters verstanden. Die Grundlegende Aufgabe der Paläographie ist die Entzifferung des Textes [Mazal 1986:XI]
Paläographie (gr. palaios - alt; graphein - schreiben) ist die Lehre von der Entwicklung und der Form von Schriften [von Boeselager 2004:11]
Ein Ziel des Paläographie ist die Datierung und Lokalisierung von Schriftstücken aller Art anhand der schriftlichen Merkmale. Durch die Datierung vieler Handschriften entsteht ein stetig wachsender Vergleichskorpus. Schrift hat sich im Lauf der Jahrhunderte immer verändert. Der folgende Artikel soll einen Überblick über die wichtigsten Schriftarten für die Entwicklung der Deutschen Sprache geben. Beispiele aus Handschriften und Übersichtsdarstellungen der verschiedenen Alphabete geben zudem Hilfestellung für die Bestimmung und Datierung von weiteren Handschriften.
Die Wissenschaft von der Schrift ist zwangsläufig immer mit der gesprochenen Sprache verbunden. Der nachfolgende Beitrag setzt sich ausschließlich mit der germanistischen Paläographie im Zeitraum zwischen dem Ende der Antike und der Erfindung des europäischen Buchdrucks auseinander. Dementsprechend werden Lateinische und andere europäische Handschriften nur kurz angesprochen oder gänzlich ausgelassen. Auch die Einführung zur Handschriftenkunde kann nur oberflächlich erfolgen. Eine Übersicht der weiterführenden Hilfswissenschaften sei am Ende gegeben.
Grundlagen der Paläographie
Die Schrift hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Um Schriften miteinander vergleichen und beschreiben zu können, haben sich Grundbegriffe herausgebildet.
Grundsätzlich wird zwischen Buchschriften (kalligraphisch) und Gebrauchsschriften (kursiv) unterschieden. Insbesondere im Spätmittelalter und mit zunehmendem Universitäts- und Kanzleiwesen kommt es jedoch zu vermischten Schriftarten.
Die Form der Schrift ist zudem immer vom Beschreibstoff, dem beschriebenen Material, abhängig. Während heute nahezu ausschließlich Papier verwendet wird, gab es im Mittelalter eine Vielzahl an Schreibstoffen. Bereits aus der Antike waren Papyrus und Pergament bekannt, ab dem Spätmittelalter verbreitete sich zunehmend auch Papier.
Für die Datierung und Lokalisierung von Handschriften ist auch der Entstehungsort von großer Bedeutung. Die mittelalterliche Schreibstätte nannte sich Scriptorium, der Schreiber war der Scriptor. In weiteren Schritten wurde insbesondere Prachthandschriften mit roter Farbe verziert (Rubricator) und mit Buchmalerein versehen (Illuminator). Im Lauf der Jahrhunderte veränderten sich die Standorte von Scriptorien. Die klösterlichen Schreibstuben wichen zunehmend höfischen und universitären Scriptorien. Dies führte nicht nur zur Veränderung der Inhalte, sondern sorgte auch für die Weiterentwicklung der Schriftarten.
Wichtige Begriffe für den Umgang mit Handschriften
Der Schreibduktus bestimmt bei Handschriften, auf welche Art und Weise mit der Feder (dem Schreibgerät) die einzelnen Buchstaben geformt und gegebenenfalls verbunden werden. Um über Handschriften generell sprechen zu können, ist ein Grundvokabular nötig.
Minuskel | Kleinbuchstabe | |
Majuskel | Großbuchstabe | |
Initialen | Oftmals kunstvoll verzierte Anfangsletter | |
Lombarden | Kleinere hervorgehobene Wortanfänge, oftmals gliederndes Element | |
Linierung | Linierung der Seite, entweder keine, dünne, oder dicke Linierung | |
Recto | Nach heutigem Sprachgebrauch Vorderseite eines Blattes | |
Verso | Nach heutigem Sprachgebrauch Rückseite eines Blattes | |
Spaltenzählung | Zählung der Spalten auf einer Seite in a, b, c |
Zugleich ist bedeutend, wie die Buchstaben auf dem Blatt angeordnet sind. Im lateinischen und deutschsprachigen Raum hat sich die Beschreibung des Blattes von links nach rechts durgesetzt. Während die einzelnen Wörter gerade im Lateinischen oftmals noch ohne trennende Leerzeichen geschrieben worden sind (scriptio continua ), werden in deutschen Texten die Wortgrenzen und Satzeinheiten durch Leerzeichen oder Satzzeichen grundsätzlich sichtbar (scriptio discontinua).
Abbreviaturen
Unter Abbreviaturen werden grundsätzlich Abkürzungen verstanden. Die Ursprünge der Abkürzungen finden sich großteils bereits in der römischen Antike. Aus dieser Zeit wurden hauptsächlich zwei Kathegorien von Abbreviaturen im Mittelalter weiter genutzt:
- Abbreviaturen aus dem römisch -epigraphisch - juristischen Gebrauch
- christlich - sakrale Kürzungen der Heiligen Namen: Nomina Sacra
Die Auflösung von Abbreviaturen ist notwendig, um den Text Lesen zu können. In Editionen sind Abbreviaturen im Regelfall bereits vom Editor aufgelöst, in Transkriptionen ist dies nicht der Fall. Auch für die Arbeit direkt an der Handschrift ist die Kenntnis der geläufigsten Abkürzungen nötig. Die Kenntnis aller römischen Abbreviaturen ist keineswegs notwendig, um deutschsprachige Texte zu verstehen. Auch wenn die Abbreviaturen je nach Schreiber in ihrer Auswahl und Ausführung variieren können, lassen sich eindeutige Kathegorien bilden. Im Frühmittelalter zeigen sich hinsichtlich der verwendeten Abkürzungen noch große regionale Differenzen, die teilweise auf einzelne Schreibschulen zurückgehen [Mazal 1986:141]. Die Karolingische Reform nveränderte auch den Gebrauch von Abbreviaturen. In deutschsprachigen Texten des Hochmittelalters sind folgende Abbreviaturen häufig anzutreffen:
Name | Darstellung im Text | Auflösung der Abbreviatur |
---|---|---|
Nasalstriche | mın̄e oder dē | mınne oder dem |
az - Abbreviatur | dc | daz |
r - Abbreviatur | dın̾ | dıner |
per - Abbreviatur | Beispiel | Beispiel |
und - Abbreviatur | vn | vnd oder vnde |
In modernen Editionsprojekten werden Abbreviaturen aus Texten unterschiedlich aufgelöst. Für die Darstellung der Abbreviaturen werden zudem besondere Schriftarten benötigt. Je nach Transkriptionssoftware und Annotationsverfahren wird unterschiedlich mit den Abbreviaturen umgegangen.
Handschriften von der römischen Antike bis zum europäischen Buchdruck
Die Technik und Form der Handschriften durchläuft eine geschichtliche Veränderung seit Beginn erster schriftlicher Aufzeichnungen. Mit der Festsetzung des klassischen lateinischen Alphabets im 1. Jahrhundert vor Christus beginnt die Geschichte der Handschriften, die eine große Bedeutung für die Entwicklung und Überlieferung der deutschen Sprache haben.
Nicht nur erlaubt die Einordnung der Schrift einer Textüberlieferung oftmals die Datierung und Lokalisierung einer Handschrift. Ebenso zeigen sich politische und religiöse Veränderungen auch in der Art, wie geschrieben wird. Im Mittelalter kann allerdings noch von keiner Verbindlichkeit hinsichtlich der Schrift (ebensowenig von einer einheitlichen Rechtschreibung) gesprochen werden. Daher müssen regionale Schwankungen und individuelle Neigungen des Schreibers grundsätzlich immer berücksichtigt werden. Zudem bestimmt der Anlass jedes Schriftstückes (Codex, Gebrauchsschrift, Urkunde) immer auch die verwendete Schrift. Dennoch lassen sich Grundtypen von Schrift und Entwicklungen innerhalb dieser bestimmen.
Lateinische Schriften als Ausgangslage
Die lateinischen Schriftarten sind Ausgangspunkt für alle späteren Entwicklungen der deutschen Schriften im Mittelalter. Daher müssen spätantike lateinische Schriften durchaus berücksichtigt werden, auch wenn sie für keine deutschsprachigen Schriftstücke eingesetzt worden sind.
Die Tironischen Noten, eine lateinische Kurzschrift, ist zudem wichtiger Vorläufer für zahlreiche Abbreviaturen. Einzelne Zeichen, etwa das + oder das % finden noch heute Verwendung.
Capitalis
3. - 6./7. Jahrhundert
Die Lateinische Capitalis wird in die Capitalis Rustica (ab dem 1. Jahrhundert v. Chr.) und die jüngere Capitalis Quadrata (ab dem 4. Jahrhundert n Chr.) unterteilt.
Zudem erlebte die Capitalis eine künstlerische Renaissance in karolingischer Zeit (Bischoff, 21). Als Auszeichnung- und Zierschrift wurde die Capitalis etwa bei besonders kunstvollen Initialen eingesetzt.
Allerdings enstanden dabei auch zahlreiche bewusste Fälschung in besserer oder minderer Qualität. Zum Erkennen derartiger Fälschungen müssen andere Kritierien wie die Verwendung von Abbreviaturen und Worttrennungen hinzugezogen werden.
Unziale
3./4. -5. Jahrhundert, in weiterentwickelter Form 6. - 8. Jahrhundert
Majuskelschrift
Die Unzialschrift entsteht durch die Rückstilisierung der kursiven Schrift zu einer kalligraphischen Majuskelschrift. Innerhalb kurzer Zeit entwickelt sie sich zur meistgebrauchten Buchschrift für anspruchsvolle Texte. Die Unziale verfügt über markante Rundungen.
Bis ins 9. Jahrhundert findet die Unziale Verwendung als Buchschrift.
Halbunziale
4. Jahrhundert, daher zeitgleich zu Capitalis und Unziale
Majuskelschrift
Die Halbunziale folgt, im Unterschied zu als Capitalis und Unziale, nicht mehr dem Zweilinienschema, sondern wird erstmals im Vielinienschema umgesetzt. Erst in Minuskelschriften wird dieses jedoch Konsequent umgesetzt.
Die Halbunziale zeichnet sich durch die Ausbildung von Ligaturen aus.
Kursive
3. Jahrhundert v. Chr: Vorstufe mit der älteren römischen Kursive
3. Jahrhundert n. Chr. jüngere römische Kursive
Minuskelschrift
Als Gebrauchs- und Geschäftsschrift setzt sich bereits in lateinischen Texten eine Kursivschrift durch. Ausgehend von der römischen Kursive entwickeln sich neue kalligraphische Schriften wie die Halbunziale.
Insulare Schriften
Die Insularen Schriften entwickeln sich ab dem 5./6. Jahrhundert auf den irischen und britischen Inseln heraus. Mit der Verbreitung des Christentums gelangen Handschriften vom europäischen Kontinent nach Irland. Während der zahlreichen Abschriften entwickelt sich eine eigene insulare Schrift heraus. Durch irische Wandermönche werden die insularen Schriften auch auf den europäischen Kontinent zurück gebracht. Gerade in Zentren des frühen monastischen Lebens wie St. Gallen, die auf die Mission irischer Mönche zurückgehen, sind noch lange insulare Einflüsse in den Schreibschulen zu erkennen. Ein Problem bestand allerdings darin, dass die festländischen Schreiber Schwierigkeiten hatten, die insulare Schrift zu lesen und somit häufig Fehler in ihre Abschriften brachten. [Löffler/Milde 1997:86]
Die insularen Schreibtypen basieren auf der Halbunziale. Allerdings weisen sie stärkere Ober- und Unterlängen auf und Ersetzen die Majuskeln durch Minuskeln. Zentrales Merkmal insularer Schriften sind zudem die Rundbögen und das markante W. Die Texte weisen eigentümliche Abbreviaturen auf.
Für die Insulare Buchkunst sind rote Umtypfelungen der Initialen und kunstvolle Bandverschlingungen typisch. Ein Höhepunkt insularer Buchherstellung ist das Book of Kells.
Spätestens mit der Herausbildung der Karolingischen Minuskel sterben die Insularen Schriften auf dem europäischen Kontinent aus. In Irland finden sie weiterentwickelt Verwendung.
Frühmittelalterliche Schriften
Auf dem europäischen Festland bilden sich nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs eine Vielzahl von Handschriften aus. Das Ende der römischen Kulut bedeutet einen signifikanten Umbruch um Schriftwesen, in dessen Folge sich Schrift "nach Ländern im großen und nach Scriptorien im einzelnen stärker differenziert" [Bischoff 1952:30]. Die meisten Schriftarten bleiben lokal begrenzt. Auch wenn alle regionalen Schriften ihren Ursprung in der römischen Kursive haben, bilden sich zahlreiche regionale Eigenheiten heraus. Dies führt zu Problemen bei Abschriften. Eine Übergangsstellung nimmt schlussendlich die vorkarolingische Minuskel ein.
Halbkursive
Westgotische Schrift
Historisch steht die Enstehung der Westgotischen Schrift im Kontext des EInfalls des Islam in Spanien im Jahr 711 [Mazal 1986:97]. In dessen Folge entstanden zwei Zonen kultureller Entwicklung auf engem Raum in Westeuropa.
Die westgotische Minuskel bildet sich im frühen 8. Jahrhundert aus. Kennzeichnend ist die starke Linksneigung und die steilen Schäfte.
Merowingische Schrift
spätes 7. Jahrhundert
Im merowingischen Raumentwickeln sich eigene, teils sehr unterschiedliche Kanzleischriften heraus. Der Duktus ist unregelmäßig, doch zumeist schnörkelhaft. Die einzelnen Buchstaben sind gestreckt.
Beneventana
Entstehung 8./9. Jahrhundert Hochphase 11./12. Jahrhundert Dekadenz 12./13. Jahrhundert
Die Beneventana vebreitet sich nahezu ausschließlich in Süditalien und ist nahezu das ganze Mittalalter hinweg anzutreffen. Die Karolingische Minuskel kann sich der Beneventana gegenüber nicht durchsetzen. Ihr Ursprung findet sich in kursiven lateinischen Minuskeln. Die Beneventana zeichnet sich durch zahlreiche Ligaturen auf. Im Verlauf der Zeit entwickeln sich zahlreiche lokale Stile.
(+Bischoff, S. 33)
Vorkarolingische Minuskel
Nach Vorlage der Halbunziale und mit der Aufnahme von Kursivelementen setzt eine langsame Entwicklung zur Karolingischen Minuskel ein.
Karolingische Minuskel
Um 820/830. B. Bischoff setzt das früheste Textzeugnis der karolingischen Minsukel bereits um 780 an [Bischoff 11952:35]
Erst mit der Karolingischen Minuskel entwickelt sich ein Schrifttypus heraus, der über einen langen Zeitraum auf nahezu dem ganzen Kontinent Verwendung findet. Die Karolingische Minskel verbreitet sich ab dem Beginn des 9. Jahrhunderts auf dem gesammten europäischen Kontinent. Lediglich an den europäischen Randgebieten (Italien, Spanien, Britische Inseln) kann sie sich nicht durchsetzen. Mit dem Aufkommen der Karolingischen Minuskel ist eine einheitliche und lang bestehende Schrift in Buch- und Geschäftsschriften zu beobachten [Fichtenau 1946:146]. Zugleich bedeutet der Durchbruch der Karolingischen Minuskel das AUssterben zahlreicher regionaler Schrifttypen des Mittelalters.
Namensgebend für die Karolingische Minuskel ist der Frankenkönig Karl der Große. Während und nach seiner Regierungszeit bildet sich die einheitliche Minuskelschrift heraus. Im Rahmen einer umfangreichen Reformpolitik sorgte Karl für Reformen in der Bildung und der Envagelientexte. Eine konkrete Schriftreform setze er jedoch nicht an, die Bildung der neuen Schrift muss als lang andauernder Prozess und Folge der karolingischen Reformen erkannt werden. Die stabilen politischen Verhältnisse unter Karl dem Großen bildeten die gesellschaftliche Voraussetzung für die Bildung einer einheutlichen Schrift [Kluge 2014:149].
In der Karolingerzeit bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts setzt eine erste Blüteperiode der Schreibkultur und der kalligraphischen Schrift ein [Bischoff 1952:38].
"Gleichzeitig mit der Vollendung der karolingischen Minuskel werden auch die Majuskelschriften, die nich in frühkarolingischer Zeit z. T. vermischt oder stark verzerrt erschienen, nach guten alten Mustern reformiert" [Bischoff 1952:38].
- Capitalis
- Unziale
- Rustica
Die Karolingische Minuskel zeichnet sich durch ihr regelmäßiges Schriftbild und die strikte Verwendung des Vierliniensystems aus.
Frühminuskel
2. Hälfte 8. Jahrhundert
Die ersten Entwicklungen zu einer einheitlichen Minuskelschrift setzen durch den Austausch der Skriptorien ein. An den Schreibzentren St. Gallen und Reichenau entwickelt sich ein eigenständiger allemannischer Stil.
Hochform der Karolingische Minuskel
Die Karolingische Minuskel zeichnet sich durch die Überwindung der Trennung von kursiver Gebrauchsschrift und kalligraphischer Buchschrift aus [Mazal 1986:109]. Ab dem 9. Jahrhundert bildet sich ihr festes Stilsystem heraus. Eine konstante Form des Alphabets hat sich durchgesetzt, für alle Buchstaben existieren nahezu keine Doppelformen. Im Schriftbild steht jeder Buchstabe für sich isoliert.
Die Zahl der Abbreviaturen nimmt ab dem 9. Jahrhundert stetig zu. Grundsätzlich finden sich in Prachthandschriften weniger und in Schul- und Gebrauchshandschriften mehr Abbreviaturen.
Schrägovaler Stil
Um die Jahrtausendwende und im beginnenden 11. Jahrhundert verändert die Karolingische Minuskel ihre Form: Rundformen nehmen nun ausgesprägte ovale Züge an. Ab dem 11. Jahrhundert nimmt zudem die Zahl der Abbreviaturen, Worttrennugen und Interpunktionen stetig zu. Im 12. Jahrhundert kommt es zudem erneut zu stärkeren regionalen Ausdifferenzierungen [Mazal 1986:112]. Allerdings erweisen sich alle Entwicklungen der Karolingischen Minuskel vom 9. bis 12. Jahrhundert als vergleichsweise gering gegenüber den Väranderungen beim Übergang zur Gotik [Bischoff 1952:42].
Glossenschrift
Die Verwendung als Glossenschrift fordert eine Verkleinerung der Schrift. in leicht modifizierter Form findet die Karolingische Minuskel Verwendung in Interlinear- und Marginalglossen.
Die Weiterentwicklung der Karolingischen Minuskel zeigt sich im Wechsel von Rundungen zu Brechungen. Die Brechung der Schrift nimmt ihren Ursprung in Italien und findet zeitlich regional versetzt statt. Der Gesamtprozess kennzeichnet den Übergang zu den Gotischen Schriften.
Gotische Schriften
Die Gotische Schriftperiode ist zeitlich zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert anzusetzen.
Das Schriftspektrum erlebte im Spätmittelalter eine zunehmende Ausdifferenzierung, dessen Vielfalt unter dem Begriff der Gotischen Schriften zusammengefasst wird [Kluge 2014:149].
Die Gotischen Buchschriften bestimmen stärkere und steifere Formen. Zentrales Merk Die An- und Abstriche bilden sich heraus. Es entsteht ein möglichst geschlossenens Schriftbild, das je nach Schreiber teils deutlich voneinander variiert. In der Gotischen Schrift bricht die Trennung zwischen kursiven und kalligraphischen Schriften erneut auf.
Besonders in großen und kunstvoll ausgestalteten deutschsprachigen Handschriften begegnet die Textura. Prominente Beispiele sind die Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) oder die Jenaer Liederhandschrift. Zwischen dem Zweck einer Handschrift und der verwendeten Schriftart besteht grundsätzlich eine Verbindung. Im Lauf des Hoch- und Spätmittelalters wird die Beziehung zwischen Schriftart und Inhalt immer enger.
Im 15. Jahrhundert verliert die Textura an Bedeutung. Die Bastarde setzt sich durch. Grund für diese Entwicklung ist auch das Aufkommen des neuen Beschreibstoffs Papier, der sich als ungeeignet für Texturaschriften erweist.
Die Textualis diente als Vorbild für Gutenbergs Drucktypen [von Boeselager 2004:37].
Die Ablösung der Karolingischen Minuskel durch die Gotische Schrift vollzog sich um die Wende zum 12. Jahrhundert [von Boeselager 2004:36]. Ihren Ursprung nimmt diese Entwicklung in Belgien und Frankreich [Bischoff 1952:44]. Der Prozess läuft von West nach Ost. Die Gotische Schrift darf keinesfalls mit dem germanischen Stamm der Goten verwechselt werden. (Einschub: warum dann gotische Schrift?) Vielmehr zeigen sich Formen der Architektonik auch in der Schrift. Das auffälligste Kennzeichen der gotischen Schrift ist die zunächst einfache, später dann doppelte Brechung der Buchstaben und die zahlreiche Verwendung von Abbreviaturen. Die doppelte Brechung kommt ab dem 13. Jahrhundert auf und ist wegweisend für die Entwicklung der Frakturschrift.
Frühgotische Minuskel
Die frühgotische Minuskel bezeichnet die erste von der Karolingischen Minuskel zu unterscheidende Schriftart. Die ehemals geraden Schäfte sind gebrochen. Anstelle der runden beziehungsweise ovalen Bögen stehen Winkel. Die ehemals konsequent getrennten einzelnen Buchstaben verschmelzen und erste Ligaturen werden sichtbar.
Littera Textualis
Vorrangig 13./14. Jahrhundert
Der Begriff Littera Textualis (vereinfacht: Textualis) ist ein Sammelbegriff für einfache gotische Buchschriften, die sich nicht den stilisierten Hochformen zuordnen lassen. Gegenüber den Kursivschriften gibt es einen fließenden Übergang.
Littera textualis formata
ab 1300
Verbreitung nördlich der Alpen
Die Merkmle der frühgotischen Minuskel werden weiter gesteigert. Zugleich werden die Schäfte gestreckt und gerade aufgerichtet. Grundsätzlich sollte das Aufeinandertrefen von Bögen und geraden Linien grundsätzlich vermieden werden [Mazal 1986:115]. Das Ziel war ein möglichst geschlossenes Schriftbild
Quadrattextur
!4./15. Jahrhundert
In der Weiterentwicklung der Textura setzte die doppelte Brechung der Schäfte ein. Die Perlschrift ist ein Sonderfall der Textura.
Gotische Kursivschriften
Im Hoch- und Spätmittelalter entwickeln sich zahlreiche neue Kursivschriften. Grund für dieses Phänomen ist die gesteigerte Buchproduktion und die Verbreitung der Schriftlichkeit in der Bevölkerung [Mazal 1986:119]. Die Zunahme der Kanzleien und der Bedarf an Schrift in Handel und Wirtschaft sorgen für einen erhöten Schriftbetrieb. Zugleich bilden Universitäten einen neuen Ort der Wissenvermittlung, der nun erstmalig abseits der Klöster liegt.
Die Entdeckung des Papiers auf dem europäischen Kontinent (In Asien bereits früher bekannt) verändert auch die materiellen Voraussetzungen. Schriftarten passen sich auf diese neuen materiellen Eigenarten an.
Notula
Als Notula wird die gotische Kursive bezeichnet. Bögen und Schlingen des kursiven Schreibens kennzeichnen die Kanzleischrift. In ihrer Form bietet sie einen ersten Ausblick auf die neuzeitliche Kurrentschrift. Als Urkundennotula findet sie Verwendung in der Verwaltung und bürgerlichen Buchführung.
Rotunda
Die Rotunda verbreitet sich vorrangig in Italien und zeichnet sich durch einen breiteren Duktus und stärker gerundete Ausführungen aus.
Bastarda
Etwa zeitgleich mit den vorherigen Gotischen Schriften entstand die Bastarda. Sie kennzeichnet die letzte große Neuschöpfung auf dem Feld der gotischen Kursiven [Mazal 1986:120]. Mit der Bastardaschrift setzte schlussendlich die Individualisierung der Handschrift ein, da sie dem Schreiber erstmals in großem Rahmen erlaubt, die Schrift nach seinen eigenen Vorlieben individuell zu formen.
Die Bastarda entstand aus Einflüssen der kalligraphischen gotischen Buchschrift und der gotischen Kursive. Daher weißt sie sowohl kalligraphische wie kursive Merkmale auf. Damit füllt die Bastarda die Lücke zwischen den Kursivschriften und der Textura.
Im Lauf der Zeit nehmen Abbreviaturen und Ligaturen deutlich zu.
Insbesondere volkssprachige Texte begünstigen die Ausbildung der Bastarda [Mazal 1986:120]. Es bilden sich europaweit Variationen mit teils enormen Differenzen.
Fraktur und der Übergang zu den Druckschriften
In der Fraktur zeigt sich bereits eine spätmittelalterliche Weiterentwicklung der gotischen Schrift. Da die Frakturschrift sich als Handschrift als unkomfortabel und zeitintensiv erwies, wird sie zumeist als Druck-/Buchschrift gewertet. Während die Verwendung als Buchschrift nur von kurzer Dauer war, fand die Fraktur als Druckschrift bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland Verwendung.
Die weiterentwicklte Form als Deutsche Kanzleischrift findet sich jedoch nicht nur in Amtskorrespondenzen, sondern auch in einer der bedeutensten spätmittelalterlichen Sammelhandschriften, dem Ambraser Heldenbuch.
"Um 1500 hat der Buchdruck die lebendige Tradition der mittelalterlichen Buchschriften untergraben" [Bischoff 1952:55].
Beispiele für mittelalterliche Handschriften
Textseite in der Großen Heidelberger Liederhandschrift
Beispiel für eine frühmittelalterliche Initiale
Auch wenn sich auf der zeitlichen Ebene eine Entwicklung der Handschrift aufzeigen lässt, bedeutet das Aufkommen neuer Schriftarten keineswegs des vollständigen Verfall früherer Schtiften. Insbesondere für besondere Textteile wie ausgeschmückte Initialen, Anfangs- und Schlusszeilen wurde meist auf ältere Schriftarten zurückgegriffen (Jakobi-Mirwald, 130).
Weiterführende Hilfswissenschaften
Die Paläographie bildet nur einen Teilbereich des wissenschaftlichen Feldes der Handschriftenkunde. Unter den Überbegriff der Handschriftenkunde fallen zunächst alle Zeugnise, die mit der Hand aufgezeichnet sind, unbeachtet ihrer "Form, Beschreibstoff, Alter, Ort und Zeit der Entstehung" (Löffler, Milde, 1). Die Paläographie kann nur einen kleinen Teil der Untersuchungen abdecken. Daher sind zahlreiche Spezialdisziplinen zu nennen, die sich mit weiterführenden Aspekten rund um den mittelalterlichen Literaturbetrieb beschäftigen:
- Papyrologie: Schriftstücke, die sich auf dem Schriftträger Papyrus befinden
- Epigraphik: Inschriften auf Stein oder Metall
- Numismatik: Münzlehre
- Sphragistik: Texte, die sich auf Spiegeln befinden
ferner auch
- Diplomatik
- Urkundenlehre
Die Kodikologie befasst sich zudem mit der materiellen Beschaffenheit von insbesondere gebundenen Handschriften. Dabei werden alle entsprechenden Aspekte abgedeckt, die von der Paläographie vernachlässigt werden.
Grundlegende Literatur und nützliche Internetlinks
Für den Einstieg in die germanistische Paläographie:
- Schneider, Karin: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten, Berlin 2014. [Schneider 2014]
Zur allgemeinen Paläographie:
- Bischoff, Bernhard: Paläographie, Berlin 1952. [Bischoff 1952]
- Freifrau von Boeselager, Elke: Schriftkunde. Basiswissen, Hannover 2004. [von Boeselager 2004]
Zahlreiche Schrifttafeln und Beispieltexte in verschiedenen Sprachen finden sich in folgenden Bänden:
- Crous, Ernst; Kirchner, Joachim: Die Gotischen Schriftarten, Braunschweig 1970. [Crous/Kirchner 1970]
- Foerster, Hans: Mittelalterliche Buch – und Urkundenschriften auf 50 Tafeln mit Erläuterungen und vollständiger Transkription, Bern 1946. [Foerster 1946]
- Petzet, Erich; Glauning, Otto: Deutsche Schrifttafeln des XI. bis XVI. Jahrhunderts, Hildesheim 1975. [Petzet/Glauning 1975]
Eine grundlegende Einführung in die Handschriftenkunde ist in folgenden Werken gegeben:
- Löffler, Karl; Milde, Wolfgang: Einführung in die Handschriftenkunde, Stuttgart 1997. [Löffler/Milde 1997]
- Mazal, Otto: Lehrbuch der Handschriftenkunde, Wiesbaden 1986. [Mazal 1986]
- Wattenbach, Wilhelm: Das Schriftwesen im Mittelalter: Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1896. [Wattenbach 1896]
Zuletzt geben die folgenden Werke einen Einblick in die Schreiberwerkstätten und die Buchherstellung im Mittelalter:
- Hilz, Helmut: Geschichte des Buches. Von der Alten Welt bis zur Gegenwart, München 2022. [Hilz 2022]
- Jakobi – Mirwald, Christiane: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004. [Jakobi-Mirwald 2004]
- Stammberger, Ralf: Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften, Graz 2003. [Stammberger 2003]
- Trost, Vera: Skriptorium. Die Buchherstellung im Mittelalter, Stuttgart 1991. [Trost 1991]
Im Internet sind bereits jetzt viele Digitalisate mittelalterlicher Handschriften. Eine Übersicht bietet der Handschriftencensus.
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
- [*Bischoff 1952]Bischoff, Bernhard: Paläographie, Berlin 1952.
- [*Crous/Kirchner 1970]Crous, Ernst; Kirchner, Joachim: Die Gotischen Schriftarten, Braunschweig 1970.
- [*Dora 2016]Dora, Cornel (Hrsg.): Im Paradies des Alphabets. Die Entwicklung der lateinischen Schrift, St. Gallen 2016.
- [*Fichtenau 1946]Fichtenau, Heinrich: Mensch und Schrift im Mittelalter, Wien 1946.
- [*Foerster 1946]Foerster, Hans: Mittelalterliche Buch – und Urkundenschriften auf 50 Tafeln mit Erläuterungen und vollständiger Transkription, Bern 1946.
- [*von Boeselager 2004]Freifrau von Boeselager, Elke: Schriftkunde. Basiswissen, Hannover 2004.
- [*Hilz 2022]Hilz, Helmut: Geschichte des Buches. Von der Alten Welt bis zur Gegenwart, München 2022.
- [*Jakobi-Mirwald 2004]Jakobi – Mirwald, Christiane: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004.
- [*Kirchner 1950]Kirchner, Joachim: Germanistische Handschriftenpraxis. Ein Lehrbuch für die Studierenden der deutschen Philologie, München 1950.
- [*Kluge 2014]Kluge, Mathias (Hrsg.): Handschriften des Mittelalters. Grundwissen Kodikologie und Paläographie, Ostfildern 2014.
- [*Löffler/Milde 1997]Löffler, Karl; Milde, Wolfgang: Einführung in die Handschriftenkunde, Stuttgart 1997.
- [*Mazal 1986]Mazal, Otto: Lehrbuch der Handschriftenkunde, Wiesbaden 1986.
- [*Petzet/Glauning 1975]Petzet, Erich; Glauning, Otto: Deutsche Schrifttafeln des XI. bis XVI. Jahrhunderts, Hildesheim 1975.
- [*Schneider 2014]Schneider, Karin: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Berlin 2014.
- [*Stammberger 2003]Stammberger, Ralf: Scriptor und Scriptorium. Das Buch im Spiegel mittelalterlicher Handschriften, Graz 2003.
- [*Trost 1991]Trost, Vera: Skriptorium. Die Buchherstellung im Mittelalter, Stuttgart 1991.
- [*Wattenbach 1896]Wattenbach, Wilhelm: Das Schriftwesen im Mittelalter: Das Schriftwesen im Mittelalter, Leipzig 1896.
- [*Wegener 1926]Wegener, Hans: Die Deutschen Volkshandschriften des späten Mittelalters. In: Mittelalterliche Handschriften. Paläographische, Kunsthistorische, Literarische und Bibliotheksgeschichtliche Untersuchungen. Herausgegeben von Alois Bömer und Joachim Kirchner, Leipzig 1926, S. 316 -324.