Poeta doctus
< In Bearbeitung > poeta doctus (auch: poeta faber ) ist die lat. Bezeichnung für gelehrter Dichter. Der Begriff beschreibt einen Dichter oder Schriftsteller der Antike und des Mittelalters, der das Dichten als eine lehr- und lernbare, rationale Technik versteht und das in seinen Texten verwirklicht. Dieses Konzept wird auch Modell der Kompetenz genannt.
Dichten als technische Tätigkeit
Das Modell des Poeta doctus war in der Antike und im Mittelalter die vorherrschende Vorstellung davon, was die Tätigkeit des Dichtens ist. Der Dichter wird hier als Handwerker verstanden (siehe unten: Der welsche Gast, Thomasîn), der seine Werke der Kenntnis vorheriger Dichter und Schriftsteller zugrunde legt. Das Ziel des poeta doctus ist nicht, etwas Eigenes, Neues zu erschaffen, sondern frühere Werke zu bearbeiten und zu erweitern.
So besteht die Kunst eines poeta doctus aus folgenden Aspekten:
Finden statt Er-finden
bene tractare
Dieser Begriff bedeutet, dass Dichtung Bearbeitung von Werken ist. Die Aufgabe des Dichters besteht darin, ein vorhandenes Werk in die angemessene poetische Funktion zu bringen.
Der englische Rhetoriker Geoffrey von Vinsauf (Galfredus de Vino Salvo) schreibt darüber in seinem Werk Poetria nova: "Es ist schwierig, einen bekannten und verbreiteten Stoff zu bearbeiten (bene tractare). Aber je schwieriger, desto lobenswerter... Jedenfalls viel wertfoller, als einen neuen Stoff zu erfinden, der noch unbenutzt ist." (aus: Geoffrey von Vinsauf, Poetria nova, §132 (um 1200))
Wiedererzählen
Das Konzept des Wiedererzählens oder die Retextualisierung ist in vielen mittelalterlichen Werken zu finden. Vorbilder waren vor allem französische Autoren und romanische Literatur. Ein Beispiel hierfür sind die Artusromane Hartmanns von Aue oder der Eneasroman von Heinrich von Veldeke.
Dilatario materiae
Dieser Begriff bezeichnet die rhetorische Technik der Ausweitung eines Stoffes. Hierbei ist entscheidend, dass der Dichter es versteht, Fremdes mit Eigenem zu verknüpfen (siehe unten: Der welsche Gast, Thomasîn).
Der mittelhochdeutscher Begriff "list" als Synonym für "kunst"
Der mittelhochdeutsche Begriff list kommt von Wissen und bedeutet “Weisheit, Klugheit, Schlauheit, Wissenschaft, Lehre oder Kunst” (aus: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 37. Auflage). Dass die beiden Begriffe list und kunst im Mittelalter als Synonyme verwendet werden konnten, verdeutlicht das mittelalterliche Verständnis für Dichtung als etwas Erlernbares, Technisches.
Die lateinische Schultradition
Um poeta doctus zu sein, musste man das Programm der Septem artes liberales (lat. für: die sieben freien Künste) abgeschlossen haben. Dieses bestand aus dem sprachlich-logisch ausgerichteten Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und dem mathematisch ausgerichteten Quadrivium (Arithmetik, Musik, Astronomie, Geometrie).
Hier lernte der Dichter die technischen Grundlagen, die für die spätere Ausübung als poeta doctus notwendig waren.
Das Modell der Inspiration
Dem zuvor beschriebenen Modell der Kompetez des poeta doctus, welches im Mittelaletr die vorherrschende Vorstellung war, steht das Modell der Inspiration gegenüber. Hier wird der Dichter als poeta vates (der Dichter als Seher) bezeichnet. Beim Modell der Inspiration ging man davon aus, dass der Autor unwissend ist und eine Muse benötigt, um Schreiben zu können. Seine Werke enstehen also nur durch göttliche Eingebung, während der Autor alleine unfähig ist. Der Dichter verschriftlicht so seine Visionen. Dieses Modell ist oft bei weiblichen mittelhochdeutschen Autoren zu finden, die ihr Schreiben so begründen konnten.
Wolfram von Eschenbach als poeta vates
In seinem Werk “Parzival” schreibt Wolfgang von Eschenbach:
Originaltext 115, 27-30 | Übersetzung nach J. Bumke |
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Ine kan decheinen buochstab. | Ich kenne keinen Buchstaben. |
Dâ nement genouge ir urhap: | Für viele ist das der Ausgangspunkt. |
Disiu âventiure | Meine Dichtung |
vert âne derbuoche stiure. | braucht nicht die Hilfe von Büchern. |
In seinem Werk "Willehalm schreibt Wolfgang von Eschenbach:
Originaltext 2, 20-22 | Übersetzung nach J. Bumke |
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Niht anders ich gelêret bin: | Auf keine Weise bin ich gebildet: |
wan hân ich kunst, die gît mir sin. | Wenn ich die Fähigkeit zu dichten besitze, dann nur, weil sie mir der sin gibt. |
Wolfgang von Eschenbach betont in diesen Versen seine eigene Unfähigkeit zu dichten. Der Grund für die Entstehung seiner Werke ist der sin (Übersetzung aus: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 37. Auflage: körperlicher, wahrnehmender Sinn; der innere Sinn; ûf den sin vallen: auf den Gedanken verfallen).