Vierfacher Schriftsinn
Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn (auch mehrfacher Schriftsinn) war die vorherrschende Methodik der Literaturverständnis::Schriftauslegung bzw. Bibelexegese (christliche Hermeneutik) des Mittelalters. Darüber hinaus galt sie aber auch als christliche Interpretationsmethode allgemeiner (heidnischer) Texte, welche somit einer christlichen Bedeutung zugänglich gemacht wurden.
Mittelalterlicher Merkvers
Erstmals erwähnt von Johannes Cassianus, wurde die Lehre unter folgendem Zweizeiler verdeutlicht:
"Littera gesta docet, quid credas allegoria,
moralis quid agas, quo tendas anagogia." [1]
Die deutsche Übersetzung:
"Der Buchstabe lehrt das Geschehene, was zu glauben ist, die Allegorie,
die Moral, was zu tun ist, wohin zu streben ist, die Anagogie."
Klar zu erkennen ist die vierfache Auslegung, welche im Folgenden näher erläutert werden soll.
Die vier Schriftsinne
Neben dem literarischn Sinn (sensus literalis) wurde also noch unter einem dreifachen geistigen Sinn (sensus spiritualis) unterschieden: dem allegorischen, dem tropologischen und dem anagogischen Sinn. Diese orientierten sich am christlichen Schema Glaube-Liebe-Hoffnung.
- Historia, der historische bzw. literarische Sinn
Die wörtliche und zugleich geschichtlich zu verstehende Aussage des Geschriebenen konnte von jedem verstanden werden.
- Allegoria, der heilsgeschichtliche Sinn: Interpretation "im Glauben"
Die tiefergehende heilsgeschichtliche Auslegung legte den Gegenstand des Textes in seinem Bezug auf Christus und die Kirche dar. Oft sind hier typologische Auslegungen zu erkennen.
- Tropologia, der moralische Sinn: Interpretation "in Liebe"
Die moralische Bedeutung für den einzelnen Menschen wurde nun auf die Gegenwart bezogen. Sie diente als Handlungsanweisung.
- Anagogia, der eschatologische Sinn: Interpretation "in Hoffnung"
Die zukunftsbezogene eschatologische (endzeitliche) Auslegung war die anspruchsvollste und sollte die letzten Wirklichkeiten erschließen.
Praktische Ausführung
Diese Spezifizierung wurde eher selten in dieser strikten vierfachen Form ausgeübt. Entscheidend war vor allem, dass neben dem Literalsinn nun weitere Verständnismöglichkeiten, allen voran die allegorische, vorherrschten. Mit diesen konnten nun jegliche Texte (bzw. sogar alle Ereignisse der Welt) christlich gedeutet werden.
Ein Beispiel: Die Stadt Jerusalem
Als Beispiel soll die vierfache Deutungsmöglichkeit der Stadt Jerusalem in der Bibel dienen. Literarisch ist sie eine Stadt auf Erden, von der die heilige Schrift in historischem Sinne berichtet. Allegorisch steht Jerusalem für die (gesamte) Kirche Christi. Moralisch dagegen für die Seele des einzelnen Gläubigen auf dem Weg von der Sünde zum Heil. Anagogisch verweist Jerusalem als "himmlische Stadt" schließlich auf das zukünftige Gottesreich und die Auferstehung zum ewigen Leben.
Literaturhinweise
- Martina Backes, Hannes Kästner, Anna Kek, Konrad Kunze, Eva Schütz: Aspekte Mittelhochdeutscher Literatur: Teil 1 Quellen, Freiburg i. Br. 2003, S. 67f.
- Hilkert Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik, München 1992, S. 108ff.
- Meinolf Schumacher: Einführung in die deutsche Literatur des Mittelalters, Darmstadt 2010, S. 35ff.