Überlegungen zum Titel des Buches (Dante Alighieri, Vita Nova)

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Dieser Artikel befasst sich mit dem Titel der "Vita nova". Es soll klar gemacht werden, weshalb dieses Werk für Dante "Das Neue Leben" darstellt und worin dieses besteht. Folgende Fragestellung leitet durch die Abhandlung: Auf was könnte sich der Titel beziehen? Es soll geklärt werden, welche Überlegungen es zu dieser Frage in der Wissenschaft gibt und wo sie Neuerungen im Leben des `Dante´ sieht.


Der Begriff "neu"

Welche Bedeutung hat der Begriff "neu", wenn man ihn allgemein, abseits von Deutungen rund um Dantes Vita nova' betrachtet? Das Adjektiv "Neu" beziehungsweise "novo/a" wurde aus dem mittelhochdeutschen Wort "niuwe" abgeleitet, im Lateinischen (dem Italienischen ähnlich ) wird es mit "novus" übersetzt. Antonym des Begriffs ist "alt".

Dieser Begriff wird häufig verwendet, um etwas zu beschreiben, das erst seit kurzer Zeit gegenwärtig ist. Allerdings kommt er auch zum Einsatz, wenn etwas noch nicht abgenutzt ist. So kann eine Person eine neue Frisur haben, Wände können neu gestrichen werden, oder eine Arbeit kann mit neuem Eifer angepackt werden. So ist etwas seit längerem vorhanden und wird trotzdem erneuert, verbessert, oder kann vollkommen neu entdeckt werden. Die frühere Bezeichnung für Amerika, "Neue Welt", kommt nicht von ungefähr. Dieser Kontinent wurde im 15. Jahrhundert von Christoph Kolumbus neu entdeckt, existierte allerdings schon zuvor. Doch nachdem Columbus diesen Fund, für die östlich von Amerika gelegene Welt gemacht hatte, konnte kein Zweiter Amerika neu entdecken.

Der Begriff "Leben"

Nachdem geklärt wurde, welche Bedeutungen das im Titel der "Vita nova" genutzte Adjektiv haben kann, soll nun der beschrieben Zustand des Lebens genauer aufgefächert werden. Im Mittelalter fand das Subjekt "leven" Verwendung, wenn nach der feineren Sitte gelebt wurde, man sich also benahm, allerdings auch wenn sich jemand wie ein "Lärmender od[er] Tobender" [Lexer 1992:123] verhielt. Im Italienischen bedeutet "vita" nicht ausschließlich "Leben". Auch "die Lebenszeit", "die Lebensweise" und der poetische "Lebensfaden" werden mit "vita" übersetzt. Antonym des Begriffs ist "Tod".

Auch im Deutschen kann dieser Begriff differenziert genutzt werden. Zum Einen steht er für das Lebendigsein, also den Zustand, welcher ein Lebewesen von Unbelebtem unterscheidet. Zusätzlich zu den geläufigen Bedeutungen des Begriffs im Italienischen, wird der Begriff zum anderen aber auch allgemeine für die Regsamkeit etwa auf belebten Plätzen benutzt.


Verschiedene Deutungsansätze

Der Begriff "neu", den Dante Alighieri als wichtiges, das Subjekt beschreibendes, Wort in den Buchtitel seines Werks "Vita nova" (dt. Das neue Leben) einbaut, könnte vielerlei Bedeutungen haben. Gemeint sein kann die erneuernde Kraft der Liebe oder auch der neue Stil, der "dolce stil novo"(dt. süßer neue Stil), den Dante verwendet und der sich von höfischer Minnelyrik und klassischer Dichtung abgrenzt. Im Folgenden wird versucht, den hier behandelten Titel auf fünf unterschiedliche, in der "Vita nova" behandelte Bereiche, zu beziehen.


Erste starke Liebe

Italienisch[VN:6] Deutsche Übersetzung[VN:7]
In quella parte del libro de la mia memoria dinanzi a la quale poco si potrebbe leggere, si trova una rubrica la quale dice: Incipit vita nova. Sotto la quale rubrica io troco scritte le parole le quali è mio intendimento d'assemplare in questo libello; e se non tutte, almeno la loro sentenzia. In jenem Teil des Buches meiner Erinnerung, vor welchem man nur wenig würde lesen können, findet sich eine Überschrift, die besagt: Incipit vita nova [Hier beginnt das neue Leben]. Unter dieser Überschrift finde ich diejenigen Worte geschrieben, welche ich in diesem Büchlein nachzuzeichnen gedenke; und wenn auch nicht alle, so zumindest ihren Sinngehalt.


Mit diesen Worten umschreibt "Dante" seine erste Begegnung mit der huldvollen Beatrice - denn mit seiner Liebe zu ihr scheint ein neues Leben zu beginnen. Barbara Reynolds hat sich 2006 in ihrem Werk "Dante: The Poet, the Political Thinker, the Man" mit der Bedeutung des Buchtitels befasst. Reynolds stellt die These auf, dass Dante den Titel Vita nova möglicherweise nicht für das ganze Werk vorgesehen hatte, sondern nur für die ersten Kapitel: "[...]it is not even certain that Dante intended it to be the title of the whole work [...] It may therefore be only an introduction to the first few chapters, which cover his childhood. There are at least two other indications later in the work that other headings were inteded."[Reynolds 2006:18] Zum lateinischen Wort "novus" schreibt Reynolds, dass der Begriff nicht nur mit "neu", sondern auch mit "first, inexperienced, untried"[Reynolds 2006:18] übersetzt werden könnte.

`Dante´ erfährt also, im Alter von neun Jahren, das erste Mal in seinem Leben eine Liebe, welche unabhängig von der Liebe zu den Eltern und von einem anderen Gehalt als diese, ist. Allein durch den Anblick des jungen, neun jährigen Mädchens wird diese Liebe in ihm ausgelöst. "Diese Erscheinung hat das Leben des jungen Menschen verändert; der geistige Eindruck im Medium von Anstand und Schönheit hinterlässt physische und moralische Wirkungen." [Wetzel 1979:78]


Italienisch[VN:6] Deutsche Übersetzung[VN:7]
In quello punto dico veracemente che lo spirito de la vita, lo quale dimora ne la secretissima camera de lo cuore, cominciò a tremare sì fortemente, che apparia ne li menimi polsi orribilmente; e tremando disse queste parole: "Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur michi." In jenem Augenblick, das sage ich wahrhaftig, fing der Geist des Lebens, der in der geheimsten Kammer des Herzens wohnt, so heftig zu zittern an, dass er sich noch in den kleinsten Pulsen schrecklich offenbarte, und bebend sprach er diese Worte: "Ecce deus fortior me, qui veniens dominabitur michi." [Siehe, ein Gott, stärker als ich, der da kommt zu herrschen über mich].


Die Figur `Dante´ gerät innerlich in einen Zustand, welchen er zuvor niemals in solcher Heftigkeit verspürt hatte. Das Bild des Mädchens Beatrice ist ab diesem Moment stets bei ihm. Sein Leben wird dadurch zu einem neuen Leben, welches durch neue Gefühle bestimmt wird. Das zweite Treffen ereignet sich als beide 19 Jahre alt sind, hierbei grüßt die Dame das erste Mal. Dass diese Liebes-Erfahrungen auf den ersten Seiten des Werks ihren Platz einnehmen, kann dadurch erklärt werden, als, dass sie es sind, welche `Dante´ als "hoffnungslos wie ohnmächtig Liebende[n]" [Wetzel 1979:78], erst zum Dichter machen. Er wird fähig Worte gekonnt zu formulieren und verfasst sein erstes Sonett. Auch Willem Frederik Veltman macht "deutlich, dass Dante im Verlauf seines neunzehnten Lebensjahres bestimmte innere Erlebnissen hatte, die ihn nicht nur zum Dichter machten, sondern die von so einschneidender Bedeutung für sein Seelenleben waren, dass er später von einer Vita Nuova, einem neuen Leben sprechen konnte, das mit diesen Erfahrungen begann." [Veltman 1979: 36] Er fühlt auf eine andere Art, denkt über Dinge nach, welche ihn bis dahin nicht beschäftigt hatten und macht eine vollkommen neuartige Tätigkeit zum Inhalt seines Lebens.


Vorgetäuschte Liebe

`Dante´ hat sich in die höher gestellte Beatrice verliebt. Um sie zu schützen und um die Dame nicht zur Zielscheibe von Gesprächen zu machen, vertuscht er seine Gefühle zu ihr. Dies gelingt ihm indem er vorgibt einer anderen Frau verfallen zu sein. Einige Zeit nach Beatrices Gruß besucht `Dante´ denselben Gottesdienst dem auch seine Angebetete bei wohnt. Er muss sie unentwegt anblicken. Da eine andere Frau zwischen dem Verliebten und dem Ziel seiner Blicke sitzt, scheint es als ob er diese betrachte. Die Fremde, als auch das restliche Kirchenvolk bemerken `Dantes´ Blicke, erkennen allerdings nicht, dass sie bis zu Beatrice reichen und vermuten so eine Liebelei zwischen der mittig Sitzenden und dem Dichter. Dieser lässt die Menschen im Glauben an die angeblichen Gefühle und kann so von Beatrice ablenken.


Italienisch[VN:14] Deutsche Übersetzung[VN:15]
E mantenente pensai de fare di questa gentile donna schermo de la veritade; e tanto ne mostrai in poco die tempo, che lo mio secreto fue creduto sapere da le più persone che die me ragionavano. Con questa donna mi celai alquanti anni e mesi; e per più fare credente altrui, feci per lei certe cosette per rima, le quali non è mio intendimento di scrivere qui, se non in quanto facesse a trattare di quella gentilissima Beatrice […]. Und sogleich gedachte ich, diese edle Frau zu einem die Wahrheit verbergenden Schirm zu machen; und ich machte dies in kurzer Zeit so offensichtlich, dass die meisten Personen, die über mich sprachen, mein Geheimnis zu kennen glaubten. Durch diese Frau verbarg ich mich einige Jahre und Monate; und um die anderen in ihrem Glauben noch zu stärken, verfasste ich für sie einige Kleinigkeiten in Versen, die hier niederzuschreiben nicht meine Absicht ist, es sei denn, es diente dazu, von jener lieblichsten Beatrice zu handeln [...].


Der Liebende baut so jahrelang eine angebliche Gefühlswelt für seine Umwelt auf. Diese hält er parallel zu seinem natürlichen Gefühlszustand aufrecht und untermauert ihn poetisch. Tiefste Liebe verbindet ihn im Geheimen mit seiner Liebe aus frühen Jahren, für die restliche Gesellschaft gibt er eine andere, eine unechte, neu erdachte Liebe vor. Er führt nebenher also ein neu inszeniertes Leben und Lieben und "freut sich, dass seine Blicke das Geheimnis nicht preisgegeben haben, sondern, im Gegenteil, die Vermutungen in eine falsche Richtung zu lenken vermochten." [Wetzel 1979:79]

`Dantes´ schwächende Krankheit

Im Verlauf der "Vita nova" stirbt Beatrices Vater. Die Tochter trauert auf erbärmliche Weise und stürzt damit auch ihren Verehrer in eine Niedergeschlagenheit. Daraufhin "überfällt ihn eine schwere Krankheit, die ihn bis zur Bewegungsunfähigkeit schwächt. Am neunten Tag stärkt ihn der Gedanke an die Geliebte, er kehrt in das Leben zurück, doch voller Trauer in Gedanken an den unausweichlichen Tod." [Wetzel 1979:80f] `Dante´ hält seine eigene Veränderung, seine neue Erscheinung zu Beginn eines Sonettes fest, welches er nach dem Tod von Beatrices Vater dichtet. Darin lässt er die Frauen, welche mit seiner Liebsten trauerten, seine Entwicklung feststellen.


Italienisch[VN:64] __________ Deutsche Übersetzung[VN:65]
Se´ tu colui c´hai trattato sovente __________ Bist Du derjenige, der oftmals von unserer Herrin
di nostra donna , sol parlando a nui? __________ in seiner Rede nur an uns gewandt, gedichtet hat?
Tu risomigli a la voce ben lui, __________ Du ähnelst ihm der Stimme nach wohl sehr,
ma la figura ne par d´altra gente. __________ doch die Gestalt dazu scheint einem anderen zu gehören.


Der Protagonist trägt von dieser Trauer einen neuen Körper davon, sorgt sich über den Tod und führt dadurch ein verändertes Leben. Wie auch Wetzel bemerkt, holen ihn die Gedanken an Beatrice zurück ins Leben, er bekommt also ein neues Leben geschenkt, da er den Anschein macht, aus seinem alten gewichen zu sein.


Neues Glück

Nachdem die holde Beatrice gestorben ist, durchlebt die Figur `Dante´ freudlose Tage. Und zwar auf so offensichtliche Art, dass es einer schönen Frau auffällt. Diese wirkt im Folgenden stets betrübt, wenn sie `Dante´ erblickt. Der Protagonist bemerkt allerdings auch, dass darüber hinaus Verliebte oft derart wirken. Seine eigene Stimmung hellt sich nach und nach wieder auf, die neue Dame kommt ihm häufig in den Sinn und er stellt fest, wie gut sie ihm gefällt.


Italienisch[VN:112] Deutsche Übersetzung[VN:113]
"Questa è una donna gentile, bella, giovante e savia, e apparita forse per volontade d´Amore, acciò che la mia vita si riposi." E molte volte pensava più amorosamente, tanto che lo cuore consentiva in lui, cioè nel suo ragionare. "Dies ist eine edle Frau, schön, jung und klug, und sie ist vielleicht nach dem Willen Amors erschienen, auf dass mein Leben sich beruhige." Und viele Male dachte ich mit noch mehr Liebe an sie, so sehr, dass das Herz dem, das heißt diesem Gedankengang, zustimmte.


Der Dichter merkt also selbst, dass diese Frau eine gute Wirkung auf ihn hat, dies gefällt ihm sehr. "Äußerlich betrachtet scheint der junge `Dante´ schon bald wieder Trost im Dienst einer neuen Geliebten zu finden; er macht sich mit dem Gedanken vertraut, dass sein Leben so vielleicht wieder zur Ruhe kommen könnte." [Wetzel 1979:81] Diese Männerfigur erweckt den Eindruck, als ob sie nur ein erfülltes Leben führen kann, wenn dieses sich um den Dienst für eine Dame dreht. Ohne eine zu liebende Frau erscheint jegliche Tätigkeit zwecklos. So bringt eine neue Liebe ihm auch neues Glück und somit auch ein neu ausgefülltes Leben.


Erdachte Wirklichkeit

Die Ich-Erzählung "Vita nova" bedient sich teilweise Elementen, welche auf das Leben des reales Dante Alighieri Bezug nehmen, trotzdem scheint "das literarische Gebilde [...] der Wirklichkeit völlig entzogen zu sein." [Wetzel 1979:78] Dies basiert vermutlich darauf, dass der Autor Details, wie es scheint, auch bewusst auslässt, oder diese um schreibt. Beispielsweise erfährt der Leser wenig aus der Jugend des `Dante´. Die Zeit vor dem neunten Lebensjahr taucht nirgens in der "Vita nova" auf. Auch über Ereignisse, welche sich zwischen dem neunten und dem 18. Lebensjahr ereigneten, werden die Rezipienten nicht unterrichtet.

"Ort, Stunde, Geliebte und andere Menschen, alles wird stets neu und kunstvoll umschrieben." [Wetzel 1979: 76] So konstruiert er sich die neue Wirklichkeit des Dante Alighieri und schickt diese in schriftlicher Form in die Welt hinaus. Der Leser steht vor der Aufgabe zu entscheiden, welche Aspekte wahr sein könnten, denn "die Materialien [sind] zu spärlich, um einen Nachweis zu gestatten; sie eignen sich viel eher zu Konstruktionen und begründbaren Spekulationen." [Wetzel 1979:82] So ist es zu keiner Zeit der Lektüre möglich zu beschreiben, wie Dante ausgesehen haben könnte, oder wie sein Leben, welches er neben dem Schreiben führte, war. Konsequent lässt der Autor Beschreibungen von Lokalitäten aus. Lediglich Einzelheiten, welche sich auf seinen Dienst für die Frauen beziehen, werden ausformuliert. "Nicht als Person zeichnete sich Dante, sondern als Rolle - es ist die des Dichters im unbeirrbaren Glauben an die Gewalt seines Worts, die er der Liebe verdanken will und seinem Schmerz." [Wetzel 1979:82] So wird ein Leben dargestellt, welches fast vollständig neu konzipiert wurde und eine Person vorgestellt, welche im echten Leben unendlich mehr Facetten hatte, als in der Erzählung auftauchen.

Schlussfolgerung

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Titel "Vita nova" beziehungsweise "Das Neue Leben" auf sehr unterschiedliche Bereiche bezogen werden kann. Das dargestellte Leben wird von einigen Höhen und Tiefen durchzogen, erhält daher mehrere Wendungen und baut so auf Neuorganisation auf. Ob es nun formelle oder inhaltliche Neuerungen sind: es werden ständig frische Lebens- und Liebes-Konzepte vorgestellt.


Primärliteratur

<HarvardReferences /> [*VN] Alighieri, Dante: Vita Nova - Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert von Anna Coseriu und Ulrike Kunkel, München, 1988


Einzelnachweise aus der Forschungsliteratur

<HarvardReferences /> [*Lexer 1992] Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart, 1992 <HarvardReferences /> [*Reynolds 2006] Reynolds, Barbara: Dante: The Poet, the Political Thinker, the Man, London/New York, 2006 <HarvardReferences /> [*Wetzel 1979] Wetzel, Christoph: Dante. Die grossen Klassiker. Literatur der Welt in Bildern, Texten, Danten, Bd. 2, Salzburg: Andreas&Andreas Verlagsbuchhandel, 1979 <HarvardReferences /> [*Veltman 1979] Veltman, Willem Frederik: Dantes Weltmission, Stuttgart, 1979