Fiktionalität der Frauenfiguren (Dante Alighieri, Vita Nova)
vorläufige Fragestellungen Gibt es Belege für die Existenz der beschriebenen Frauen? In welchem Verhältnis stand Dante, laut Wissenschaft, zu diesen Frauen? Kann belegt werden, ob diese Frauen von Dantes Schreiben wussten?
Wichtige Begriffe
- Referenz: Sobald von dem behandelten Text ein Bezug zu außersprachlichen, lokalen oder historischen Gegebenheiten hergestellt werden kann, oder sich dieser Text an andere Texte anlehnt, kann von einer Referenz gesprochen werden. Diese Bezüge kommen häufig in historischen Romanen mit historischen Tatsachenbehauptungen vor.
- Fiktion: Als fiktional kann ein Text, dessen beschriebene Handlungen, Lokalitäten, Personen, etc. (teilweise) erdacht wurden, bezeichnet werden. Es besteht der Modus der Möglichkeit. So kann ein fiktionaler Text etwa eine erfundene Person, in ein Ereignis einbetten, welches sich tatsächlich ereignet hat. Also kann festgestellt werden, dass ein fiktionaler Text auf Tatsachen referiert. Im Gegensatz zur Fiktionalität ist bei der Fiktion das Verhältnis zwischen real und erfunden skalierbar. Hier kann man die Frage stellen, ob es der Fall sein könnte. Träume oder Zukunftsvisionen, erfundene Personen in einem historischen Kontext sind Beispiel für Fiktion.
- Fiktionalität: Texte, welche dieser Sparte zugeordnet werden, weisen keine Referenz auf und erheben keinerlei Anspruch darauf wahr zu sein. Das Verhältnis zwischen real und erfunden ist hier nicht skalierbar. Außerdem ist die Frage, ob es der Fall sein könnte, erst gar nicht stellbar.
möglicher Titel: Die spirituell-religiöse Lesart
Neben der autobiographischen Deutungsweise des Werks "Vita nova" gibt es Forschungen, die die Schrift in die spirituell-religiöse Sparte einzuordnen versuchen. Vor allem die Figur der "Beatrice" dient oftmals als Anhaltspunkt dieser Behauptungen. Ist "Beatrice" mit einer realen Frau jener Zeit gleichzusetzen oder handelt es sich bei ihr um eine Spiritualisierung? Angeblich soll eine Beatrice Portinari existiert haben, die als Jugendliebe Dantes sein Schaffen maßgeblich beeinflusste.[1] Allerdings ist ihre Existenz stark umstritten. "Unter denjenigen [...], die in dem Gegenstand von Dantes Liebe ein wirkliches Mädchen vermuteten, meinten viele, der Name Beatrice (>Beglückerin<) sei nur ein Deckname, wie ihn die Dichter der Provence gern zu verwenden pflegten" [Rheinfelder 1973: 1], bemerkt Rheinfelder zu diesem Punkt. Evi Zemanek sieht den Realitätsgehalt der "Beatrice" äußerst problematisch: "Dante sieht Beatrice im Verlauf seiner Dichtung zuerst als schöne, unerreichbare Dame, dann als gottgesandte Christusfigur und zuletzt als liebende Frau, die ihm von der Jungfrau Maria geschickt wurde, um seine Seele (und seine Dichtung) zu retten." [Zemanek 2010: 85] "Beatrice" wird in vielen Forschungsarbeiten als allegorische Figur verstanden, zugleich aber auch als "reale, historische Person identifiziert, nämlich als die Florentinerin Beatrice Portinari, Tochter des Folco Portinari, der in denselben sozialen Kreisen verkehrte wie Dante." [Zemanek 2010: 85] Rheinfelder kann diesen Stand der Forschung bestätigen, indem er sich unter anderem auf einen Sohn Dantes bezieht. Außerdem zeigt er auf, dass Beatrice verheiratet war, "ein Umstand, der nicht auffällig ist, wenn man bedenkt, dass die ganze Troubadour-Lyrik an verheiratete Frauen ist" [Rheinfelder 1973: 2]. Zemanek merkt außerdem an, dass Dante "Beatrice" als reale Frau verstanden wissen will. Aber welche Bedeutung hat diese Aussage noch, wenn sie ausschließlich auf der Ebene der Fiktion geäußert wird? Lösung für dieses Problem könnte, so Zemanek, sein, dass die allegorische Eigenschaft "Beatrices" ihren historischen Hintergrund nicht zwangsläufig in Frage stellen muss. Tatsächlich könnte die mittelalterliche Exegese sogar den Wirklichkeitsbezug der Figuren verlangen.[2] Die spirituelle Wirkung des Werks wird dagegen auch durch zahlenmystische Verbindungen (das häufige, symbolische Auftreten der Zahl "9"), Träume und Visionen geprägt. Auch das Auftauchen des Liebesgottes Amors innerhalb einer solchen Vision kräftigt diese Anschauung.
"Divina Commedia" als Beleg für Autofiktion
Die "Divina Commedia" (dt. Göttliche Komödie) wird oft als Fortsetzung des Werks "Vita nova" gehandelt, welches als Grundlage für die "Divina Commedia" gilt. Auch in der Göttlichen Komödie tritt "Beatrice" auf, allerdings als in den Himmel entrückte Geliebte "Dantes". "Dante" fühlt sich berufen, sie dort wiederzusehen und berichtet, "wie e[r] einst auf dem Weg durch die Hölle einem dunklen Wald von Verfehlungen entkam, wie e[r] auf dem Gipfel des Fegefeuers letztlich versöhnliche Aufnahme durch Beatrice erfuhr, bevor e[r] schließlich im Paradies Gottes ansichtig wurde." [Schwarze 2011: 2]
Primärliteratur
Einzelnachweise aus der Forschungsliteratur
<HarvardReferences /> [*Rheinfelder 1973] Rheinfelder, Hans: Dante Alighieri, in: Dante-Studien, Hg. Roddewig, Marcella, Köln/Wien: Böhlau Verlag, 1975, S. 274-305
<HarvardReferences /> [*Schwarze 2011] Schwarze, Michael: Dantes Poetik des Ich, in: Bartoli Kuchner, Simona (Hg.): Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima, Tübingen 2011, S. 1-26 <HarvardReferences /> [*Zemanek 2010] Zemanek, Evi: Das Gesicht im Gedicht: Studien zum poetischen Porträt, Köln, Weimar, Wien 2010