Inzest-Heiligkeit: Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns "Gregorius" (nach Peter Strohschneider)

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Zusammenfassung

Im Rahmen seines Aufsatzes "Inzest-Heiligkeit: Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregorius" findet Peter Strohschneider einen neuen Weg Hartmann von Aue's "Gregorius" zu analysieren, ohne die bekannten Motive der Schuld, Sünde und Buße zu reproduzieren. Sein Fokus liegt auf den sozialen Strukturen, den genealogischen Begebenheiten, dem Gesetz der Unterscheidung und dem Weg des Gregorius von einem Stellvertreter der Sünde zum Sünder selbst und zu seinem Leben als neuem Papst.

Heiligkeit nach Strohschneider

Strohschneider spricht davon, dass sich die Transzendenzreligion mit dem Unvertrauten, dem „aus der Immanenz Ausgeschlossenem“ befasst.

Heiligkeit ist dementsprechend eine Distanzkategorie, sie ist unvertraut und für uns unverfügbar. Gleichzeitig ist sie auch eine Relationskategorie, denn über das „Unverfügbare des Heiligen“ kann nur gesprochen werden, indem man es in Relation zu dem Vertrauen setzt, von dem es überhaupt erst Abstand nimmt. [Strohschneider 2000: 105] Diese Unterschiedlichkeit der Heiligkeit nimmt im Kontext von Gregorius einen besonderen Platz ein.

Topochronologische Räume

Strohschneider gliedert die Erzählung anhand der vier Seefahrten des Gregorius und bestimmt so die fünf topochronologischen Räume, also die fünf Orte und ihre dazugehörigen Themenfelder:

  1. Aquitanien (I) mit der Vergangenheit der Eltern und der Geburt von Gregorius
  2. Klosterinsel mit der Kindheit und Erziehung von Gregorius
  3. Aquitanien (II) mit der Befreiung und Heirat durch und von Gregorius
  4. Felseninsel mit Gregorius als Büßer
  5. Rom mit Gregorius als Papst

Er spricht von einem „Diesseits“ und einem „Jenseits des Wassers“. Die Höfe der epischen Welt befinden sich im Diesseits und die Inseln im Jenseits. Die Erzählung selbst kann erst durch die Grenzüberschreitungen zwischen diesen Orten fortschreiten. [Strohschneider 2000: 110f]

Herrschaftskrisen

In "Gregorius" gibt es eine Reihe „paradigmatischer Konstellationen von Gesellschaft und Herrschaft“ [Strohschneider 2000: 113], in welchen sich der „Fortbestand legitimer Herrschaft“ [Strohschneider 2000: 113] in kritischer Gefahr befindet. Strohschneider skizziert die Krise in Aquitanien (I) als die des nahenden Todes des Herzogs und die Krise in Aquitanien (II) als die Bedrohung des Hofes und die der unverheirateten Landesherrin. In Rom selbst besteht die Problematik aus dem gescheiterten Amtswechsel und dem fehlenden Papst. [Strohschneider 2000: 113]

Zur Lösung dieser Krisen gibt es drei Möglichkeiten:

  • Vererbung
  • Verheiratung
  • Gnadenwahl

Im Falle von Aquitanien (I) vererbt der Herzog sein Land und seine Herrschaft an seinen Sohn. Im Falle von Aquitanien (II) erlangt die Landesherrin Hilfe durch einen Fremden, der auch eine Fürstenheirat ermöglicht. In Rom beendet die göttliche Gnade die Krise. [Strohschneider 2000: 114]

Inzestkrisen

Die ersten beiden, herrschaftlichen Krisen werfen nach ihrer Lösung neue, durch den Inzest ausgelöste Problematiken auf.

Strohschneider erschließt in seiner Analyse, dass der Inzest theologisch eine Todsünde, strukturell jedoch eine "Krise der Unterschiede" ist. [Strohschneider 2000: 118] Denn weltliche Herrschaft besitzt einen zentralen Geltungsgrund: die Genealogie. Die Verwandtschaftsstrukturen sind essentiell und es werden „Personenverbände und adelige Körper“ benötigt und schließlich in diesen Strukturen reguliert. Gerade deswegen, betont Strohschneider, ist die Sünde des Inzest nicht austauschbar. [Strohschneider 2000: 116]

Denn das Gesetz des Inzest ist es, welches die Verwandtschaft erst konstruiert. [Strohschneider 2000: 117] Es zieht Mauern zwischen dem Erlaubtem und Verbotenem und sichert so den Bestand der Unterschiedlichkeit innerhalb der Herrschaftsstrukturen. Er drückt es folgendermaßen aus: „Es klassifiziert die Gesamtheit aller möglichen Beziehungen, die nicht auch sexuelle sein dürfen, als Verwandtschaft aufzufassen.“ [Strohschneider 2000: 117]

Aufgrund dessen ist Rom der einzige topochronologische Raum, in dem es nach der Lösung der Herrschaftskrise zu keiner erneuten Krise kommt. Denn im Gegensatz zu Aquitanien ist es keine weltliche sondern eine geistliche Herrschaft, die nicht von den Einzelpersonen die das Amt betreten oder verlassen abhängig ist. [Strohschneider 2000: 115]

Die erste Inzestkrise findet ihren Ursprung bereits zu Beginn der Erzählung, in Aquitanien (I). Der sterbende Herzog versäumt es seine Tochter an einen fremden, außenstehenden Hof zu verpflichten. Es gelingt ihm nicht, sie exogam zu verheiraten. Somit ist die Grundlage für die eigentliche Krise, den Geschwister-Inzest, gegeben. Im späteren Verlauf, in Aquitanien (II), ist es der angeblich fremde und exogame Befreier der sich als Sohn der Landesherrin herausstellt. Es kommt somit zum Mutter-Sohn-Inzest. Bruder und Schwester übertreten das Gesetz, genauso wie Gregorius und seine Mutter, wodurch sie die Ordnung der Genealogie und ihre Regeln brechen. Zweimal erfolgt also der Zusammenbruch der Unterschiede. [Strohschneider 2000: 118ff]

Als Konsequenz kommt es zur Verwendung des "Mechanismus der Ausstoßung", der folgendermaßen umgesetzt wird:

  • Die Bußfahrt nach Palästina des Vaters
  • Die Aussetzung des Säuglings
  • Selbstaussetzung des Büßers auf der Felseninsel [Strohschneider 2000: 125ff]

Gregorius als Stellvertreter, Sünder und Papst

Bei der Aussetzung des Säuglings Gregorius findet eine Verschiebung statt. Strohschneider erklärt, dass Gregorius selber nie das Gesetz der Ordnung gebrochen hat und er wird somit ein Stellvertreter für die Schuld seiner Eltern. Er wird zum Sündenbock. Doch durch den begangenen Mutter-Sohn-Inzest nimmt Gregorius die Sünde selber an und wird von einer Repräsentationsgestalt zu einer Präsenzgestalt. Der Sündenbock wird zum Sünder. [Strohschneider 2000: 126ff]

Gregorius löst sich daraufhin gänzlich von der Welt der Unterschiede und seinem sozialen Status und begibt sich auf die Felseninsel. [Strohschneider 2000: 128] Diese stellt den "Ort des größten Unterschieds zur Ordnung des Unterschiedenen, zur Gemeinschaft" [Strohschneider 2000: 129] dar. Gregorius geht also ein in die "Welt des Ununterschiedenen". [Strohschneider 2000: 129] Strohschneider analysiert hier die Verbindung zur Heiligkeit, welche ebenfalls "von allem Unterscheidbaren und Unterschiedenen unterschieden ist." [Strohschneider 2000: 130]. In der Erzählung wird diese enge Verbindung zwischen Gregorius und der Heiligkeit deutlich durch das Eingreifen von Gott, der Gregorius zum Papst und "pastur de la lei" (zum Hirten des Gesetz) macht. [Strohschneider 2000: 131]

Die Erzählung endet mit der dritten Begegnung zwischen Gregorius und seiner Mutter, Frau und nun auch geistlicher Tochter. Es macht keinerlei Unterschied mehr, wodurch sich die Blutsverwandtschaft zwischen ihnen löst und die Unterschiede aufgehoben werden. Gregorius hat seinen Ursprung in der Krise des Inzest, er wird zum Stellvertreter von Schuld und schließlich selbst zum Sünder, woraufhin er sich aus der Ordnung der Unterschiede entfernt und von einem "Sündenbock/Stellvertreter zum Gottes-Stellvertreter" wird. [Strohschneider 2000: 131f]

Bibliographie

<HarvardReferences />

  • [*Strohschneider 2000] Strohschneider, Peter. Inzest-Heiligkeit: 'Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns "Gregorius"' in "Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters". Tübingen: Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans Joachim Ziegeler, 2000.