Das Paradoxon der Gewalt im Parzival
Die adelige Welt im "Parzival" definiert sich zum Teil über eine bestimmte Gewaltauslebung, über einen Ritterethos, der sich zwangsläufig gegen sich selber richtet. Die zentralen Dynastien von Anfortas und Artus bleiben ohne Nachkommen und belegen so einen nicht individuellen, sondern symptomatischen "krisenhaften" Zustand der Männerwelt. Wie kommt es nun zu diesem Paradoxon der Gewalt?
Parzival- ein Sippenroman?
"sîniu kint, sin hôch geslehte hân ich iu benennet rehte, Parzivâls, den ich hân brâht dar San doch saelde het erdâht." (827,15-18[1]) Mit diesen Worten des Dichters aus dem 16. Buch wird wird deutlich, dass nicht nur Parzival im Mittelpunkt dieses Werkes steht, sondern auch "sîn hôch geslehte hân" (827, 15f.). Auch der Aufbau von Wolframs Werk verweist die Hauptfigur mit nur ca. 50% der Erzählungen auf einen zumindest gleichberechtigten Platz neben die "Sippe". Sowohl die Episoden über Gahmuret als auch über Gawan lenken lange Zeit die Geschicke des Buches, hinter die Parzival mit seinem Schicksal temporär zurücktreten muss. Damit wird deutlich, dass die "Sippe" im Parzival eine übergeordnete Rolle spielen muss, was Peter Czerwinski zu der Bezeichnung des Sippenromans in Bezug auf den Parzival führt. Vor allem die Gawan-Bücher und die Erweiterung des âventuire-Schemas, durch Parzivals größere Defizite in Mindestausstattung adeliger Konstituenten, Ausbildung im Kampf und höfischen Ritual als beispielsweise andere Heroen der Zeit, wie Eric oder Iwein, machen die epische Erzählung " […] zur reinen Verkörperung genealogischer Wahrnehmung, einer Wahrnehmung, die vollständig von Denkfiguren einer Identität im dynastischen Verband geprägt ist." [Czerwinski 1989: S. 135] Damit geht Czerwinski nicht von einem individuellen personellen Subjekt als Zentrum der Handlung aus, dass sich im Parzival manifestiert, sondern episches Subjekt ist demnach die Dynastie, repräsentiert durch ihre temporär auftretenden Mitglieder Pazival, Gawan und Gahmuret. Damit konstituiert sich die Einheit des epischen Romas über den "Körper der Dynastie" und nicht über spezielle Themen- und Problemkomplexe, wodurch der paartaktische Aufbau des epischen Geschehens erklärt ist. [Czerwinski 1989: S. 136f.] Wie oben festgestellt, steht die Dynastie im Zentrum des epischen Werkes und so bietet sich an einen Blick auf ihren krisenhaften Zustand an, der sich an der ungeregelten Nachfolge der beiden großen Herrschaftsgeschlechter zeigt.
Feudaladeliges Selbstverständnis am Beispiel Gahmurets
Einem der wichtigsten Aspekt einer Dynastie Rechnung tragend, Kontinuität durch legitime Nachfolge, beginnt Wolframs episches Werk mit den Tod des König Gandin. Ganz nach den Gesetzen der "Primogenitur" befiehlt König Gandin,"[…] daz der altest Bruder solle hân sîns Vater ganzen erbeteil"(5, 4f.). Durch diese Erbregelung wird schon ein deutliches Spannungsfeld in der Dynastie offenbart. Die adelige Familie, die auf die "Produktion" mehrerer Nachfolger angelegt ist, kann nur dem ältesten Sohn im Todesfalle ein Erbe anbieten, die jüngeren Brüder gehen zumeist leer aus. So offenbart sich eine sichtliche Spannung im Sippengefüge, die dazu führt, dass viele Söhne, wie auch Gahmuret ihr Glück in der Ferne: "[…] ich will kêren in dui lant." (8, 8) suchen, um Ruhm und Ehre im Kampf und in der Minne zu erlangen. Diese politische, ökonomische und psychologische Mangelsituation der "Nachgebornen"muss zwangsläufig zu einer schwelenden Unzufriedenheit und Aggressivität der Iuvens führen, die sich in den zahlreichen nicht-sesshaften Rittern manifestiert, deren Leben aus Kampf um Ehre und Ruhm besteht, Güter des Ritterethos, die sie auf andere Weise nicht erlangen können. Obwohl die Primogenitur fest in der adeligen Werte- und Rechtsordnung verankert ist, verweist Wolfram auf ihre inhärente Problematik: „[…] daz ist ein wârheit sunder wân […]“ (5, 3); daz was der jungern unheil, daz in der tôt die pflihte brach […]“ (5, 6f.); „[…] daz ist ein fremdiu zeche.“ (5,21). Anders als die folgenden Könige Anfortas und Artus hat Gahmuret kein genealogisches Defizit, zeugt er doch zwei Söhne, die ihm in die Position eines Sippenoberhauptes folgen. Allerdings manifestiert sich in der Figur von Parzivals und Feirefiz Vater auf andere Art und Weise der krisenhafte Zustand der adeligen Männerwelt. Als junger Ritter ohne Land, maßgeblichen Einfluss und Ruhm ausgezogen in die Ferne, gelingt es Gahmuret durch seine kämpferischen Aktivitäten letztendlich zwei Königinnen, mehrere Länder und den Thron seines Heimatlandes zu erringen. Entgegen der adeligen Tradition verbleibt er aber in seiner Rolle als fahrender Turnier- und Soldritter, übernimmt niemals im gleichen Maße die Herrscherfunktion über seine Territorien, wie es Anfortas oder Artus tun ( 54, 17-20; 96, 25-30). Damit ignoriert Gahmuret seine dynastischen Pflichten, die er durch seine Ehen und Territorialzuwachse auferlegt bekommen hat. Mit seinem Verhalten versetzt er aber seinem gesamten Sippenkörper einen harten Schlag; stürzt er doch seine Frauen in tiefes Leid, lässt seine Söhne vaterlos aufwachsen und offenbart die Schutzlosigkeit seiner Gebiete. In der Figur des Gahmuret kommt ein Paradoxen zum Vorschein, dass in ähnlicher Weise bezeichnend ist für die gesamte adelige Männerwelt. Ihm ist es nicht möglich die Rolle des aggressiv-verwegenen, ungebundenem Minneritters, zugunsten des verantwortungsvollen Sippenoberhauptes abzulegen, obwohl er in die erstere Rolle nur schlüpfen musste, weil ihm dynastischen Verpflichtungen verwehrt blieben. Die Satisfaktion des Auslösers seines Strebens nach Ruhm und Ehre, durch den Erwerb von Frauen und Ländern, führt nicht zu einer Befriedung seiner Existenz als Ritter. Somit wird deutlich, dass die ritterliche Identität, mit ihrem spezifischen Kodex, indem vor allem Gewalt eine tragende Rolle spielt, sich vor die Identität im dynastischen Verband schiebt und so den kollektiven Sippenkörper erheblich schwächt. Problematisch ist also nicht die Dynastie und ihr Aufbau, sondern das feudaladelige Selbstverständnis der einzelnen Mitglieder. [Neudeck 1994: S. 62-65.]
Das Stigma des Anfortas
Das Titurel- Geschlecht ist anders als bei Gahmuret direkt von einem signifikanten Bruch in seiner Herrschaftskontiunität betroffen. Durch Anfortas Vergehen werden seine Geschlechtsorgane verletzt und diese Verwundung steht emblematisch für die „Kastration“ der gesamten Grasgesellschaft . (479, 8-11)Mit dem Verlust eines legitimen Nachfolgers schwindet auch die Macht des Titurel-Geschlechts, wie Trevrizent offenlegt: „[…] des edelen ardes hêrschaft was komen an sô swache kraft.“ (481, 3f.) Für eine Dynastie spielen zwei wichtige Faktoren eine Rolle: Macht und Mittel der Herrschaftsausübung und die Sicherung der Herrschaft durch […] partilineare Sukzession. Aber wo liegt sie Ursache für den Bruch der durch die gesamte Gralsgesellschaft geht? [Neudeck 1994: S. 55f.] Die Wunde des Anfortas ergibt sich aus seinem Verstoß gegen das göttliche Gesetz des Grals .
Original | Übersetzung |
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swelch grâles hêrre ab minne gert
anders dan diu schrift in wert, der muoz es komen ze arbeit und in siufzebaeriu herzeleit.
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Wenn aber der Herr des Grâls Verlangen hat nach einer Liebe,
die ihm nicht jene Schrift ausdrücklich erlaubt hat, dann muß ihm das Kummer bringen und Seufzen und Schmerzen (478, 13-16) |
Anfortas Verletzung an den Schamteilen, […], spiegelt in deutlicher Analogie zum mittelalterlichen Strafrechtdenken den Charakter seiner Verfehlung. […] Anfortas’ Leid ist Strafe für seinen leichtfertigen Verstoß gegen die Ordnung der auserwählten Sippe der Gralshüter. (Brall: S. 286f.) Das Ausmaß der Verfehlung Anfortas’ verdeutlich sich an der Paralyse der Bewohner von Munsalvaesche.(227, 14ff; 228, 26; 229, 17)
Ähnlich wie bei Gahmuret erliegt Anfortas dem typischen Ritterideal, dem Kampf und Herz und Hand einer adeligen Dame. Für den „normalen fahrenden“ Ritter fast schon ein Grundsatz, ist es Anfortas allerdings als […]Gralskönig verboten eine Frau frei zu wählen und als Ritter für sie in den Kampf zu ziehen. Er unterliegt also seiner Triebhaftigkeit, die durch den Ritterethos in kanalisierter Weise gefördert wird. Seine Identität als Ritter schiebt sich abermals vor seine Identität als Gralshüter. Diese Verschiebung wird im Roman stärker geahndet als bei Gahmuret. So muss Parzivals Vater aufgrund seiner Verfehlung einen frühen Tod sterben und scheidet so aus der adeligen Welt aus, wenn auch mit drastischen Folgen für seine Sippe. Doch Anfortas’ Vergehen wiegt umso schwerer, als dass die Konsequenzen gottgewollt und unumkehrbar erscheinen. (481, 18; 484, 8) Denn sein Vergehen steht im Konflikt mit den heiligen Gesetzen des Grals, die eigentlich als Ordnungs- und Rechtssystem stehen sollten. Dass er als oberster Gralshüter gegen sein eigenes Gesetzt verstößt offenbart erneut das Paradoxon der Adelswelt. Die Affektivität der Adelswelt richtet sich gegen sich selber und offenbart die Effektlosigkeit ihrer eigenen Regelsysteme.
Das dynastische Defizit am Artushof
Anders als Anfortas zeugte Artus einen Sohn, der allerdings im Minnekampf um eine Dame starb. Auch scheint der bretonische König nicht direkt für den Bruch in seiner Herrschaftskontinuität verantwortlich zu sein, vielmehr scheinen auf den ersten Blick äußere Faktoren für die Schwäche seines Sippenkörpers verantwortlich zu sein. Durch einen Ehebruch seitens Clinschor mit der Königin von Sizilien kommt es zu seiner Kastration durch ihren Ehemann. Zutiefst körperlich und seelisch verletzt, „[…] schafft er mit Schastel marveile gleichsam ein steingewordenes Symbol der Aufhebung der Minne: er setzt dort Frauen und Männer gefangen“ [Neudeck 1994: S. 58] „ reißt […] Familien auseinander unterbindet Liebe und schafft einen Zustand vollständiger gesellschaftlicher Unfruchtbarkeit.“ [Bumke 1991: S. 114] Das Artusgeschlecht verliert dadurch Artus Mutter Arnive, deren Tochter Sangive, die Mutter von Gawan und ihre Schwestern Itonje und Cundrie büßt so erheblich an Stärke ein.
Diese von Außen beeinflusste Schwäche des Artusgeschlecht korrespondiert allerdings mit einem inneren Manko der Artusgesellschaft, die sich in einem fast schon anarchistischen Zustand befindet. Einerseits schlägt der Seneschall Keie eine höfische Dame, obwohl seine Funktion in der Wahrung der Hofzucht liegt;
Original | Übersetzung |
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do erlachte ir minneclîcher mut.
des wart ir rükke ungesund. Dô nam Keye scheneschlant froun Cunnewâre de Lâlant mit ir reide hâre: ir lange zöpfe clâre die want er umber sîne hant, er spancte se âne türbant. ir rüke wart kein eit gestabt: doch wart ein stap sô dran gehabt, unz daz sîn siusen gar verswanc, durch die wânt unt durch ir vel ez dranc.
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Da kam ihr ein Lachen über den süßen Mund.
Das aber trug ihr Rückenschmerzen ein. Es packte nämliche Keye, der Senegal, die edle Cunnewâre de Lâlant bei den Lockenhaaren ihre Zöpfe, die klaren wickelte er fest um seine Hand: So war sie solide angehängt, und das ohne eiserne Beschläge Obwohl ihr Rücken keinen Eid zu leisten hatte, kam er doch in heftige Berührungen mit dem Richterstab, der auf sie niedersauste, bis er ganz zerschlissen war. Die Hiebe drangen durch das Kleid und durch ihre Haut.
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andererseits wird Artus Legitimität durch seinen Vetter Ither in Frage gestellt.
Original | Übersetzung |
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junchêrre, got lôn iu unt ir,'
sprach Artûses bauen sun. den zôch Utepandragûn: auch sprach der selbe wîgant ereschaft ze Bertâne ûfez lant. ez was Ithêr von Gahevienz: den rôten rîter man in hiez.
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Junger Herr, Gott lohne es euch und ihr,
sprach der Sohn von des Artûs Vaterschwester, der war im Haus des Utepandragûn erzogen worden. Und der Held hatte Anspruch erhoben auf die Herrschaft im Land Bertâe, er sei der rechte Erbe. Es war Ithêr von Gaheviez, den nannte man den Roten Ritter. (145, 10-16) |
Der Artushof erscheint hier entgegen seiner Gattungstradition, als Zerrbild seiner selbst und ähnlich wie bei der Gralsgesellschaft wird seine Funktion als Wertezentrum deutlich diskreditiert. Zu erklären ist diese innere Schwäche nur mit dem Versagen Artus, dem es nicht gelingt den Sippenkörper, durch die Rettung der engsten weiblichen Angehörigen, zu heilen. Im gleichen Maße, wie Anfortas Geschlecht unter dem Versagen seiner männlichen Mitglieder leidet, wird die Artusgesellschaft durch den Verschluss und die Isolation ihrer weiblichen Mitglieder geschwächt. In Analogie zu dem defizitären Zustand der männlichen Mitglieder der Gralsgesellschaft zeigt sich das Versagen der Männer des Artushof ebenfalls in einem gestörten Verhältnis zum weiblichen Geschlecht. Ein generationsübergreifender Blick zeigt, dass schon Artus Vater Utepandragun sich eines Frevels schuldig macht. Während eines Turnieres wird seine Frau und Artus Mutter entführt. Artus versucht, wenn auch vergeblich den Entführer zu stoppen, sein Vater jedoch tjostet einfach weiter, ohne sichtbare Reaktion auf den Verlust. (66, 1-6 / 74, 5-12) Jahre später erkennt Artus dann seine eigene Mutter nicht wieder und reagiert bei Erzählungen über gefangene Königinnen auf Schastel marveile nicht einmal. (672, 7-14) Weiterhin richtet sich der König auch direkt gegen den eigenen Sippenkörper, indem er Parzival zu Ither schickt obwohl er um die Möglichkeit eines tödlichen Ausganges des Kampfes weiß. Dass Artus dieses Problem nicht im Sinne des höfischen Wertesystems löst wird an An Königin Ginovers Klage deutlich:
Original | Übersetzung |
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'ôwê unde heiâ hei,
Artûss Werbezeit enzwei sol brechen noch diz wunder,
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Weh und noch einmal weh,
ungeheuerlich ist es zugegangen und moströs, davon muss das königliche Heil des Arts zerbrechen.
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Damit diskreditiert Artus seine Funktion als Friedenstifter und wiederholt das Paradoxon, dass gerade die Bewahrer und damit obersten Repräsentanten der höfischen Normensysteme, die Regelwerke und damit sich selbst korrumpieren. „[Neudeck 1994: vgl. S. 60f.] „All dies verweist auf ein Versagen, das im Frevel gegen das eigene Geschlecht, in der Schädigung des Sippenkörpers durch ihr Oberhaupt Artus kulminiert.“ [Neudeck 1994: S. 61.]
Das Pazifizierungswerk des Gawan
Anmerkungen
- ↑ Im Folgenden stets zitierte Ausgabe: [Parzival].
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
[*Neudeck 1994]Neudeck, Otto: Das Stigma des Anfortas. Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs >>Parzival <<, in: IASL, Bd. 19, Ht. 2 1994, S. 52-75.
[*Czerwinski 198]Czerwinksi, Peter: Der Glanz der Abstraktion. frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter, Frankfurt a.M. & New York 1989.
Textausgabe
[*Parzival]Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.