Das Zauberhündchen Petitcreiu (Gottfried von Straßburg, Tristan)

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Das Hündchen Petitcreiu, Holzschnitt aus dem Jahre 1448 von Anton Sorg from Augsbourg

Das Zauberhündchen Petitcreiu in Gottfrieds von Straßburg Tristan taucht an drei Stellen der Dichtung auf, die jeweils eine logische Einheit darstellen. Zum ersten Mal begegnet Tristan dem Hündchen am Hofe Gilans, des Herzogs von Swales, wo er seit seiner Flucht aus Cornwall lebt (V.15.796-15.914). Von der wundersamen Wirkung des Tieres fasziniert, beschließt er, es Gilan mittels einer List abzugewinnen und Isolde zukommen zu lassen. Er kämpft daraufhin mit dem Riesen Urgan und fordert nach erfolgreichem Kampf das Zauberhündchen als rechtmäßige Belohnung ein. Mit Hilfe eines als Boten fungierenden Spielmanns sendet er das Tier schließlich zu Isolde nach Tintajol (V.16.225-16.300). Diese wiederum gibt vor das Hündchen von ihrer Mutter aus Irland geschenkt bekommen zu haben. Im weiteren Verlauf nimmt Isolde Petitcreiu sorgsam bei sich auf und führt ihn fortan immer mit sich. (V. 16.333-16.402)



Herkunft

Bereits mit der Einführung Petitcreius als herze spil von Avaliu (V.15.798)[1], welcher dem Herzog ûz Avalûn, der feinen lant, von einer gottinne durch libe und durch minne (V. 15.808-15.810) zugesandt worden ist, wird die überirdische, geheimnisvolle Herkunft des Tieres thematisiert und in der folgenden, sehr ausführlichen Darstellung weiter konkretisiert. Seine offensichtliche Zugehörigkeit zur magischen Welt ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Bedeutung Petitcreius symbolisch zu interpretieren ist. Seinen ersten Auftritt hat Petitcreiu in einem Moment, in welchem Tristan aufgrund seiner Entfernung zu Isolde tiefen Liebeskummer empfindet und durch ein unwillkürliches Aufseufzen Gilan auf seine Betrübtheit aufmerksam macht. Daraufhin lässt dieser sich sein Hündchen bringen, welches dank seiner bezaubernden Wunderkraft (vgl craft V.15.813 ; daz was gefeinet V.15.806) unmittelbar dazu in der Lage ist, Tristan von seinem Schmerz zu befreien und ihn seinen Liebeskummer vergessen zu lassen (und nam im sîne triure V.15.873). Dadurch und durch seine Herkunft aus dem Feenreich als Werk einer Göttin ist das Hündchen mitsamt seiner Wirkung eindeutig als Symbol der Minne zu verstehen[2], wobei sich diese auf die beiden Protagonisten in ganz unterschiedlicher Weise auswirkt.

Eigenschaften

Der Erzähler gibt zu Beginn seiner Beschreibungen des wunderlichen äußeren Erscheinungsbildes des Zauberhündchens klar zu erkennen, dass seine Farbe und Zauberkraft so außergewöhnlich sind, daz zunge nie so redehaft, noch herze nie sô wîse wart, daz sîne schoene und sîn art kunde beschrîben oder gesagen. (V.15.814-15.817). Durch das Aufgreifen dieses Unsagbarkeitstopos wird das Außerordentliche, das Fremdartige, das Exorbitante des Zauberhündchens in seiner Komplexität noch um ein Vielfaches gesteigert und kristallisiert damit die bedeutungsschwere Symbolhaftigkeit heraus. Schon sein Name Petit Creiu, kleine Kreatur, deutet die Unbeschreiblichkeit dieses Geschöpfs an. "Die fabelhaften Eigenschaften des Zauberhundes entziehen sich menschlicher Beschreibungskraft und Weisheit. Er ist nicht darstellbar und namenlos: der Name >Petit-Criu< - >kleine Kreatur< - ist nur eine Umschreibung (...).[3]", also lediglich ein Platzhalter für eine Erscheinung, die gemeinhin nicht in Worte zu fassen ist.

Nachdem Gottfried diese eigentliche Unbeschreiblichkeit quasi rechtfertigend vorausgestellt hat, wagt er dennoch den Versuch einer detaillierten Beschreibung.


Aussehen und Attribute

Besonders hervorgehoben in ihrer Deskription werden zwei konkrete Eigenschaften des Aussehens, zum einen das einzigartige Farbenspiel des Fells, zum anderen die ihm ungebundene kleine Glocke (vgl. V.15.813).

Die Fellbeschaffenheit

Den optischen Eindruck des farbenprächtigen Fells beschreibt Gottfried mit ausdrucksstarken, beinahe hyperbolischen Vergleichen, benennt detailliert jeden Aspekt der mannigfaltigen Färbung und präzisiert Petitcreiu somit zu einem wunderprächtigen Geschöpf. Das Außergewöhnliche des bunten Fells liegt in dem Zusammenspiel der einzelnen Farbkomponenten, die auf so fremdartig kunstvolle Weise ineinander übergehen und sich vollkommen miteinander vermischen, dass es weder grüene noch rôt noch wîz noch swart noch gel noch blâ und doch ein teil ir aller dâ (V. 15.834-15.836) erscheint. Zu allem Überfluss schimmert es verschiedenfarbig und rehte purpurbrûn (V.15.837) und erweckt so den Eindruck einer göttlich-sakralen, förmlich erleuchtenden Erscheinung. "Hier ist ästhetisch erreicht, was in der höchsten Form idealer Minne Ereignis wird: ein unlösbares verfließendes Ineinander isolierter Phänomene."[4] Jede der Einzelheiten fügt sich also derart harmonisch in ein vielfältiges Geflecht der intensivsten Farben, dass sie nicht mehr in ihrer jeweiligen Isolation, sondern in ihrem Zusammenspiel nur als vollständige Einheit erkennbar sind. Des Weiteren wird durch die seidig weiche Beschaffenheit des Fells auch die haptische Perzeption angesprochen, welche das Gesamtbild um diese konkret stoffliche Ebene komplettiert.

Das Zauberglöckchen

Analog zu der optischen Aufhebung der "Vereinzelung des Seienden" [5] durch die eigentümliche Fellfarbe, symbolisiert das akustisch wahrnehmbare, süße Geläut des Glöckchens, welches Petitcreiu an einem Kettchen aus Gold um seinen Hals trägt, die aus dieser Aufhebung resultierende, schmerzstillende Kraft, welche Tristan seinen durch die Trennung bedingten Liebeskummer vergessen lässt.


dar an sô hienc ein schelle
sô süeze und sô helle,
dô ez sich rüeren began,
der trûaere tristan
daz er sîner âventiure
an sorge unde an triure
ledic und âne gesaz
unde des leides gar vergaz,
daz in durch Îsote twanc.
(V. 15.847-15.855)


Dieser helle Klang des Glöckchens ist in seiner Wirksamkeit sogar um einiges intensiver als die lindernde Kraft menschlich erzeugter Musik, die im Tristan einige Male erwähnt wird. Während zweiteres zwar den Rezipienten in eine "vage-melancholische[...] Versunkenheit oder betörte[...] Benommenheit"[6] zu versetzen in der Lage ist, gelingt dem Glöckchenklang darüberhinaus für gewöhnlich die vollständige Befreiung von andauerndem Liebeskummer und schmerzhafter Erinnerung. Allerdings kann dieser Schellenklang nur dann seine volle Wirkung entfalten, solange es unmittelbar anwesend ist. Sobald es sich von Tristan entfernt, überkommt diesen mit der zuvor verdrängten Erinnerung an Isolde wieder die mittlerweile noch verstärkte Traurigkeit. Dem Effekt des Glöckchens wohnt also demnach ein gewisses Suchtpotenzial inne. Dies bezeugt auch Gilan insofern, als dass er Tristan als Belohnung für dessen Sieg über den Riesen zunächst seine Schwester und die Hälfte seines Besitzes anstelle des Zauberhündchens anbietet, da ihm außer seinem eigenen Leben und seiner Ehre nichts so lieb ist, wie dieses (daz beste mîner ougen spil und mînes herzen wunne vil. V.16.261-16.262).

Symbolik

Diskrepante Auswirkung auf die Liebenden

Bereits weiter oben wurde die hohe Symbolik angedeutet, welche das Zauberhündchen als allegorischer Inbegriff der Minnebeziehung zwischen Tristan und Isolde besitzt. Obwohl die beiden Protagonisten in diskrepanter Weise auf das Tier reagieren, veranschaulicht gerade diese voneinander abweichende Auffassung den symbolischen Sinngehalt.
Während Tristan durch die bezaubernde Wirkung des Glockenklangs die absolute Erlösung jeglicher Erinnerung an Isolde und damit einhergehend des Liebeskummers erfährt, und es ihr daraufhin in einem klaren Moment zukommen lässt, um auch sie den Genuss des Vergessens spüren zu lassen, fürchtet Isolde vielmehr die Linderung ihres Trennungsschmerzes, da sich durch ihre Unbekümmertheit Tristans Freude in Kummer verkehrt (vgl. V.16.359-16.387). Mit ihrer rhetorischen Frage "ohî ohî! und vröuwe ich mich, wie tuon ich ungetriuwe sô?" (V.16.378-16.379) bezeichnet sie sich in ihrer monologische Klage bereits selbst als Treulose und verzichtet somit auf die verführerische Wirkung, indem sie Petitcreiu das Glöckchen vom Hals bricht, wodurch die Kette al ir reht und al ir craft (V. 16.391) verliert.

Beiden Verhaltensweisen, so unterschiedlich sie auch ausfallen, liegt der gleiche Grundgedanke von Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit zugrunde. Tristan möchte Isolde unter Einsatz seines Lebens die gleiche Freude an dem Zauberhündchen gewähren, die auch ihn all seine Qualen vergessen ließ. Solange er nicht in der Bannkraft des Glöckchens, also in seiner die Erinnerung ausklammernden Isolation verweilt und sich der Liebe zu Isolde entsinnt, handelt er absolut solidarisch und verzichtet ihres Wohlergehens wegen auf die eigene Schmerzlinderung. Bevor Isolde jedoch ihrerseits der vollen Wirkung des Zauberglöckchens erliegen und in der Erinnerungslosigkeit Befreiung des Trennungsschmerzes erfahren kann, beginnt sie eindringlich zu reflektieren und vergrößert dadurch ihren Liebeskummer in ähnlichem Maße, wie es bei Tristan nach dem Einfluss Petitcreius der Fall ist. Da sie sich auch über die Distanz hinweg dermaßen mit Tristan verbunden fühlt, dass sie keine Freude empfinden kann, wenn dieser zur gleichen Zeit leidet, zerstört sie irreversibel die magische Kraft der Glocke. Solange die beiden Liebenden also völlig Herr ihrer Gedanken sind und nicht, wie Tristan, zeitweise unter betörendem Einfluss stehen, fühlen sie sich selbst über die Entfernung hinweg miteinander verbunden und manifestieren dies mittels ihrer jeweiligen Gestik: Tristan verzichtet zugunsten Isoldes auf eine Fortsetzung des schmerzbefreiten Zustandes, Isolde bekräftigt die währende Treue, indem sie das Geschenk verschmäht und entsprechend gar nicht erst in den unkontrollierbaren Strudel des Vergessens gerät. "Das Wunderhündchen wird [dadurch] zum Sinnbild nicht nur der gegenseitigen Minne, vielmehr auch zum Inbegriff der beidseitigen Selbstlosigkeit und zu einem Bild der steten Vermischung von Minne und Leid"[7]

Wie lässt sich nun aber erklären, dass das Zauberglöckchen überhaupt einen derartigen Effekt auf Tristan ausüben kann, während die Reaktion Isoldes doch eindeutig konsequente Standhaftigkeit als frei wählbare Option vorführt? Offensichtlich kann die gegenseitige Minne, die aufgrund der lokalen Entfernung der Liebenden nur auf gemeinsamen Erinnerungen aneinander beruht, lediglich dann selbstlos und leidvoll sein, wenn beide klaren Verstandes sind. Das Zauberglöckchen jedoch, dessen Erscheinung alle Sinne anspricht, ist "in seiner magischen Präsenz die Ikone einer haptisch-sensorischen Unmittelbarkeit, die alle Abstraktion (und die abstrakteste aller mentalen Leistungen ist Erinnerung) zu verdrängen vermag, also keinen Raum läßt für Ungegenwärtiges, Vermitteltes."[8] Tristan ist bereit, sich dem von Petitcreiu an ihn herangetragenen Vergessen hinzugeben, während Isolde der unmittelbaren Gegenwärtigkeit mit Reflexion entgegentritt und somit weit rationaler vorgeht. Dies offenbart die den beiden Protagonisten zugrunde liegende Divergenz hinsichtlich ihres (Charakters/Mentalität/Denkens/passendes Wort). Unter diesem Gesichtspunkt wird die "Diskrepanz der Wahrnehmung" als "Indikator einer Brechung in der Tristanminne" interpretiert und nicht mehr eindeutig als "Zeichen von unverbrüchlicher Zweisamkeit"[9], als welches das Geschenk an Isolde in der Forschung vorrangig gedeutet wird. Demnach ist die Petitcreiu-Episode ein Vorgriff auf das Scheitern der Minne Tristan und Isoldes, wenn Tristan auch am Ende das Vergessen wählt und Isolde Weißhand heiratet.

Vorausdeutende Symbolik

Ausführliche Hinweise finden sich ebenfalls im Philipowski-Aufsatz; zugänglich mit Uni-Lizenz über VPN "e-journals"

Literatur

  1. Sämtliche in diesem Artikel zitierte Textangaben aus dem Tristan entstammen dieser Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980
  2. Hahn, Ingrid: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Hrsg. von Friedrich Ohly, Kurt Ruh, Werner Schröder. Eidos Verlag München. 1963. S. 91.
  3. Philipowski, Katharina-Silke (1998): Mittelbare und unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der Petitcriu-Episode des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (120), S. 29–35, dort S. 31.
  4. Hahn, Ingrid: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Hrsg. von Friedrich Ohly, Kurt Ruh, Werner Schröder. Eidos Verlag München. 1963. S. 91.
  5. Hahn, Ingrid: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Hrsg. von Friedrich Ohly, Kurt Ruh, Werner Schröder. Eidos Verlag München. 1963. S. 91.
  6. Gnaedinger, Louise: Musik und Minne im Tristan Gotfrids von Strassburg. Pädagogischer Verlag Schwann. Düsseldorf 1967. S. 73.
  7. Gnaedinger, Louise: Musik und Minne im Tristan Gotfrids von Strassburg. Pädagogischer Verlag Schwann. Düsseldorf 1967. S. 27.
  8. Philipowski, Katharina-Silke (1998): Mittelbare und unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der Petitcriu-Episode des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (120). S. 29–35. S. 32.
  9. Philipowski. S. 29.