Minnelist (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Beschreibung, Erläuterung und Interpretation der zahlreichen Listen und Gegenlisten im Zuge der heimlichen Liebesffäre zwischen Tristan und Isolde.
Definition
Allgemein lässt sich der Begriff List auch mit "Irreführung" oder "Täuschung" übersetzen, wobei diese Bedeutungen in ihrer harmlosen Konnotation die absichtlich böswilligen Impulse, auf denen die Listen im Tristan zumeist basieren, wohl nicht angemessen berücksichtigen. Aufgrund dessen sollte diesbezüglich differenziert von zwei Arten der List gesprochen werden, nämlich zum einen von der zwar listigen, aber nicht von Grund auf böse motivierten Täuschung einer Person, und zum anderen von hinterhältiger Arglist, welche aus niederen Beweggründen und zum intendierten Schaden Anderer ausgeführt wird und somit als moralisch verwerflich zu bewerten ist.
Das Motiv der List ist eine charakteristische Eigenschaft in höfischen Erzählungen. Es bietet dem Rezipienten einen gewissen Spannungsgrad, den er im Laufe der Erzählung bewandert, da eine List in der Regel eine weitere impliziert. Jede List reflektiert ein bestimmtes Moment, wobei es hier unweigerlich zu Wiederholungen kommt.
Eines jener typischen in der List reflektierten Elemente ist beispielsweise der erhoffte eigene Vorteil des Handlungsträgers, oftmals evoziert durch tief wurzelnden Neid. Darüber hinaus existieren noch zahlreiche weitere Auslöser für eine List, zum Beispiel Selbstschutz (List Isoldes). Charkteristisch für das gesamte Konzept der komplizierten Liebessituation im Tristan ist die unkontrollierbare irrationale Kraft, welche die Emotion den Protagonisten zu verleihen imstande ist und welche ihrem prädestinierten Scheitern zum Trotz immer wieder zu folgenschweren Hinterhalten, Verstrickungen und Manipulationen führt. An dieser Stelle sei allerdings auf die Notwendigkeit der Abgrenzung von List und erst darauffolgender, reaktiver Gegenlist hingewiesen.
Übersicht der Listen
Marjodo an Marke
Die List von Marjodo an Marke, die er wegen Tristans Verrat an der Freundschaft zu Marjodo durch die Affäre mit Isolde ausübt, ist durch Marjodos schmerzvolle Enttäuschung und Neid angetrieben. Einerseits empfindet Marjodo Gram aufgrund seiner unerwiderten freundschaftlichen Treue zu Tristan, andererseits Neid aufgrund der Tatsache, dass Tristan an seiner Stelle Isolde für sich gewinnen kann.
Das Ziel der Intrige ist, König Markes Aufmerksamkeit auf die bislang geheime Affäre zwischen Tristan und Isolde zu lenken. In erster Linie nutzt Marjodo Marke als eine Art Mittel zum Zweck, da sich die List hinsichtlich des intendierten Schadens eher gegen Tristan und Isolde richtet. Demnach ist in erster Linie auch nicht Marke, sondern vielmehr das Liebespaar der Leidtragende des Verrats.
- in reizete haz unde leit
- ûf die grôzen unhöfscheit,
- daz er ir ding lûtbaerete
- und ez al dâ vermaerete.
- (V. 13609-13612)
Tristan nimmt das veränderte Verhalten seines Freundes jedoch derart feinfühlig wahr, dass er sich gegen die drohende Entdeckung seines Geheimnisses zu wappnen weiß. Er bittet in diesem Zuge Isolde, von da an mit besonderer Vorsicht und Bedacht vorzugehen, um zu gewährleisten, dass ihre Liebe zueinander von Marke weitestgehend unentdeckt bleibt.
Marke an Isolde (V. 13673 - 13722)
Die darauffolgende List Markes an Isolde zielt auf der Enthüllung der Liebesbeziehung zwischen seiner Ehefrau und seinem Neffen Tristan ab. Von Marjodo angestiftet, versucht Marke Isolde eine Falle zu stellen, in der Hoffnung, auf diese Weise ein Indiz für ihren Ehebruch zu erhalten. Marke prätendiert, demnächst eine Wallfahrt zu unternehmen und fragt Isolde unter diesem Vorwand, in wessen Obhut sie ihrer Meinung nach während seiner Abwesenheit am besten aufgehoben sei. Isoldes vorschnelle Antwort, der tapfere und kluge Tristan sei für dieses Vorhaben am vortrefflichsten geeignet, weckt Markes Argwohn.
Erste Gegenlist Isoldes (V. 13853 - 14021)
Nach Rücksprache mit Brangäne erkennt Isolde die Naivität ihrer unüberlegten Reaktion und bespricht mit ihr eine geeignete, alternative Antwort für den Fall, dass Marke noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen sollte. Als König und Königin des Nachts erneut zusammenliegen und Marke sein Bedauern über seine baldige Abreise kundtut, beginnt Isolde zu weinen und klagt, sie habe seine Ankündigung beim letzten Mal nur als Spaß verstanden und erkenne nun erst den Ernst der Lage. Sie wirft ihrem Mann vor, er ließe sie alleine zurück und sie sei ihm völlig gleichgültig (V. 13925). Darüberhinaus gibt sie zu verstehen, sie hege für den heuchlerischen, falschen Tristan keinerlei Sympathie und behandele ihn lediglich deshalb so freundlich, weil er Markes Neffe sei. So betont Isolde, sie würde lieber sterben, als während der Abwesenheit Markes in Tristans Obhut zu verweilen. Ihr Anliegen trägt sie mit derart schauspielerischer Authentizität vor, dass der leichtgläubige Marke seinen Verdacht wieder fallen lässt und sich ihrer Unschuld sicher ist.
Markes und Melots List
Melot reitet zu Marke in den Wald und erzählt ihm von den heimlichen Treffen zwischen Isolde und Tristan im Garten an der Quelle. Marke reitet mit Melot zum Garten und sie verstecken sich in einem Ölbaum und beobachten von dort aus das Treffen zwischen Tristan und Isolde, welches von Melot iniziiert wurde. Tristan und Isolde erkennen die Falle und inszenieren ein Gespräch, welches von Isoldes (angeblicher) Abneigung gegen Tristan handelt. Tristan bittet Isolde Marke seine Bitte weiter zu leiten, dass er in einer Woche das Land verlassen möchte. Marke meint zu erkennen, dass der Verdacht gegenüber Isolde und Tristan unberechtigt ist und legt den Streit mit Tristan nach dessen offizieller Rückkehr an den Hof bei. Im weiteren Verlauf kommt es zwar nicht zu einem explizit konkretisierten Zwischenfall, doch können Tristan und Isolde ihre Liebe trotz allem Bemühen nicht vor ihrem Umfeld verbergen und beschwören Markes Groll herauf. Endgültig mit seiner Geduld am Ende beschließt er die Verbannung aus seinem Reich, in deren Folge Tristan und Isolde Unterschlupf in der Minnegrotte finden.
Die letzte List
Einordnung in die Gesamthandlung
Nachdem Marke während eines Jagdausfluges zufällig in jener geheimnisvollen Grotte Tristan und Isolde einander abgewandt schlafend und mit einem Schwert zwischen sich liegend entdeckt, zweifelt wiederum an der Liebe zwischen Tristan und Isolde (V. 17455-17535). Die Schönheit Isoldes und seine Liebe zu ihr bringen Marke schließlich dazu, Frau und Neffen zu verzeihen (V. 17536-17626). Er berät sich mit seinem Kronrat und beschließt, beide zurück an den Hof zu kommen zu lassen (V. 17659-17723). Nach einer in der Person Markes beispielhaft dargestellten Ausführung über die „Blindheit der Liebe“ (V. 17723-17816) folgt der bekannte houte-Exkurs (V. 17817-18114). Tristan und Isolde leben fortan wieder an Markes Hof. Ihr Empfinden füreinander ist jedoch weiterhin ungetrübt und der Wunsch nach Zweisamkeit größer denn je. Der zunehmenden Bewachung der beiden durch die huote-Instanzen zum Trotz, lässt sich Isolde in ihrem verzweifelten Begehren nach Tristan schließlich zu einer letzten List hinreißen (V. 18115-18138).
Ablauf
- si suohte zuo z’ir state schate,
- schate, der ir zuo z‘ir state
- schirm unde helfe baere,
- dâ küele und eine waere.[1]
- (V. 18141-18144)
Isolde lässt ein Bett an die schattige Stelle bringen und schickt mit Ausnahme von Brangäne alle Hofdamen fort (V. 18145-18158). Dann sendet sie eine verlockende Botschaft an Tristan, der "daz obez [nam], daz ime sîn Êve bôt, und mit ir den tôt [az]." (V. 18163 f.)
Als Tristan zu Isolde gelangt, geht Brangäne zu den anderen Damen und befiehlt den Kämmerern, niemanden in den Garten zu lassen (V. 18165-18177).
Genau in dem Moment jedoch, als sich einer der Kämmerer vor die Tür begibt, stürzt Marke "vil harte unmüezeclîche" herein (V. 18183). Auf seine Frage, wo Isolde sei, behaupten zwar alle Damen einhellig, dass sie schlafe. Die "verdâhte" (V. 18186) Brangäne jedoch "erschrac unde gesweic" (V. 18187) und gibt somit Anlass zum berechtigten Zweifel an den Unschuldbekundungen der übrigen Anwesenden.
Daraufhin eilt Marke in den Garten, sieht Tristan und Isolde "getwungen unde geslozzen" (V. 18207) beieinander liegen und hat nun den endgültigen Beweis (V. 18195-18230). Er verlässt den Garten und fordert seinen Kronrat und seine Vasallen auf, sich den Beweis selbst anzusehen (V. 18231-18244).
Während Marke von dannen eilt, bemerkt Tristan ihre die Entdeckung. Er weckt Isolde auf, beschließt, Markes Hof so schnell wie möglich und endgültig zu verlassen und verabschiedet sich von seiner Geliebten (V. 182445-182258).
Als die Hofräte den Schauplatz erreichen, finden sie nur mehr Isolde vor. Sie rügen daraufhin Markes vermeintlich ungerechtfertigt eifersüchtiges Verhalten und bringen ihn von seinen Racheplänen ab (V. 18395-18404). Dies verschafft Tristan genügend Zeit, um Cornwall mitsamt seinem Gefolge zu verlassen.
Fazit der letzten List
Obschon der Erzähler selbst Isoldes Handlung als "liste" (V. 18137) bezeichnet unterscheidet sie sich wesentlich von den vorangegangenden. Eine List zeichnet sich normalerweise durch zugrunde liegende Findigkeit und eine raffinierte Strategie aus, diese letzte jedoch scheint vielmehr von Sehnsucht und überstürzter Lust getrieben. Vor allem in Anbetracht des ständigen Misstrauens seitens Markes und seines Gefolges, zeugt es von unvernünftiger Leichtfertigkeit, das Bett zwar im Schatten, aber dennoch so gut wie ungeschützt im Garten zu platzieren und sich einzig darauf zu verlassen, dass die Kämmerer niemandem den Zutritt gewähren. Zwar vergewissert sich Isolde noch der Mithilfe ihrer Vertrauten Brangäne, deren Gedankenversunkenheit und versehentliches Aufschrecken bei der Ankunft Markes trägt allerdings in entscheidendem Maße zu der Entdeckung in flagranti des Liebespaares bei.
Bemerkenswert ist dabei, dass Tristan und Isolde deart unter der unstillbaren Begierde nacheinander leiden, dass Isolde in ihrer Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit ihrer Situation schlichtweg ihr früheres rationales Gespür verliert und sich in ihrem Verlangem ungeachtet aller Risiken zu dieser waghalsigen List hinreißen lässt. So scheitert diese zwangsläufig. Da Tristan aber schnell und wohlüberlegt reagiert und kurz darauf verschwindet, bevor sie gemeinsam vom Hofstaat entdeckt werden, kann Schlimmeres verhindert werden. Zwar ist Marke nun endgültig von dem Verrat überzeugt und eine Trennung der Liebenden ist unabwendbar, doch rächt sich Marke nicht und Isoldes Status am Hof bleibt unangetastet.
Impetus der List - Aktion und Reaktion
Zunächst ist zwischen den Listen Markes und seiner Berater einerseits und den Listen Isoldes und Brangänes andererseits zu differenzieren, da beide Parteien auf gänzlich unterschiedliche Art agieren. Durch Neid, Boshaftigkeit und andere unehrenhafte Verhaltensweisen Marjodos und Melots wird in Marke immer wieder Misstrauen geschürt, sodass er anfängt, zunehmend an der Treue seiner Frau Isolde zu zweifeln. An dieser Stelle ist eine Unterscheidung zwischen den Beratern Marjodo und Melot notwendig. Marjodo ist Tristans Freund, der dessen Abwesenheit des Nachts gewahr wird und ihm aus dem gemeinsamen Schlafraum nachschleicht. Er sieht ihn mit Isolde vereint und fühlt sich so von Tristan betrogen. Inwiefern Tristan Marjodo betrügt, wird in den Versen 13590-13636 deutlich. Einerseits fühlt sich Marjodo in seinem freundschaftlichen Empfinden verletzt, weil Tristan ihm nichts von seinem Verhältnis zu Isolde erzählt und somit ein Geheimnis zwischen den Freunden steht. Andererseits empfindet er Hass und Schmerz, wo er vorher Liebe und Zuneigung empfand. Liebe und Zuneigung sind also Hass und Schmerz gewichen, was auffälligerweise durch die komplementäre Gegenüberstellung der Begriffe hervorgehoben wird. In Tristans Verhältnis zu Isolde sind Schmerz und Zuneigung hingegen gleichzeitig vorhanden, wenn sie sich im sehnsüchtigen Liebeskummer nacheinander verzehren. Diese Darstellungsweise lässt den eindeutigen Schluss zu, dass Marjodo eifersüchtig auf Isolde ist, sie "stiehlt" ihm gewissermaßen seinen besten Freund. Marjodo fühlt sich allerdings zu stark in seiner Ehre gekränkt, um diese Zurückweisung zu akzeptieren. In seinem Argwohn geht er zu Marke, erzählt ihm skrupellos von Gerüchten über eine Affäre zwischen den Protagonisten und weckt damit dessen legitime Zweifel. Obwohl er zwar keine konkreten Hinweise über seine eigene Entdeckung liefert, hilft er Marke dennoch, Fangfragen zu formulieren, um Isolde eines Ehebetrugs zu überführen. Als seine Listen allerdings erfolglos bleiben, vertraut er Marjodo Melot diese Aufgabe an. Melot, ein intriganter Zwerg, stimmt unter der Voraussetzng zu, als Lohn ewige Ehrung durch Marke zu erfahren (V. 14235-14260). Während Marjodo wegen Enttäuschung über die Illoyalität seines Freundes handelt Er versucht also aus purem Eigennutz, Ruhm- und Gefallsucht, dem Liebespaar zu schaden. Schon im Artusroman sind solch unehrenhaften Motivationen die Voraussetzung, das Ziel zu verfehlen und gesellschaftlich umso tiefer zu fallen. Ehre vermehrt sich nur durch die Hilfe, die man einem Schwächeren zukommen lässt. Melot ist also das personifizierte Negativ-Beispiel eines höfischen Ritters. Sicherlich ist Marjodo dies auch - aber diesen können wir zu gewissen Teilen entschuldigen, weil er aufgrund einer emotional Fehlstellung unhöfisch handelt. Markes Berater und deren erdachte Listen - Marke selbst spinnt nie die Intrige - sind also darauf aus, Zwietracht zu streuen, um einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen; um Marke geht es ihnen dabei nie! Würde es ihnen um Marke gehen, wäre ihr Verhalten wieder höfisch. Marke wäre dann die schwache Person, der geholfen wird. Zu Isoldes Gegenlisten: Isolde wird von Brangäne beraten und zwar so, dass Brangäne nie einen eigenen Nutzen aus der Angelegenheit zieht. Ihr geht es nur um das Wohlergehen ihrer Isoldes. Sie lässt sich sogar von Marke entjungfern, damit die Affäre nicht auffliegt. Damit nimmt sich Brangäne selbst vom Heiratsmarkt. An Isolde handelt Brangäne höfisch und steht ihr mit klugem, integrem Rat zur Seite. Isolde selbst ist ein intelligenter Spielball. Sie reagiert „nur“ auf die Angriffe Markes und weicht ihnen mehr und weniger geschickt aus, schafft es sogar, Markes Listen gegen ihn selbst zu wenden. Man könnte sagen, sie verdreht ihm die Worte im Mund. In dieser Passivität bleibt Isolde aber immer sehr flexibel, so dass sie sich auf jede List neu einzustellen vermag. Was sie auch können muss, denn sie weiß lediglich, dass sie auf der Hut vor Marke und seinen Spähern sein muss, niemals aber wie die Falle genau aussehen wird. Ihr Vorteil ist, dass sie sich anzupassen weiß und aus der Defensive heraus angreifen kann. Survival of the fittest.
Unterschiede der Intrigen
Wieder beginnen wir mit den Männern: Wieder müssen wir zwischen Marjodo und Melot unterscheiden. Marjodo rät Marke immer zur verbalen Falle; ich würde behaupten, dass diese Art des Kreuzverhörs zwar die weniger gefährliche Art von Falle für Isolde ist, aber die intelligentere, da sie in ihrer Struktur flexibel bleibt - immerhin geht es um Worte, die so oder so zu einem Netz gestrickt werden können. Ein Kalkül ist in der List des „Wortflechtens“ folglich möglich. Wäre Marke also ein besserer Rhetoriker, würde er Isolde mit seinen Fragen mehr zusetzen. Da sie aber verbal überlegen zu sein scheint, kommt Marke mit Marjodos Hilfe nicht zum Ziel. Melot dagegen geht viel grober vor. Seine Intrigen sind haptisch, präsent und schnappen sie zu, gibt es anscheinend kein Entkommen. So geht es bei Melots Rat nicht mehr um kalkuliertes Fragen stellen, sondern darum, das Paar in flagranti zu erwischen (siehe die Baumgartenszene), ihre Spuren sichtbar zu machen (siehe das Mehl beim Aderlass) oder einfach das Liebespaar voneinander zu trennen und es sozusagen auszuhungern, bis seine Sehnsucht so groß wird, dass es einen Fehler macht, aus dem man ihm einen Strick knüpfen kann. Doch wird die Falle entdeckt, ist es ein Leichtes sich ihr zu entwinden. Freilich gelingt das Isolde in erster Linie wieder verbal, doch umso leichter, da die Falle doch einen starren Bau hat und sich, einmal aufgestellt, in ihrer Ausrichtung nicht mehr beeinflussen lässt. Betrachtet man nun die Gegenlist der Frauen, so stellt man wieder fest, dass sie nur richtig reagieren müssen, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Isolde versteht das geschickt mit Worten zu tun - wie schon erwähnt - und natürlich gehört hier und da auch das Glück dazu, welches den Liebenden hold ist. Wobei man nicht ganz entscheiden kann, ob es nicht doch eher das Unvermögen der Gegner ist, welches man als Glück des Paares interpretiert. Man denke zum Beispiel daran, dass Tristan die Schatten Markes und Melots entdeckt. Erfahrenen Jägern sollte solch ein Fauxpas eigentlich nicht passieren. Erwähnenswert ist auch, dass Isolde nie in die unangenehme Situation kommt, lügen zu müssen. In der Gottesurteilszene kann sie getrost bei ihrer Seele und Gott schwören, dass sie nie einen anderen Mann in Armen hielt als Marke und den Pilger, der sie von einem Schiff an Land trug, weil sie von langer Hand Fäden sponn. Sie erschafft einen doppelten Boden der Wahrheit, indem sie es so einrichtet, dass Tristan als Pilger verkleidet zu einem Treffpunkt kommt und alle sehen, wie er als Pilger - die Identität des Tristans werden sie nämlich nicht gewahr - Isolde in Armen hält und sie an Land trägt. Isolde spinnt also nicht nur Intrigen, die kompliziert angelegt sind, sie spinnt sie auch so, dass sie niemals ihren höfischen Charakter, der auch durch Wahrheitstreue definiert wird, schädigt. Nach Integrität, Fairness und Wahrheitstreue fragen Marjodo und Melot nicht.
List als Attribut des Weiblichen
- wan an den vrouwen allen
- enist nimêre gallen,
- alsô man ûz ir munde giht,
- noch enhabent dekeiner trüge niht
- noch aller valsche keinen,
- wan daz si kunnen weinen
- âne meine und âne muot,
- als ofte sô si dunket guot.
- (V. 13895-13902)
Gottfried stellt hier das Intrigenspinnen als etwas Typisches für Frauen dar. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass das Frauen genauso sehen. Sein Kommentar, dass Frauen auf Anhieb und so viel sie wollen weinen können, ohne wirklichen Grund, um so zu bekommen, was sie wollen, kann in unserer Überlegung ein weiterer Punkt sein, der für den Erfolg von Isoldes Listen und den Misserfolg der Listen Markes gewertet werden kann. Wenn nämlich alles Listige eine weibliche Charaktereigenschaft oder besser dem weiblichen Vermögen zugerechnet wird, kann die männliche Seite überhaupt nicht gegen die zwei Spinnerinnen bestehen - ihr Versagen wäre schon damit zu begründen, dass sie keine Frauen sind. In so einem Fall haben Männer (nach Gottfried) keine Chance, ihren Mann zu stehen. Dass Tristan an keiner einzigen Intrige beteiligt ist, muss zudem als positives Argument berücksichtgt werden. Wäre er als Mann beteiligt, würde er den Erfolg eher gefährden. Dass er der Entdecker der Schatten in der Baumgartenszene ist, spielt hier keine Rolle, weil er als passiver Beteiligter zwischen die Fronten gerät, Isolde zwar zu warnen weiß, diese aber diejenige ist, die die Situation rettet.
PRO Isolde: + 8
- selbstlose Brangäne als Beraterin
- offensiv aus der Defensive heraus
- höfisch
- verbal versiert, eloquent
- intelligent
- weitsichtig
- kalkulierend und vorsichtig
- weiblich und somit im Heimvorteil
CONTRA Marke und Berater: - 8
- unhöfische Berater
- aggresiv
- verbal unterlegen
- nicht so raffiniert wie Isolde
- intrigant (pejorativ gelesen)
- kurzsichtig
- plump und durchschaubar
- männlich und somit nicht in der richtigen Disziplin
Ergebnis: 16:0 für Isolde und Brangäne, falls man die Minuspunkte der Männer als Eigentore werten möchte.
Moralische Bewertung des intriganten Verhaltens
Einzelnachweise
Literatur
- Zitationen aus dem Tristan-Text sind zu finden in: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1 u. 2:Text, Bd.3: Kommentar, 8./9./12. Aufl., Stuttgart 2007-2008 (RUB 4471-4473)
- Hollandt, Gisela: Die Hauptgestalten in Gottfrieds Tristan: Wesenszüge, Handlungsfunktion, Motiv der List. Berlin 1966 (Philologische Studien und Quellen; 30).
- Semmler, Hartmut: Listmotive in der mittelhochdeutschen Epik. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur. Berlin 1991 (Philologische Studien und Quellen; 122).
- Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg. Reclam Universal Bibliothek Nr. 17665. Stuttgart 2007.
- Warning, Rainer: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im 'Tristan'. In: Waring, Rainer/ Neumann, Gerhard (Hg.): Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Freiburg i.Br. 2003, S. 175-212.