Verwandtschaftsbeziehungen (Reinhart Fuchs)
In diesem Artikel soll es um die verwandtschaftlich scheinenden Beziehungen zwischen Reinhart Fuchs und vielen anderen Tieren gehen. Häufig ist die Rede von Vettern, Neffen oder Patenkindern - obwohl eigentlich eine offensichtliche Abgrenzung durch verschiedene Spezien besteht. Nun drängt sich die Frage auf, in wie weit diese Verwandtschaftsbeziehungen die Handlung in der Geschichte 'Reinhart Fuchs' (Heinrich der Glichezare, 12. Jahrhundert) beeinflussen und was es mit der großen "Familie der Waldtiere" auf sich hat. Diese Themen sollen im folgenden Artikel genauer betrachtet werden.
Begriffsklärung: Verwandtschaft am Ende des 12. Jahrhunderts
Bevor es an konkrete Textstellen und die Analyse geht, muss zunächst geklärt werden, welche Bedeutung den Verwandtschaftsbezeichnungen im Mittelhochdeutschen überhaupt zukam. Recht schnell wird klar, dass die einzelnen Begriffe wohl noch nicht so fest belegt sind, wie wir es heute aus dem Neuhochdeutschen kennen. So kann "neve" beispielsweise Neffe, Onkel und Vetter zugleich bedeuten.[1] Ebenso verhält es sich mit dem Wort "gevater", welches sich sowohl auf einen tatsächlich biologischen Verwandten, als auch auf einen 'Freund der Familie' beziehen kann. Diese Auslegung wird auch in dem Bündis von Reinhart Fuchs mit der Wolfsfamilie deutlich, indem er als "gevater" (vgl. RF, Vers 405) aufgenommen wird.[2]
Textstellen, die auf verwandtschaftliche Verhältnisse verweisen
Reinhart Fuchs, Verse 176-191: Hier geht es um die Begegnung mit seiner "Kusine", der Meise, noch recht zu Beginn der Erzählung, nachdem Reinhart bereits einige Beute entwischt ist. "Mit der Meise geht es dem Reinhart Fuchs nicht besser. Er biedert sich als Gevatter an, stellt sich verliebt, wünscht einen Kuß." [3] ; gevater (mhd.) = Gevatter, Freund, Nachbar im Nhd.[4]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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vil harte in hvngern began. | Gewaltig knurrte ihm der Magen. |
Do gehort er ein meyselin. | Da hörte er eine kleine Meise. |
er sprach:,got grveze evch, gevater min! | Er redete sie an;"Grüß Gott, liebes Kusinchen! |
ich bin in einem geluste, | Ich bin in einer Laune, |
daz ich gerne chvste, | daß ich am liebsten küssen möchte; |
wan, sam mir got der riche, | aber, beim mächtigen Gott, |
dv gebares zv vremdicliche. | du benimmst dich so eigentümlich. |
gevatere, dv solt pflegen treuwen! | Kusinchen, du musst deine Treue unter Beweis stellen. |
sam mir die trewe, die ich dinem kinde | Bei der Treue, die ich deinem Kind, |
bin schvldic, daz min bate ist, | das ja mein Pate ist, schuldig bin: |
die meyse sprach: ,Reinhart, | Die Meise erwiderte:" Reinhart, |
mir ist vil manic ubel art | man hat mir oft genug viele üble Dinge |
von dir gesaget dicke. | von dir erzählt. |
Reinhart Fuchs, Verse 404-406, erste Begegnung mit den Wölfen & Aufnahme als Vetter (veter, mhd. = Onkel (Vaterbruder),Vetter (Brudersohn), Verwandter (väterlicherseits) im Nhd.) in die Familie. "Reinhart und Isengrin schließen einen Gesellenbund in gegenseitigem Interesse, wie es der Fuchs formuliert [...]. Diese Gevatterschaft [mhd. gevaterschaft = Nhd. Freundschaft] ist dann die Voraussetzung für Reinharts Werbung um Hersant [...]." [5]; In RF Vers 687 schließen Reinhart Fuchs und Isengrin dann eine Bruderschaft (engeres Verhältnis, Steigerung) [6]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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si wurden alle des in ein, | Sie [der Wolf Isengrin mit seiner Frau Hersant und den beiden Söhnen] kamen überein, |
daz er in zv gevatern nam do, | daß er ihn als Vetter in die Familie aufnähme, |
des wart er sint vil vnvro. | woran er später noch alle Freude verlieren sollte. |
Auflistung der verwandschaftlichen Beziehungen
Wie auch der Charakter jedes einzelnen Tiers sehr auf menschliche Werte personifiziert erscheint, stechen auch die verwandtschaftlichen Beziehungen ins Auge. Kompatscher-Gruftler erläutert in seinem Aufsatz 'Mensch-Tier-Grenze', dass diese gesellschaftliche Konstruktion von Tieren "historisch und kulturell bedingt"[7] ist. Neben Kompatscher-Gruftler beleuchtet auch Karl Bertrau die Konstellation der handelnden Tiere stellt die Beobachtung auf, dass die "zwischenmenschlichen, privaten Tierverhältnisse" von "rücksichtsloser Fressgier" und "untreuer Freundschaft", bzw. Liebe bestimmt sind.[8] Somit lohnt sich ein genauerer Blick auf das Themenfeld der Verwandtschaft, wobei häufig auch eine Verbindung zu Herrschaft und Gewalt hergestellt werden kann.
Bereits bei der ersten Begegnung mit anderen Tieren, in diesem Fall mit dem Huhn Frau Pinte und ihrem Mann Scantecler, zeigt sich ein hohes Maß an Bekanntschaft und beinahe Familiarität zwischen ihnen. Zwar wird die versuchte List Reinharts schnell aufgedeckt, dennoch erzählt er über seinen Vater und den des Scantecler.[9] Die beiden hätten sich immer höflichst begrüßt und eine gute Bekanntschaft gepflegt. Ob diese Geschichte wahr ist oder nicht, sei zunächst dahin gestellt - Scantecler erscheint sie wohl so glaubwürdig, dass er sich auf Reinharts Sticheleien einlässt. Obwohl der Mann von Frau Pinte vollständig unterlegen scheint, entkommt er aus Reinharts Fängen und kann zurück zum Bauernhof eilen. Besonders der Anfang dieser Szene, die Begrüßung also von Fuchs und Hahn, erinnert an eine beinahe dörfliche Gemeinschaft zwischen den Tieren.
Literaturverweise
- ↑ Reclamausgabe "Reinhart Fuchs", 2005, S.155, Anmerkung 12.
- ↑ RF, S.154f., Anmerkung 10
- ↑ Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.16.
- ↑ Henning: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 6. Auflage; ebenso alle weiteren übersetzungstechnischen Angaben
- ↑ Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.19.
- ↑ siehe Ruh_ReinhartFuchs_1980, S.20.
- ↑ Kompatscher-Gruftler: Mensch-Tier-Grenze, in: Human-animal studies: eine Einführung für Studierende und Lehrende, 2017, S.31.
- ↑ Betrau: Über Literaturgeschichte, 1983, S.20.
- ↑ Heinrich der Glichezare_ Reinhart Fuchs, V.117-127.