Gewalt bei Neidhart

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Brutale Handgreiflichkeiten, hämischer Spott und Diebstahl sind nur einige der Taten, die sich im Liederœuvre Neidharts finden. Die Gewalt scheint sich wie ein roter Faden durch alle Lieder dieses mittelalterlichen Autors, der vermutlich im 13. Jahrhundert anzusiedeln ist, zu ziehen. [Schweikle 1990: 57-61] Sie kann dabei nicht nur unterschiedliche Formen annehmen, die Gewalt kann sich gleichermaßen gegen die verschiedenen Figuren der Lieder richten. Die Dörper kämpfen untereinander, vergreifen sich an Frauen und drohen dem Sänger. Doch ist auch der Sänger nicht von jeglicher Unschuld befreit, wie das nachfolgende Zitat aus WL 10, VIa, V. 7-11 [1] zeigt:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
ich slahe in, daz er tumber Ich schlüge ihn, sodass der Törichte
schouwet nimmer lieht. nie wieder Licht erblicken würde.
ich hilf im des lîbes in den aschen Ich befreie ihm seinen Leib in die Asche
und slah im mit willen eine vlaschen, und schlage ihn mit Gefallen mit einer Flasche,
daz im die hunt daz hirne ab der erde müezen naschen. sodass ihm die Hunde das Hirn von der Erde naschen können.

An diesem exemplarischen Auszug aus einem der Lieder wird deutlich, welches Ausmaß die Gewalt bei Neidhart haben kann. Doch stellt sich beim Lesen der Werke Neidharts die Frage, welche Funktionen dieses Motiv der Gewalt erfüllt. Mit ebendieser Frage befasst sich der vorliegende Artikel. Den Fokus der Betrachtungen stellen dabei die konkurrierenden Dörper und die Figur des Sängers dar. Zwar weisen die Natur und auch die Minne gleichermaßen Gewalt auf, doch würden diese Betrachtungen den Umfang des Artikels sprengen. Aus diesem Grund werden sie nicht näher beleuchtet. Vor einer Analyse der Gewalt wird das zugrundeliegende Verständnis des Gewaltbegriffs in seinen unterschiedlichen Formen, Kategorien und Motivationen näher betrachtet und definiert. Daraufhin werden die einzelnen Aktanten oder Kontexte analysiert, in denen es zu einer Ausübung von Gewalt kommt. Betrachtet werden im Zuge dessen der Sänger und die Dörper. Untersuchungsgegenstand sind stets die Täter und nicht die Opfer der Gewalt. Hierbei werden anhand exemplarischer Stellen der Lieder die Formen, Kategorien, Motivationen und Funktionen der Gewalt herausgearbeitet. Aus der durchgeführten Analyse ergeben sich hinsichtlich der Lieder und der Funktion der Gewalt diverse Interpretationsansätze, die im vorletzten Teil dieses Artikels angesprochen werden. In einem Schlussartikel, der diesen Artikel abrundet, werden die Analyseergebnisse nochmals resümiert und Impulse zu weiterführenden Betrachtungen gegeben.

Definition des Gewaltbegriffs

Der Begriff der Gewalt hat im Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen, die diverse Möglichkeiten der Gewaltausübung implizieren. Des Weiteren kann die Gewalt in unterschiedlichen Formen ausgeübt und auch unterschiedlich kategorisiert werden, was viel über das Verhältnis zwischen dem Gewaltausübenden und dem Opfer der Gewalt verrät.

Bedeutungen des Begriffs der Gewalt

Beim Begriff der Gewalt gilt es drei grundlegende Bedeutungen zu unterscheiden, die allesamt im Sprachgebrauch unter den genannten Begriff fallen.

Violentia
Zunächst bezeichnet der Begriff Gewalt einen Verstoß gegen das Recht und die Sitte. In diesem Fall wird ein Zwang auf eine oder mehrere Personen ausgeübt. Dieser Zwang kann entweder psychischer oder physischer Natur sein. Auf die unterschiedlichen Formen der Gewalt wird im weiteren Verlauf des Artikels näher eingegangen. Um Evidenz darüber zu haben, welche der Bedeutungen die thematisierte ist, wird diese Bedeutung der Gewalt im Folgenden mit dem lateinischen Begriff Violentia versehen. [Merten 1999: 13]

Potestas
Des Weiteren kann der Begriff Gewalt als Synonym von Macht, Befugnis oder auch Herrschaft verwendet werden. [DWDS] Folglich bezeichnet der Begriff die ungleiche Relation zwischen Parteien, die von Superiorität geprägt ist. Die Partei, die über die Herrschaft oder die Macht verfügt, setzt sich gegenüber der anderen involvierten Partei durch. Diese Bedeutung von Gewalt bezeichnet somit die Struktur zur Realisierung von Zwang und nicht den Zwang selbst. Im weiteren Verlauf des Artikels wird diese Bedeutung des Begriffs Gewalt fortan mit seiner lateinischen Entsprechung Potestas betitelt. [Merten 1999: 13]

Kraft
Schließlich kann der Begriff Gewalt gleichermaßen verwendet werden, um von großer Kraft oder einem hohen Maß an Stärke zu sprechen. Meist wird dies in Verbindung mit der Natur oder auch deren Naturgewalten verwendet. [Merten 1999: 13 f.]

Formen der Gewalt

Gewalt löst stets unterschiedliche Arten von Schmerz aus. Anhand dieser Schmerzen und den Folgen der Gewalt lässt sich ebendiese in ihre unterschiedlichen Formen differenzieren. Hier werden lediglich die Formen der Gewalt aufgelistet und näher definiert, die im weiteren Verlauf des Artikels von Importanz sind.

Physische Gewalt
Bei dieser Form der Gewalt handelt es sich um meist personelle, unmittelbare und gewalttätige Handlungen,[Gudehus 2013: 2] die vorsätzlich darauf abzielen, die körperliche Unversehrtheit eines Menschen zu beschädigen.[Gudehus 2013: 340]

Psychische Gewalt
Anders als die physische Gewalt zielt diese Form der Gewalt darauf ab, seinem Opfer seelisch-emotionale Schäden zuzufügen.[Gudehus 2013: 340]

Strukturelle Gewalt
Bei derartigen Formen der Gewalt handelt es sich um Machtaktionen, die für dauerhafte und transpersonelle Unterwerfung sorgen.[Gudehus 2013: 340f.]

Kategorien der Gewalt

Schließlich lassen sich die unterschiedlichen Gewaltbegriffe und ihre Formen in unterschiedliche Kategorien einteilen. Diese Kategorien setzen gleichermaßen den Täter und das Opfer miteinander ins Verhältnis.

Lozierende Gewalt
Bei dieser Gewaltkategorie soll ein Körper, der sich an einem Ort befindet, aus dem Weg geschaffen werden, damit der Täter sein angestrebtes Ziel erreichen kann. [Gudehus 2013: 2]

Raptive Gewalt
Eine derartige Ausübung von Gewalt zielt nicht auf das Erreichen von etwas ab, vielmehr will der Täter seinem Opfer etwas antun, es demütigen, verletzen und zerstören.[Gudehus 2013: 2]

Autotelische Gewalt
Die letzte Kategorie, in die sich Gewalt differenzieren lässt, verfolgt keine bestimmten Ziele, wie beispielsweise Erniedrigung oder das Erreichen von Etwas, die sich in zu- oder gar um- Formulierungen verfassen lassen. Diese Gewalt wird ausgeführt, weil es die Möglichkeit dazu gibt. Die Gewalt selbst gibt dem Täter den nötigen Anreiz, den es bedarf, um sie auszuführen, da das Verletzen per se den Sinn der Handlung darstellt. Anders als im Falle der zuvor genannten Kategorien ist diese Gewalt folglich weder extern noch intern motiviert.[Gudehus 2013: 2]

Gewalt bei Neidhart

Nach der ausführlichen Definition des Gewaltbegriffs wird im Folgenden auf die unterschiedlichen Aktanten in den Liedern Neidharts eingegangen. Dabei wird zunächst ermittelt, ob es sich bei deren Gewalt um Violentia, Potestas oder Kraft handelt. Anschließend werden die Formen und Kategorien der Gewalt ermittelt. Unter Berücksichtigung der Relationen wird unter Verwendung von geeigneten Liedpassagen darauf eingegangen, welche Funktionen die Gewalt in den Liedern erfüllen.

Der Sänger

Beim ersten Blick auf die Figur des Sängers scheint es, als ob dieser selbst nicht als Täter auftrete. Vielmehr handle es sich bei ihm stets um das bemitleidenswerte Opfer der Dörper, auf die im weiteren Verlauf des Artikels näher eingegangen wird. Jedoch übt der Sänger gleichermaßen unterschiedliche Arten der Gewalt aus. Zunächst soll im Folgenden die Violentia des Sängers betrachtet werden, die stets legitimiert und somit abgemildert wird. Die Beschreibungen und der Einsatz dieser Gewalt des Sängers erfüllen auf diverse Art und Weise die Funktion, dass der Sänger sich von den Dörpern und deren Gewalt differenziert und sich über diese hinwegsetzt.

Gerade in den Winterliedern Neidharts evoziert das Werben um eine angebetete Dame Konkurrenz, Neider und Hass unter den unterschiedlichen Werbern. So führt das Konkurrieren zwischen Rouze und dem Sänger beispielsweise dazu, dass letzterer den Tanz frühzeitig verlassen muss, „deich ich selben niht enroufe“ (WL 13, VI, V. 7). Der Sänger will hier seinem Konkurrenten physische Gewalt antun, um seine eigenen Ziele erreichen zu können, mit seiner angebeteten Dame tanzen zu können und ihre alleinige Gunst zu erwerben. Folglich handelt es sich bei der angestrebten Violentia um eine lozierende Gewalt. Bestärkt wird dieser Eindruck durch die zahlreichen Minneklagen, in denen der Sänger seine Pein zum Ausdruck bringt. In einer Exclamatio, die das Leid weiter bestärkt, fleht der Sänger die Minne an, ihn freizulassen (vgl. WL 3, VI, V. 9). Dieses Flehen um Freiheit, das auf die Gewaltandrohung folgt, relativiert die Grausamkeit der Situation. Durch die Lenkung des Blinkwinkels auf das Leid des Sängers, erscheint dieser das Opfer des Leides und nicht der Täter zu sein, was Empathie erweckt. Die gewaltvollen Gedanken des Sängers scheinen so nicht primär von ihm auszugehen. Vielmehr scheint es so, als ob die Minne die Schuldige sei, die ihn zu derartigen Taten motiviere und er nicht anders könne. Die Einbindung einer höheren Gewalt, der der Sänger zum Opfer fällt, legitimiert seine Wünsche nach Gewalt des Sängers und mildert zugleich deren Schwere ab. Des Weiteren ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass der Sänger die Noblesse besitzt, sich über diese negativen Emotionen hinwegzusetzen und die Festivität vorab zu verlassen. Auch an einer anderen Stelle desselben Winterlieds zeigt sich der gehobene Charakter des Sängers. Erneut wird er mit einem Konkurrenten um die Gunst der Dame konfrontiert, was beim Sänger zum Wunsch nach physischer, raptiver Gewalt führt (WL 13, IV, 7-9):

Mittelhochdeutsch Übersetzung
daz im müeze misselingen, Das soll ihm misslingen,
sô daz hundert swert ûf sînem kophe lûte erklingen!. damit hundert Schwerter auf seinem Kopf laut erklingen!
snîdent sî ze rehte, sî zerüttent im den spân. Schneiden sie zu Recht, sie zerstören ihm das Glied.

Diese Gewalt findet nur im Imaginationsraum statt und erscheint dort zugleich potenziert. Jedoch wird auch hier erneut die Grausamkeit der Tat abgeschwächt, indem ein Ausruf vorangestellt wird. In diesem rückt zunächst nur der Hinweis auf einen akustischen Effekt in den Vordergrund. Des Weiteren legitimiert die Lächerlichkeit, mit der Engelmar in der nächsten Strophe dargestellt wird (vgl. WL 13, V), die brutalen Gedankenexperimente des Sängers. Im Ausruf des Sängers bleibt gleichermaßen unklar, von wem die imaginären Schwerter geführt werden sollen. Es ist nicht klar, ob der Sänger selbst der Vollstrecker der Taten zu sein wünscht. Durch die Anonymität des Täters lenkt der Sänger den Fokus auf die eigentliche Tat: die Vernichtung des Dörpers. Doch findet auch dieser Gewaltakt keine Realisierung, vielmehr verweilt er in der Imaginationswelt des Sängers. [Haufe 2003: 115-118] Da es sich bei diesem um den Erzähler der Geschehnisse handelt und dieser somit nicht nur steuert, wie etwas wiedergegeben wird, sondern gleichermaßen bestimmt, was der Rezipient erfährt, stellt sich die Frage, warum der Sänger das Publikum an diesen Fantasien teilhaben lässt. Bei der Kontextualisierung des bereits analysierten Zitats lässt sich eine weitere Funktion der Gewalt in den Neidhartliedern ermitteln. Der Hass und der Neid der Kontrahenten des Sängers (vgl. WL 13, III, V.1-3) führen zu Bekundungen seiner Unterlegenheit und zur Destabilisierung seiner Identität. So bleibt der Sänger beispielsweise auf Grund des Wirkens von Engelwan, Uoze und Ruoze „âne lôn“ (WL 13, III, V. 7). Durch den Einblick in die Gedankenwelt des Sängers wird dieser dem Status des Ohnmächtigen enthoben. Dem Publikum wird ersichtlich, dass es sich beim Sänger keinesfalls um das bemitleidenswerte Opfer der Dörper handelt, das über keinerlei Macht verfügt. Mittels des Gedankenexperiments zeigt der Sänger seine Widerstandsfähigkeit und wird ermächtigt. [Haufe 2003: 115-118]

Neben den physischen Violentiawünschen findet sich im Lied-œuvre Neidharts eine weitere Form der Violentia, die psychische Gewalt, die den Sänger nicht zum Opfer, sondern zum Täter macht. Dies hat die Funktion, dass der Sänger sich weiter von den Dörpern differenziert und die Rezeption des Publikums hinsichtlich der Wahrnehmung der Dörper steuert. Bei der soeben angesprochenen psychischen Violentia, die der Sänger ausübt, handelt es sich um Spott. Gemäß Plotke bezeichnet Spott das Verhältnis zwischen einem Spötter und dem scherzend oder scharf-verletzend herabgesetzten, verspotteten Objekt. Dabei würden bestimmte Merkmale oder Eigenschaften des verspotteten Objekts durch den Spötter wertend hervorgehoben, indem sie dargestellt würden. Hierbei versetze sich der Spötter in die Rolle eines objektiven Arbiters und distanziere sich somit vom verspotteten Objekt, wodurch er gleichermaßen selbst zum Publikum würde. Der Spott könne aber nur dann gelingen, wenn einerseits das verhöhnte Objekt in der Darstellung des Spötters noch erkennbar sei und andererseits die Distanz des Spötters zu diesem Objekt klar erkennbar sei. Hierin bestehe nach Plotke das Dilemma des Spotts, das mittels Hyperbolik gelöst werde. Des Weiteren bestehe die Gefahr des Spotts darin, dass der Spötter durch den Akt des Spottens, bei dem er das Spottobjekt auf Grundlage von kulturellen Normen und gesellschaftlichen Codes richte, so selbst zum Spottobjekt werden könne. Der Akt des Spottens und der implizierten Selbsterhebung könne gleichermaßen eine Verletzung der Normen sein. Der Spötter könne dann in Gefahr geraten, auch von anderen verhöhnt und ausgelacht zu werden. Der Minnesang eigne sich demnach besonders gut zum Spotten. [Plotke 2010: 23-26] In den Liedern Neidharts finden sich zahlreiche Verspottungen des Sängers, die sich gegen die Dörper richten. Der Sänger verspottet die Dörper, indem er beispielsweise konkrete Figuren dieser Gemeinschaft als den „tumbist under geilen getelingen“ (WL 24, III, V. 1) bezeichnet. Mittels der Verwendung des Superlativs überspitzt der Sänger den Charakter des Dörpers in seinem Spott. Auch die Verwendung von überspitzten Vergleichen, wie Engelmar, der mit einem „gemzinc“ (SL 22, VIb, V. 3) verglichen wird, dienen dem Sänger als Werkzeug zum Spotten. „[.] [I]ch gelîche sîn gephnætze ze einer saten tûben, diu mit vollem krophe ûf einen korenkasten stât [.]“ (WL 13, V. 8 f.), heißt es beispielsweise im Winterlied 13 über Engelwan. Die bereits von Plotke angesprochene Übertreibung wird jedoch nicht nur an den Vergleichen oder Adjektiven, mit denen die Figuren beschrieben werden, ersichtlich. Die Hyperbolik zeigt sich gleichermaßen beim Versuch, die Dörper nach ihrer Verwerflichkeit zu hierarchisieren. Ein derartiges Unterfangen scheint bei Neidharts Liedern nicht möglich zu sein, da die auftretenden Dörper in ihrer Verwerflichkeit stets in Extrema auftreten. Wie bereits beschrieben, ist es in einem Moment Engelwan, der als der Schlimmste gilt, jedoch nominiert der Sänger daraufhin einen anderen Dörper, der als noch „ungevüeger“ (WL 27, V, V. 8) gelte. Nicht nur das Verhalten oder der Charakter der Dörper fallen dem Sänger zum Spott, vielmehr ist es auch ihr Auftreten und Gebaren, die er verhöhnt. So schmücken sich die Dörper beispielsweise mit einem „rôten buosemblech“ (WL 27, VII, V. 7) oder führen ihr Schwert „rûmegazze“ (WL 10, I, V. 11) zu Festivitäten mit sich. Schließlich stellt auch die Betitelung der Kontrahenten des Sängers Spott dar. Unter den Begriff der Dörper fallen die männlichen Gegenspieler des Sängers. Hierbei stellt sich die Frage, wer mit diesem Begriff gemeint sein kann. Würde der Sänger derart Referenzen zum Dritten Stand machen, bleibt unklar, warum diese nicht als bûren oder gebûren bezeichnet werden. Der Begriff der Dörper stammt aus dem Niederdeutschen und taucht vor Neidhart nicht im Mittelhochdeutschen auf. Deswegen wird vermutet, dass erst Neidhart die Bezeichnung für derartige Gestalten einführte. Hinsichtlich der Verwendung des Begriffs im Niederdeutschen scheint es im Vergleich zum Mittelhochdeutschen eine Bedeutungsverschiebung gegeben zu haben. Dörper werden die Menschen bezeichnet, die ein unhöfisches und nicht den Normen entsprechendes Benehmen aufweisen. Daraus schlussfolgert Schweikle, dass die Dörper nicht nur die Kontrahenten des Sängers hinsichtlich des Werbens um die Dame sind. Vielmehr stellen die Dörper gleichermaßen die sich unhöfisch verhaltenden Gegenspieler zu dem sich höfisch gebarenden Sänger dar. Bei den Dörpern könne es sich um den niederen Landadel handeln, der im ländlichen Raum angesiedelt gewesen war. Durch die derartige Bezeichnung der gegen die höfischen Werte und Sitten verstoßenden Figuren werden diese folglich sozial abgewertet und verspottet. Gleichermaßen distanziert sich der sich höfisch gebarende Sänger durch die Verwendung des Begriffs der Dörper von diesen Figuren. [Schweikle 1991: 214-221]. Zusammenfassend erfüllt der Spott, egal ob er sich gegen den Charakter der Dörper, deren Kleidung oder auch gegen sie selbst richtet, die Funktion, dass der Sänger sich von den Dörpern distanziert und sich gleichermaßen über sie hinwegsetzt. Der Sänger übt neben der Violentia noch eine ganz andere Art der Gewalt aus: Potestas. Zum einen ist es der Sänger selbst, der beispielsweise von den oben beschriebenen Taten der Dörper berichtet. Es ist der Sänger selbst, der wählt, wie er seine Geschichte erzählen will, welche Worte er beispielsweise hierfür gebrauchen möchte. Der Sänger ist es, der sich dazu entscheidet, die Dörper als solche zu bezeichnen, was die bereits analysierten Folgen und Funktionen mit sich bringt. Das Erzählen des Sängers lässt das Publikum beispielsweise Empathie empfinden, als er beklagt, dass er seine Tage „âne vröude“ (WL 24, II V. 2) verbringen muss. Da der Sänger auf die Gefühle und die Rezeption des Publikums einwirkt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser Gewalt um eine Form der psychischen Gewalt handelt. Dabei will der Sänger dem Publikum nicht schaden, vielmehr hat es den Anschein, als wolle der Sänger durch das Erzählen aus seiner Sichtweise das Publikum in die Geschehnisse einbeziehen. Durch die bereits analysierten Spottelemente erfüllt diese Potestas die Funktion, dass die Sichtweise und Rezeption des Publikums gesteuert werden. Dem Publikum wird der Blickwinkel auf beispielsweise bestimmte Figuren und deren Wertung fest vorgegeben.

Zum anderen übt der Sänger Potestas auf Figuren der Lieder aus, wie anhand der Mutter-Tochter Dialoglieder ersichtlich wird. Der Sänger schafft es, die Figuren in seinen Bann zu ziehen, sie zum Following anzuregen. Die Gewalt, die der Sänger ausübt, stellt Emotion und Vernunft einander gegenüber. Während die Tochter sich ihren Emotionen hingeben und Hand in Hand mit dem Sänger „zuo der linden“ (SL 18, I, V. 7) springen möchte, appelliert die Mutter an den Verstand ihrer Tochter. „[.] [E]r beginnt dich slahen, stôzen, roufen und müezen doch zwô wiegen bî dir loufen“ (SL 18, V, V. 6 f.), warnt die Mutter ihre Tochter. Die angesprochene Gegenüberstellung wird beispielsweise an den verwendeten Symbolen, wie „der linden“ (SL 18, I, V. 7), die für die Liebe steht, ersichtlich. In Opposition dazu befindet sich die Mutter, die ihrer Tochter deren Zukunft „vor geseit“ (SL 18, IV, V.2). An dieser Stelle soll der Streit jedoch nicht näher beleuchtet werden, da dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Es soll lediglich festgehalten werden, dass der Sänger eine gewisse Gewalt über die Figuren der Lieder ausübt, wodurch Themen, wie der Zwist zwischen Vernunft und Emotion angesprochen werden.

Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass sowohl der Gebrauch der Violentia als auch der der Potestas unterschiedliche Funktionen in den Liedern Neidharts erfüllen. So sorgt der Einsatz von Gewalt dafür, dass zwischen dem Sänger und den Dörpern Distanz aufgebaut wird, indem der Sänger über diese spottet oder von seinen gewaltvollen Fantasien berichtet. Die Besonderheit dieser Gewalt besteht darin, dass diese stets legitimiert und dadurch abgeschwächt wird. Des Weiteren impliziert die Distanz zu den Dörpern eine Ermächtigung des Sängers. Auch die Art und Weise, wie der Sänger über die Dörper und Geschehnisse berichtet, üben eine gewisse Gewalt auf die Rezipienten seines Gesanges aus. So wird diesen vorgegeben, wie bestimmte Figuren gesehen werden sollen. Folglich wird die Rezeption des Publikums gesteuert, was Auswirkungen, wie Empathie für den Sänger, haben kann. Gleichermaßen hat der Sänger innerhalb der vorgetragenen Lieder Follower. So verfallen auch junge Mädchen seinem Bann und streben danach, sich ihren Emotionen hinzugeben und dem Sänger ins Reuental zu folgen. Dem gegenüber steht die rational denkende Mutter, die an den Verstand ihrer Tochter appelliert. Der Konflikt zwischen den Frauen wird durch die Macht des Sängers hervorgerufen. Durch diesen können Themen, wie die Opposition zwischen Emotion und Verstand behandelt werden.

Die Dörper

Die Welt der dörper zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Konflikte – mit dem Sänger, oder auch innerhalb der Gruppe – oft mit Hilfe von Gewalt gelöst werden. Dabei bedrohen beispielsweise einzelne oder mehrere dörper das Sänger-Ich und greifen dieses an. Grund dafür ist zumeist das Konkurrieren mit dem Sänger um ein und dieselbe Frau. Die dörper-Figuren "sind jedoch auch untereinander zerstritten sowie gewalttätig, ohne dass eine konkret greifbare Konkurrenz als Motivation erscheint" [Haufe XX: 115].

Interpretationsansätze

Schlussbemerkung

Anmerkungen

  1. Angaben im Folgenden nach [Neidhart]. Die Winterlieder werden im Verlauf dieses Artikels mit der Sigle WL versehen, während die Sommerlieder mit der Sigle SL versehen.

Bibliographie

Primärliteratur

[*Neidhart] Die Lieder Neidharts wurden der folgenden Quelle entnommen:
Neidhart: Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, revidiert von Paul Sappler und dem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer, 5. verbesserte Auflage, Tübingen 1999 (Altdeutsche Textbibliothek 44).

Sekundärliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Braun 2007] Braun, Manuel: Spiel Autonomie (unveröffentl. Habil.), S. 259-280.
  • [*DWDS] https://www.dwds.de/wb/Gewalt, 16.02.2021.
  • [*Gudehus 2013] Gudehus, Christian und Christ, Michaela: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Darmstadt 2013.
  • [*Haufe 2003] Haufe, Hendrikje: Minne, Lärm und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit in Winterliedern Neidharts, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, hg. von Martin Baisch el al., Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 101-122.
  • [*Herchert 2010] Herchert, Gaby: Einführung in den Minnesang, Darmstadt 2010 (Einführungen Germanistik).
  • [*Lexer]
  • [*Merten 1999] Merten, Klaus: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, Opladen, Wiesbaden 1999.
  • [*Plotke 2010] Plotke, Seraina: Neidhart als Spötter – Spott bei Neidhart, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57/1 (2010), S. 23-34.
  • [*Schulze] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarete Springeth und Franz Viktor Spechtler, Berlin/Boston 2018, S. 95-116.
  • [*Schweikle 1990] Schweikle, Günther: Neidhart, Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler Realien zur Literatur Band 253).
  • [*Schweikle 1991] Schweikle, Günther: Dörper oder Bauern. Zum lyrischen Personal in den Werken Neidharts, in: Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte, August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. von Martin Kintzinger, Köln [u.a.] 1991.