Tristan (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Dualität und Zwiespalt – Tristan als gespaltene Persönlichkeit
Tristans Leben ist bestimmt durch unzählige Konflikte und Gegensätze, die sich in seinem eigenen Charakter oder in seine Beziehungen zur Umwelt ergeben und verhindern, dass er in Ruhe und Frieden leben kann. Bereits in den Umständen seiner Zeugung und Geburt und seiner Jugend sind diese Spannungen angelegt. Er beeindruckt seine Umwelt immer wieder durch sein wundervolles Äußeres, das seine wahre Herkunft verrät und seine eigentliche Bestimmung, als König zu herrschen, zeigt. Der Eindruck, den er bei anderen hinterlässt, wird ergänzt durch seine Fähigkeiten. Einerseits hat er eine ritterliche Ausbildung erhalten und stellt seine kämpferische Überlegenheit in diversen Kämpfen unter Beweis. Andererseits ist er ein herausragender Künstler, kann musizieren, dichten, Fremdsprachen sprechen oder einen Hirsch kunstvoll zerlegen. Die Gegensätze in Tristans Charakter und seinem Leben bewirken, dass er nicht das einfache unkomplizierte Leben eines Ritters und Lehnsherren führen kann, sondern als lantlôser umher zieht.
Das Erbe der Eltern
Carola Gotzmann sagt, dass das Schicksal Tristans durch seine Eltern antizipiert sei. [Gottzmann 1989: 130]. Das erste, was Tristan durch seine Eltern mitgegeben wird, ist die königliche Abstammung. Riwalin ist König von Parmenien und herrscht über dieses Reich, Blanscheflur ist die Schwester König Markes, Herrscher über Cornwall und England. In Tristans Adern fließt also königliches Blut, was sich in seinem Äußeren zeigt und seine Rolle in der Gesellschaft vorherbestimmt. Außerdem erbt Tristan von seinen Eltern Charakerzüge. Sein Vater Riwalin ist ein ausgezeichneter Mann, der am Hofe Markes eine Ausbildung genoss und als vorbildlicher und erfolgreicher Ritter sein Land regiert. Aber in seinen Eifer mischt sich jugendlicher Übermut und er greift seinen Lehnsherrn Morgan grundlos und mit viel Gewalt an. Tristan wird seinen Vater in all den guten Eigenschaften sogar noch übertreffen, aber auch er ist übermütig, greift Morgan brutal und hinterhältig an und tötet ihn (V.5363- 5458)[1].
Tristans Mutter Blanscheflur verwendet bereits das Mittel der List, wie Tristan es später unzählige Male tun wird. Sie schleicht sich als Ärztin verkleidet an das Krankenbett Riwalins, wo dann Tristan gezeugt wird [1266-1279]. Auch die Liebe der Eltern ist nur durch Heimlichkeit und Täuschung möglich, wie später die Liebe Tristans und Isoldes. Tristan wird also unehelich und heimlich gezeugt, die erste Spannung zu gesellschaftlichen Normen in seinem Leben.
Blanscheflur geht mit Riwalin nach Parmenie, wo sie heimlich heiraten, sodass Tristan nicht durch eine uneheliche Geburt seinen Herrschaftsanspruch verliert. Allerdings stirbt Riwalin noch vor Tristans Geburt im Kampf und Blanscheflur aus Trauer kurz nach der Geburt. Tod und Leben sind bei Tristan von Anfang an miteinander verknüpft [Gottzmann 1989: 129][Wolf 1989: 125]. Tristan bleibt als unvollkommenes Kind zurück, da er keinen Namen hat. Rual li Foitenant, Marschall und Vertrauter Riwalins, übernimmt die Rolle des Ziehvaters und gibt Tristan einen Namen, der seinen bisherigen Lebensumständen entspricht und auch weiter sein ganzes Leben prägen wird: Tristan. Triste bedeutet triure und Tristan ist in Trauer gezeugt und in Trauer geboren worden. An dieser Stelle wird bereits angekündigt, dass auch sein weiteres Leben in Trauer verlaufen wird und er auch in Trauer sterben wird (V.1991-2022).
Da Rual und seine Frau Floraete Tristan als ihren Sohn ausgeben, wächst er in Unkenntnis seiner eigene Identität auf. Es besteht ein Zwiespalt zwischen seiner wahren Bestimmung, der eines Königs, und der, die er erlernt und erfährt, die eines Vasallen [Gottzmann 1989: 132]. Wie sich später am Hofe Markes und auch am Hofe König Jovelins zeigen wird, zieht Tristan die Rolle des Vasallen immer einer eigenen Herrschaft vor.
Äußere Erscheinung
Obwohl Tristan sich seiner eigenen königlichen Abstammung lange Zeit nicht bewusst wird oder er sie später verleugnet, wenn er sich etwa als Kaufmann oder Spielmann ausgibt, ist es doch nicht möglich, sie vollkommen zu verstecken. Sein makelloses Äußeres verrät stets seine noble Herkunft, was auch von seinen erstaunten Beobachtern immer wieder erkannt wird die sich z.B. wundern, wie ein Kaufmannssohn so höfisch sein kann. Tristans Körper wird dabei oft noch durch edle Kleidung hervorgehoben, die sein wunderschönes Aussehen ergänzt. Das Äußere spiegelt dabei die inneren Werte und die innere Vollkommenheit an Tugend von Tristan wieder. Zum Bild Tristans gehört außerdem sein Auftreten, seine gewählte Weise sich auszudrücken und seine angemessenen Gesten. Dieses Phänomen begegnet uns in jeder Szene, in der Tristan auf Fremde trifft. Die norwegischen Kaufleute sind so beeindruckt von Tristan, dass sie ihn entführen. Die Pilger fragen sich, wer dieses wunderbare Kind sei und auch die Jäger nehmen ihn mit an den Hof und führen ihn dem König vor. Dort stellt die Hofgesellschaft bald fest: „alle die künege, die nu sint/ dien erzügen alle ein kint niht baz.“ (V.3133/3134). Die Erziehung Tristans ist also eindeutig die eines Königs, auch wenn er behauptet hat ein Kaufmannssohn zu sein. In Cornwall ist es vor allem Isolde, die den Fremden genau besieht und seine körperlichen Vorzüge erkennt. Sie fragt sich, warum so ein edler Mann wie Tristan umherziehen und sein Glück suchen muss, wo ihm doch ein Königreich zustehen sollte (V.10014- 10032).
In den Szenen, in denen Tristan gezielt eine Rüstung anlegt um einen Kampf zu bestreiten, wird auch immer wieder darauf hingewiesen, wie gut diese zu seinem vortrefflichen Körper passt. Das geschieht einmal vor dem Kampf mit Morold und außerdem bei dem Gerichtstermin mit dem Truchseß, auch wenn es dort nicht zum Kampf kommt.
An mehreren Stellen, aber vor allem in der Szene, als Tristan an Markes Hof musiziert, wird außerdem auf seine wunderschönen Hände hingewiesen, die perfekt zur Harfe passen: „ Die wâren, alse ich hân gelesen,/ daz sî niht schoener kunden wesen:/ weich unde linde, cleine, lanc/ und rehte alsam ein harm blanc.“ (V.3349-3352).
Tristans Bildung – Künstler oder Kämpfer?
Tristan erhält von Rual die beste Ausbildung, die man zu jener Zeit erhalten kann. Er wird ins Ausland gesandt um Fremdsprachen zu lernen, mit denen er immer wieder beeindruckt, zum Beispiel mit der Rarität Norwegisch zu sprechen [Wolf 1989: 136]. Er studiert Bücher und zwar so intensiv, „daz er der bouche mêre/ gelernete in sô kurzer zît/ danne ie kein kint ê oder sît.“ (V.2090-2092). Er lernt viele Arten des Saitenspiels, des Dichtens und des Singens „biz er es wunder kunde“ (V.2099) und auch höfische Spiele, zum Beispiel Schach.
Er lernt in seiner Ausbildung auch kämpferische Fähigkeiten: Reiten, mit Schild und Speer umgehen, laufen, Springen, Speer werfen und Jagen (V.2104-2120).
Es sind ausschließlich die musischen Fähigkeiten, die Tristan weiter bringen und mit denen er Anerkennung erlangt [Jackson 1973: 292]. Zugang zum Hofe Markes bekommt er aufgrund seiner Zerlegekunst und seines wunderbaren Hornspiels, Anerkennung am Hofe durch sein Saitenspiel mit dem er das Hofvolk regelrecht in Ekstase versetzt [Wolf 1989: 140]. (V.3710-3720). In Cornwall ist es sein Harfenspiel, das zuerst die Aufmerksamkeit des anderen Schiffes weckt und das sich dann so schnell herum spricht, dass es ihm Zugang zum Königshof verschafft. Dort wird er als Lehrer für Isolde angestellt, der er natürlich nur den musischen und nicht den kämpferischen Teil seiner Ausbildung weiter gibt. W.T.H. Jackson stellt außerdem die These auf, dass es diese künstlerische Ausbildung ist, die erst zur vollkommenen Liebe befähigt [Jackson 1973: 303]. Tristan hat sie bereits erworben und gibt sie zuerst an Isolde weiter, bevor der Minnetrank die beiden verbindet. In der Minnegrotte verbringen sie die Zeit dann auch damit, sich gegenseitig vorzuspielen, zu singen und zu erzählen, und zwar antike Liebesgeschichten wie zum Beispiel von Phyllis, von Kanake, von Byblis und Dido (V.17182-17199). Liebe wird also nicht einfach irgendwie ausgelebt sondern sie folgt antiken Vorbildern, die nur ein gebildeter Mensch kennen kann.
Auch wenn Tristan kämpferisch alle seinen Zeitgenossen überlegen ist, tragen diese dagegen kaum zu seiner Anerkennung am Hofe bei. Immerhin bestreitet Tristan vier entscheidende Kämpfe, die kein anderer vor ihm hat gewinnen können: gegen Morgan, gegen Morold, gegen den Drachen und gegen den Riesen Urgan. Doch keiner dieser Kämpfe trägt dazu bei, sein Ansehen zu steigern. Sein erster Kampf gegen Morgan bringt ihm zwar ein größeres Reich, ist allerdings kein ehrwürdiger Kampf. Tristan und seine Gefährten schleichen sich als Kaufleute verkleidet ein und Tristan erschlägt Morgan ohne vorhergehenden ehrenvollen Kampf. Außerdem muss er am Ende noch durch die von Rual geschickten Truppen unterstützt werden, da er und seine Leute nicht alleine in der Lage sind Morgans Truppen zu besiegen. Es handelt sich um einen hinterrücksen Überfall und somit unritterliches Verhalten, das keinerlei Ehre einbringt sondern unter Beweis stellt, dass Tristan auch zu diesen brutalen Taten fähig ist. Die Kämpfe gegen Morolt, den Drachen und den Riesen Urgan würden Tristan von ihrer Art her schon Ehre bringen, so wie etwa Riwalin vor Blanscheflur im Kampf besteht. Allerdings finden sie alle ohne Zuschauer statt, der Kampf mit Morolt auf einer Insel, die anderen beiden Kämpfe in der Wildnis und Tristan nimmt jeweils ein Körperteil der Bestien an sich, um seine Tat beweisen zu können. Der einzige potenziell ruhmbringende Kampf wäre der Gerichtskampf gegen den Truchseß, doch dieser findet dann garnicht statt.
Auffällig ist auch, dass alle diese Kämpfe erst nach Tristans Schwertleite stattfinden. Sie dienen also nicht dazu, seine Ritterlichkeit unter Beweis zu stellen, dies ist durch sein musikalisches und jägerisches Können anscheinend schon hinreichend geschehen. Vielmehr ist es das Rittertum, das ihm diese Aufgaben erst auferlegt. Seine Taten vollbringt er außerdem nie für sich selber sondern immer im Dienste anderer. Morgan ist zwar der alte Feind seines Vaters, doch als Tristan ihn besiegt hat nimmt er nicht etwa den Königssitz seines Reiches ein sondern übergibt ihn Rual. Morolt tötet er im Dienste Markes um das Land von den Tributzahlungen zu befreien, den Drachen tötet er um Marke Isolde zur Braut geben zu können. Den Riesen Urgan tötet er für den Herzog Gilan, der ihm zum Dank den Hund Petitcrü für Isolde gibt. Am Ende tut er sich noch im Krieg in Arundel hervor, diesmal im Dienste Kaedins. In Isoldes Diensten vollbringt er keine einzige Heldentat [Jackson 1973: 303].
Auch wenn Tristan sowohl als Kämpfer als auch als Musiker der Beste seiner Zeit ist, wird seiner musischen Seite mehr Bedeutung zugemessen.
Tristan der Lantlôse
Aus den beiden vorhergehenden Abschnitten ließ sich bereits erkennen, dass Tristan nicht richtig in die höfische Adelswelt passt und dass sein Leben eher dem eines Spielmannes oder Händlers gleicht als dem eines Königs. C. Gotzmann greift die Bezeichnung Tristans als lantlôser zu Beginn des Moroldkapitels auf [Gotzmann 1989: 138] und diese Bezeichnung kann man als Leitmotiv auf den ganzen Roman anwenden. Zu Beginn ist Tristan lantlôs, da er sich seines königlichen Herrschaftsanspruches nicht bewusst ist und außer Rual und Floraete auch niemand von seiner Existenz weiß. Parmenien wird nach dem Tode Riwalins ganz von Morgan erobert und dieser übernimmt die Herrschaft. Mit 14 Jahren wird Tristan von Kaufleuten entführt, aber nach kurzer Zeit in Irland wieder an Land gesetzt. Dort erzählt er zuerst den Pilgern, er gehöre einer heimischen Jagdgesellschaft an da er nicht weiß, ob er ihnen trauen kann (V.2692-2721). Am Hofe Markes dann gibt er sich für den Sohn eines Kaufmannes aus Parmenien aus, ohne dass dazu ein ersichtlicher Grund besteht. Es hat aber die Wirkung, dass es für ihn keinen konkreten Grund gibt nach Hause zurück kehren zu müssen und er zeigt auch keinerlei Bestrebungen das zu tun. Tristan scheint sich also in der Kaufmannsrolle durchaus wohl zu fühlen und nicht unter der niedrigeren Standesebene zu leiden.
Es ist Rual, sein Ziehvater, der ihn sucht, ihn über seine Identität aufklärt und ihn wieder mit nach Parmenien nimmt. Dort erringt der frisch zum Ritter geschlagene Tristan wieder den Anspruch König von Parmenien zu sein, indem er Morgan tötet und seine Kämpfer besiegt. Nachdem er sich also als Herrscher etabliert, bleibt er aber keinesfalls in Parmenien um seinem Amt nach zu kommen, sondern zieht es vor, wieder am Hofe Markes zu dienen. Er übergibt also die Verwaltung wieder an Rual und ist nun wieder lantlôs. Den größten Teil der Handlung verbringt Tristan nun am Hofe Markes und in dessen Diensten und all sein Tun und Handeln dient Irland, nicht ihm persönlich, zum Beispiel die Befreiung von den Tributszahlungen an Gurmun oder der Brautwerb für König Marke. Als er schließlich vom Hof fort geht, kehrt er zwar zurück nach Parmenien, bleibt dort aber nicht. Er stellt fest, dass seine Zieheltern tot sind, übergibt die Regierung an deren Söhne und macht sich selber wieder auf. Er hat von dem Königreich Arundel gehört und bricht nun auf, um dort zu Diensten zu sein. Wieder entscheidet er sich also gegen eine Oberherrschaft und für eine Abhängigkeit.
Tristan ist also, wie gerade gezeigt, fast den ganzen Roman über lantlôs, aber nicht, weil er nicht in der Lage wäre seinen Herrschaftsanspruch gelten zu machen, sondern weil er sich freiwillig dafür entscheidet. Jackson begründet dies damit, dass Tristans Bildung ihn verpflichtet und er ihretwegen nie das Leben der einfachen, unkomplizierten Ritter führen kann [Jackson 1973: 288]. Tristan will sich also nicht mit einem Aufgabenfeld in einem begrenzten Reich abgeben, sondern strebt immer hinaus und nach mehr Bildung, Abenteuern und Anerkennung. Landbesitz ist das einzige, was er nie zu gewinnen versucht. Sein Leben ähnelt also dem eines Kaufmannes oder eines Spielmannes, die beide umherziehen und als die Tristan sich immer gerne ausgiebt. Beide haben keinen Landbesitz sondern streben nach anderem „Besitz“, der Kaufmann nach materiellem und der Spielmann nach geistigem Genuß [Gottzmann 1973: 132].
Tristan und der Begriff arbeitsaelic
Bei dem Begriff arbeitsaelic handelt es sich um ein Paradoxon welches die Tatsache beschreibt, dass Tristan nur um den Preis des Leidens zum Besten befähigt ist.
sin dinc was allez uz erkorn
beide an dem moute und an den siten.
nu was aber diu saelde undersniten
mit werndem schaden, als ich ez las,
wan er leider arbeitsaelic was.
Alles an ihm war erlesen,
sowohl was seinen Geist als auch sein Benehmen anging.
Dieses Glück war jedoch vermischt
mit andauerndem Unglück, wie ich gelesen habe,
denn ach, er war mit kummer gesegnet.
(V.2126-2130)
[Tomasek 2007: 109]
Literatur
- ↑ Sämtliche in diesem Artikel zitierte Textangaben aus dem Tristan entstammen dieser Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980.
<HarvardReferences />
- [*Gottzmann 1989] Gottzmann, Carola L.: Identitätsproblematik in Gottfrieds "Tristan", in : Germanisch-romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 129-146.
- [*Jackson 1973] Jackson, W.T.H.: Der Künstler Tristan in Gottfrieds Dichtung. In: Wolf, Alois: Gottfried von Strassburg. Darmstadt 1973, S.280-304.
- [*Wolf 1989] Wolf, Alois: Gottfried von Strassburg und die Mythe von Tristan und Isolde. Darmstadt 1989.
- [*Tomasek 2007] Tomasek, Tomas: Gottfried von Straßburg, Stuttgart 2007