Zeit in Gottfrieds Tristan (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Die umfangreiche Handlung des Tristan Gottfrieds von Straßburg mit seinen knapp 20000 Versen umfasst einen riesigen Zeitraum und scheint auf den ersten Blick linear. Von der Vorgeschichte seiner Eltern, Riwalin und Blanscheflur, über Geburt und Aufwachsen in Parmenien, die unfreiwillige Reise an Markes Hof, Werbung um und durch den Trank erwirktes Verlieben in Isolde, die Zweisamkeit in der Minnegrotte und schließlich die Trennung der beiden Liebenden. Das alles läuft augenscheinlich nach einem erzählerischen Muster ab. Doch sind bei genauerer Betrachtung die Zeitstrukturen innerhalb dieser Erzählung nicht immer problemlos aufzuschlüsseln.
Gibt es tatsächlich ein übergeordnetes und alles zusammenhaltendes Zeitgerüst oder sind in der Erzählung andere Faktoren zu beobachten, die der erzählten Zeit im Tristan Struktur verleihen?
Zeitkonzeptionen
in der Kultur des Mittelalters
Das allgemeine Verständnis von Zeit im Mittelalter war hauptsächlich von der Diskussion um ihre Einheit geprägt. Vereinfacht ausgedrückt lautete die Frage im Grunde: gibt es nun eine Zeit für alle oder lebt etwa jeder in seiner eigenen Zeit? Denn laut Augustin ist die Zeit die Ausdehnung des Geistes. Konsequenterweise müsste es somit so viele Zeiten geben wie Denkende.[Störmer-Caysa 2001: 63].
in der Literatur
Eine tiefgreifendere philosophische Abhandlung über die mittelalterliche Zeit-Diskussion ist für das Verständnis der Auffassung von Erzählzeit und Zeitstrukturen nicht notwendig, jedoch beinhaltet sie eine ganz entscheidende Problematik, die auch der mittelalterliche Autor stets im Hinterkopf behalten musste. Zwar nicht in der Form von vollkommen individuellen 'Zeitwelten' jedes Einzelnen. Jedoch ergaben sich mit dem Verständnis von der Pluralität der Zeiten Probleme bei Vereinheitlichung und Kontinuität. Denn um diese zu erreichen, musste auf Mittel wie Glück oder durch höhere Macht bewirkte Synchronität der Handelnden zurückgegriffen werden. Wenn beispielsweise jede einzelne Figur einer Erzählung ein eigenes Empfinden von Zeit hat, wie kann der Autor dann eine zeitliche Übereinkunft suggerieren?
Tristan braucht bei seiner Brautwerbungsreise nach Irland mindestens fünf Tage[1], bis er Isolde gewonnen hat und zu Kurvenal und den anderen zurückkehrt, die beim Schiff auf ihn warten. Die warten dort immer noch, obwohl Tristan ihnen lediglich eine Wartezeit von drei bis vier Tagen ans Herz gelegt hatte, dann hätten sie ohne ihn zurückfahren sollen:
- ist daz ich under wegen sî
- vier tage oder drî,
- zehant enbîtet mîn nimê,
- entrinnet wider über sê
- und neret leben unde lîp! (V. 8719 - 8723)[2]
Dass Kurvenal ihre Wartezeit um zwei Tage verlängert hat, kann man nun als Glück, Vorahnung oder schlicht als Zufall bezeichnen. Diese Entscheidung sorgt jedenfalls für passgenaue zeitliche Übereinkunft. Diese offensichtliche Konstruktion durch den Autor führt zu einer generellen Unterscheidung von reeller Zeit und der Zeit, die der Held innerhalb seiner aventiure-Fahrt erlebt. Diese scheint weniger an die Gesetze der Logik, sondern vielmehr an narratologische Funktionalität gebunden zu sein. Der Held gibt die Zeit vor, die restliche Welt richtet sich danach.
Zeitstruktur der Tristanhandlung
Unter diesem Gesichtspunkt der narratologischen Probleme der mittelalterlichen Literatur mit der Zeit, soll nun versucht werden, die Zeitstruktur in Gottfrieds Tristanerzählung zu analysieren. Folgt diese einem festen Gerüst oder ist sie im Grunde strukturlos? Gibt der Held Tristan die Zeit vor oder folgt sie gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten?
Tragendes Zeitgerüst vs. zeitlose Struktur
Gottfrieds Zeitordnung
Gottfrieds Tristanerzählung ist gespickt mit unverkennbaren und präzise wirkenden Zeitangaben. So wird Tristan beispielsweise nach sechs Wochen getauft, wird sieben Jahre lang unterrichtet und erhält exakt dreißig Tage nach dem Wiedersehen mit seinem Stiefvater Rual seine Schwertleite. Der Rechtskampf mit Morold findet zur Sommersonnenwende statt und besondere Ereignisse wie das Maifest (vier Wochen) oder der Waffenstillstand zwischen Riwalin und Morgan (ein Jahr) haben ihre feste Dauer.[3] Zeitangaben wie diese, die häufig in der Erzählung zu finden sind, vermitteln den Eindruck kontinuierlich verlaufender Zeit. Tomas Tomasek hat die Zeitstruktur der Erzählung sehr anschaulich aufgeschlüsselt. Seine Rekonstruktion[4] der Geschehnisse mit ihrer exakten Abfolge und jeweiligen Dauer ist sehr detailliert und soll die Linearität der Gottfried'schen Zeitgestaltung belegen. In der perfekten Übereinkunft der vielen einzelnen Zeitangaben sieht er "einen Musterfall dafür [...], wie geschickt Gottfried die an vielen Stellen mehrsträngig verlaufende 'Tristan'-Handlung zu synchronisieren versteht."[5]
Unpräzise Zeitangaben, willkürliche Übereinkunft und unterschiedliches Zeitempfinden
Dieses Bild perfekter zeitlicher Synchronisation und detaillierter Strukturgebung wird jedoch mehrfach durch unpräzise Zeitangaben getrübt. So ist beispielsweise die zeitliche Übereinkunft Tristans und Isoldes bezüglich des Termins für das Gottesgericht zumindest als fragwürdig zu bezeichnen. Denn der von Isolde an Tristan gesetzte Termin, den er auf keinen Fall versäumen sollte, ist mit reinem Mesnchenverstand nicht einzuhalten:
- si schreip unde sande
- einen brief Tristande
- und enbôt im, daz er kaeme,
- swâ er die vuoge naeme,
- ze Carliûn des tages vruo,
- sô sî dâ solte stôzen zuo,
- und naeme ir an dem stade war. (V. 15553 - 15559)
Isolde trägt ihrem Liebsten also auf, am Morgen des Gottesgerichts in Carleon zu erscheinen, obwohl der überhaupt nicht wissen kann, an welchem Tag dieses stattfindet. Weder Isolde noch irgenjemand anderes hat ihm diesen Termin mitgeteilt. Zumindest ist davon im Text nichts zu erfahren.[6] Das Selbe bei der oben bereits angesprochenen wundersamen Übereinkunft zwischen Tristan und Kurvenal in Irland: Ebensowenig wie Tristan wissen kann, dass Kurvenal unvereinbarterweise zwei zusätzliche Tage auf ihn wartet, kann Kurvenal erahnen, dass Tristan exakt fünf Tage für seine Mission braucht. Die Synchronisation wirkt hier willkürlich und konstruiert. Uta Störmer-Caysa sieht in dieser bewusst 'hergestellten' gemeinsamen Zeitstruktur im 'Tristan' "Ausdrucksformen intakter Gemeinschaft"[7], soll heißen, die zeitliche Synchronisation ist vom Autor sozusagen fingiert, lediglich vorgetäuscht, um Einheit unter den Figuren zu symbolisieren. Beispielsweise wird in der Erzählerrede durch die Angabe, Rual sei über drei Jahre auf der Suche nach Tristan gewesen, suggeriert, dieser Zeitraum von allen Beteiligten gleichermaßen empfunden worden. Doch während es für Rual eine harte und lange Zeit des körperlichen Niedergangs bedeutete, durchlebte Tristan eine äußerst kurzweilige Blütezeit am Hofe Markes. Er denkt gar nicht an seinen Stiefvater, hat ihn längst vergessen. Das Zeitempfinden dieser mehr als drei Jahre obliegt also einzig und allein Rual. Der Autor 'schafft' auch hier Synchronität und Solidarität, wo eigentlich keine sein kann.
Zeitlosigkeit der Minnegrotte
Völlig aufgeweicht wird das künstliche Zeitkonstrukt Gottfrieds im von der restlichen Welt abgetrennten Zeit- und Raumkontinuum der Minnegrotte. Hier gilt plötzlich keine der vom Autor vorher so detailverliebt aufgebauten Regularien mehr. Das Zeitgefüge der Grotte ist rein mythisch, "potenziert zur Zeitlosigkeit und Zeitenthobenheit eines idealen Lebens zu zweit."[8] Zeit spielt in diesem Raum keine Rolle, sie steht praktisch still. Es ist nicht zu erfahren, wie lange sich Isolde und Tristan darin aufhalten. Als wollte Gottfried gezielt ein Gegenstück zu seinem perfekt inszenierten Zeitgefüge der äußeren Welt erschaffen, in welchem er ungeachtet irgendwelcher Erwartungen an eine logische zeitliche Abfolge der Handlungen, die Unendlichkeit der Liebe zwischen Tristan und Isolde in den Vordergrund rücken kann. Die exakten Zeitangaben aus der restlichen Erzählung scheint Gottfried hier bewusst zu relativieren. Tristan findet die Grotte irgendwann einmal, rein zufällig:
- dâ wiste Tristan lang ê wol
- in einem wilden berge ein hol,
- daz haete er z'einen stunden
- von âventiure vunden. (V. 16683 - 16686)
Obwohl dieser Ort in der wirklichen Welt liegt, ist er nicht an deren Zeitstruktur gebunden. Gewissermaßen ist die Grotte überhaupt nicht zeitlich, sondern vorzeitlich, d.h. sie befindet sich außerhalb der Zeitdimension der Tristanerzählung, ein allegorischer Raum neben dem realen Raum, zeitloses Refugium als Voraussetzung der Erfahrung der Liebe in der Realität.
Zufall
Franz Josef Worstbrock enthebt die Gottfried'sche Handlungsstruktur sogar von jeglichem Zeitgefüge. Seiner Meinung nach ist die Tristanhandlung lediglich eine Ansammlung gleichartiger, jedoch untereinander nicht weiter verknüpfter, Erzähleinheiten. Vielmehr regiert für Worstbrock der bloße Zufall das Geschehen im Tristan: "Zufälle scheinen indes im 'Tristan' integrale Momente aller Phasen der Handlung und scheinen bedingende Momente ihrer rätselhaften Logik und zwingenden Gerichtetheit."[9] Der größte Zufall ist dabei freilich die Minnetrankszene selbst. Hätte Brangäne nicht den Trank unachtsam offen herumstehen lassen, hätte die Geschichte diesen Verlauf überhaupt nicht nehmen können. Natürlich ist das handlungstechnisch so vorgesehen und präpariert, jedoch objektiv betrachtet nichts weiter als Zufall. Ein weiteres Beispiel hierfür ist etwa die Situation, als Rual nach über drei Jahren Suche in einem völlig anderen Land auf die beiden Pilger trifft, die ihm Tristans Aufenthaltsort mitteilen können. Nun könnte man dies auch 'Fügung Gottes' nennen, doch sieht Worstbrock das etwas anders: "In solchem Geflecht von Zufall, Fügung und Handlungsinitiative Tristans hat kein Element die Führung, auch das der Fügung Gottes nicht - es gewinnt hier [...] keine größere Tragweite als die eines einzelnen positiven Zufalls."[10] Kein Element hat hier also - laut Worstbrock - die Führung. Es soll also keine übergeordnete Struktur geben, kein Zeitgerüst, nach welchem die Handlung strikt verläuft, sondern einzig und allein eine Art schicksalhaftes, ungesteuertes Taumeln von Zufall zu Zufall, mit einem Helden der dafür besonders anfällig zu sein scheint.
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Störmer-Caysa 2001]Störmer-Caysa, Uta: Wer ist der Herr der Zeit? Von der Ungewißheit von
Übereinkunft in Gottfrieds Tristan. In: Poetica 33 (2001). S. 51-68.
- Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980.
- Müller, Jan-Dirk: Die Zeit im 'Tristan'. In: Der "Tristan" Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santjago de Compostela 5. bis 8. April 2000. Hg. von Christoph Huber und Victor Millet. Tübingen 2002. S. 379-397.
- Simon, Ralf: Thematisches Programm und narrative Muster im Tristan Gottfrieds von Strassburg. In: ZfdPh 109 (1990). S. 354-380.
- Tomasek, Tomas: Die Gestaltung der Zeit in Gottfrieds "Tristan". In: Mit clebeworten underweben. Festschrift für Peter Kern zum 65. Geburtstag. Hg. von Thomas Bein. Frankfurt am Main, u.a. 2007. S. 41-51.
- Worstbrock, Franz Josef: Der Zufall und das Ziel. Über die Handlungsstruktur in Gottfrieds "Tristan". In: Fortuna. Hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1995. S. 34-51.
Einzelnachweise
<references>
- ↑ Vgl. dazu die detaillierten Berechnungen von Uta Störmer-Caysa über das Wegbleiben Tristans: Störmer-Caysa (2001), S. 51 ff.
- ↑ Sämtliche in diesem Artikel zitierte Textangaben aus dem Tristan entstammen dieser Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Band 1-3. Stuttgart 1980.
- ↑ Vgl. Tomasek (2007), S. 42.
- ↑ Vgl. Tomasek (2007), S. 46 f.
- ↑ Tomasek (2007), S. 49.
- ↑ Vgl. Störmer-Caysa (2001), S. 58.
- ↑ Störmer-Caysa (2001), S. 65
- ↑ Müller (2000), S. 384.
- ↑ Worstbrock (1995), S. 36.
- ↑ Worstbrock (1995), S. 40.