Zwerge in der mittelalterlichen Literatur

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Das Verhältnis der Zwerge zu Riesen und Helden

Der Schweizer Arzt, Naturphilosoph, Alchemist und Sozialethiker Theophrastus Paracelsus ordnete im 16. Jahrhundert die Zwerge und Riesen in seiner Liber de Nymphis in die Kategorie der Monstra. Anders als seine drei weiteren Kategorien der Elementargeister handelte es sich dort um Mißgeburten, die von Gott eigens geschaffen wurden und nicht von Adam abstammten oder als Folge der Natur galten. Sie wurden zum Erstaunen geschaffen und konnten sich nicht fortpflanzen oder hatten eine Seele.[1]
Eine treibende Rolle spielten die beiden besonderen Völker in der mittelalterlichen Literatur jedoch schon mit Beginn des 12. Jahrhunderts. Die Riesen waren die erklärten Antagonisten der Zwerge und wurden somit zu ihrem morphologischen Gegensatz.[2] Nicht selten wurden die kleinwüchsigen Gestalten von den Riesen in ein ungewolltes Dienstverhältnis gezwungen und in vielerlei Hinsicht gequält. Ein Beispiel findet sich in Der jüngere Sigenot (Sage von Sigenot; aventiurehafte Dietrichepik, 1300), als Meister Hildebrand auf der Suche nach dem Helden Dietrich von Bern auf den Riesen Sigenot traf und von diesem in dessen Behausung verschleppt wurde. Hildebrand war überrascht von der wunderbar ausgestatteten Wohnung des Riesen[3] und vermutete, dass ihm Zwerge dienen mussten. Weit häufiger wurden die Zwerge allerdings, speziell in der Heldenepik und im höfischen Roman, als Ritter gezeichnet – als Idealtypus könnte hier der Zwerg Laurin aus der Laurin-Erzählung (mittelhochdeutscher Heldenepos; Walberan-Version) genannt werden. Ihr äußeres Erscheinungsbild war von dem des Ritters geprägt. Jedoch hielten die Zwerge trotz ihrer Verkörperung von höfischen Attributen und der Ausstattung des speziellen 'costume' stets an Teilen ihres wilden Wesens fest, wodurch sie sich wieder der Gruppe der Monstra zuwandten. Diese Gruppe gehörte der 'niederen Mythologie'[4] an und wurde neben der Heldenepik und dem höfischen Roman auch Gegenstand der Mythologie, dem Volksglauben, den Sagen, Legenden, Liedern und Märchen. Ein Unterschied zwischen den Riesen und Zwergen kann in diesem Sinne herausgearbeitet werden, indem in der Literatur stets deutlich wurde, dass die Riesen den ordnungsstiftenden Mächten entgegengestellt waren und als aktive Widersacher von Kulturbringern definiert wurden. Anders die Zwerge, welche sich eher zwischen den Parteien wiederfanden, vor allem bezogen auf ihre höfischen Attribute. Jedoch wurden sie auf der anderen Seite von der späteren Volkssage und den Volksmärchen durch eine moralische Bewertung der Andersartigkeit[5] als Kreaturen mit charakteristischen Eigenschaften wie Verrat, Schadenfreue und Intrigen bezeichnet.

Das Größenverhältnis der beiden Monstra war neben einigen wilden Eigenschaften, ihr deutlichstes monströses Kennzeichen. Dieses wurde in den Erzählungen jedoch nicht mit genauen Maßen betitelt, sondern im Verhältnis zum jeweiligen Helden oder der umliegenden Natur definiert. Um noch etwas näher auf die Gestalt der Wunderwesen einzugehen, kann der Unterschied deutlich gemacht werden, dass die Zwerge zumeist eher ein hohes Alter hatten, während die Riesen in der mittelhochdeutschen Literatur ihr Unwesen in jungen Jahren trieben. Wiederum kann strukturell und gesellschaftlich gesehen gesagt werden, dass beide Völker Könige mitsamt Clans besaßen und Einzel- als auch Gruppenwesen waren, jedoch waren die Riesen deutlich weniger hierarchisch organisiert als die Zwerge.
Während die Zwerge als Kunsthandwerker (d.h. mit ihrer vortrefflichen Schmiedekunst erschufen sie die besonderen Waffen der Helden wie auch Riesen) oder sogar Kulturbringer definiert wurden, welche mit List, Wissen über Naturgeheimnisse und magischen Fähigkeiten in den mittelalterlichen Handlungen vorhanden waren, wurden die Riesen den Titel 'Kraft gepaart mit Dummheit'[6] nicht so schnell los. Aufgrund diesem Mangel an Intelligenz konnte der Held den Riesen durch Raffinesse besiegen, denn grundsätzlich war der Held in seiner Stärke deutlich unterlegen.[7] Diese spezielle Kraftprobe zwischen den beiden Lebewesen aus verschiedenen Sphären konnte der Held mit Hilfe einer List gewinnen und an diesem Punkt kam der Zwerg ins Spiel.

Von Beginn an erschuf Gott die Riesen, um die Zwerge vor den Monstern und Drachen zu schützen, damit diese ihre Arbeit in Sicherheit verrichten konnten. Die Riesen wurden dieser Aufgabe jedoch nicht gerecht und zwangen Zwerge, wie bereits oben erwähnt, in ein Abhängigkeitsverhältnis. Ganz selten trat diese Herr-und-Diener-Konstellation in umgekehrter Form auf, dennoch gab es herrschende Zwerge, welche sich Riesen als Art Wachhunde hielten oder wie in der Walberan-Version von Laurin sie als Kämpfer im Zwergenheers einsetzten: er fuorte von Kananean / der starken leute hundert man, / die warn die pesten recken (V.115).[8] Da diese hierarchische Möglichkeit jedoch nicht sehr häufig auftrat, brachte Gott die Helden auf die Erde, damit Ordnung gestiftet werden konnte und Kulturbewahrung vonstattenging.[9] Die Helden halfen den Zwergen gegen die Riesen, woraufhin diese als Gegenleistung ihre Unterstützung und Ratschläge im Kampf gegen die Monster und Fabelwesen anboten. Die kleinwüchsigen Helfer nutzten ihre magischen Requisiten wie Tarnkappen, Ringe und Kräuter und retteten den jeweiligen Helden somit aus der Lebensgefahr. Im Falle eines harmonischen Zusammenspiels zwischen Zwerg und Held kam es dazu, dass der Held im Berg des magischen Wesens zu Gast war und sich unter seinesgleichen heimisch fühlen konnte. Diese Freundschaften konnten sehr innig werden, in dem Sinne, dass der Held dem Zwerg sogar sein Land und seine Frau anvertrauen würde.[10] Andererseits, vor allem mit Blick auf die Heldenepik, konnten sie dem Helden mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten und Utensilien auch entgegenwirken, was sie zu ernstzunehmenden Gegnern machte. Diese speziellen Zauberwaffen hatten sich die Zwerge auf ganz unterschiedliche Art und Weise zu Eigen gemacht oder auch von Natur aus erhalten, wie der Zwerg Alberich im Ortnit (Sage von Ortnit; eingebunden ins Wolfdietrich-Epos, 13. Jahrhundert) mit seiner Kraft von zwölf Männern.
Oftmals ging es in den Auseinandersetzungen zwischen Held und Zwerg um Frauen oder Territorialkonflikte (z.B. die Laurin-Erzählung). Nicht selten hatten Zwerge das Bedürfnis, sich mit Menschen in Minne zu verbinden, was sie auf mancherlei Art auch zu Minnerittern machte. Jedoch ging dies des Öfteren mit Gewalt und Entführung von Jungfrauen einher, welche wiederum vom Helden befreit werden mussten.

Mit der Vorrede der Heldenbuchprosa (d.h. umfassende prosaische Darstellung des Heldenzeitalters) von Diebold von Hanowe wurde die Herkunft der Zwerge in den Fokus genommen und betont, dass die Zwerge wie auch die Helden von Gott als adelige Lebewesen geschaffen wurden. Vor allem bezogen auf die Zwergenkönige im Vergleich zu den Menschenkönigen haben sie eine Vielfalt an Pracht und Reichtum, welche in mancherlei Hinsicht sogar als weit überlegen geschildert werden konnten. In ihrer Herrlichkeit mussten sie in nichts nachstehen und auf den eigenen Turnieren kämpften die Helden und Zwerge in höfisch reglementierten Form[11] miteinander, anders als die Riesen, welche nie außerhalb ihrer unhöfischen-Wald-Sphäre kämpften. Die Zwerge duellierten sich nicht nur nach den Regeln des Rittertums, sondern hatten auch die Erscheinung eines vortrefflichen Ritters mit Pferd und prachtvoller Rüstung. Ein positives Beispiel ist hier der Zwerg Guivret im Erec, ein mittelhochdeutscher Versroman von Hartmann von Aue aus den Jahren 1180/90. In der Heldenepik und dem höfischen Roman wurde der Zwerg in eine Nebenrolle platziert und so trat Guivret im Erec als positive Gestalt und kleiner edler Ritter auf, welcher das Prestige des Helden mehren sollte.
Neben diesen höfischen Zwergen hielten die Erzählungen dennoch auch an bösen, hässlichen und vor allem unhöfischen Zwergen fest. Um beim Erec zu bleiben, kann der Zwerg des Ritters Yider genannt werden, welcher Königin Guenièvre vom Artushof, deren Kammerfrau und dem Helden Erec äußerst unverfroren entgegentrat und neben Beschimpfungen auch handgreiflich wurde. In dieser Situation muss der böse Zwerg jedoch als eine Art Spiegelung des Hochmuts seines Herrn gesehen werden, welcher mitsamt seiner Aufgeblasenheit, seine Identität geheim hielt und den Zwerg vorschickte.[12] Bezogen auf die Spiegelung kann ein Vergleich zu Laurin gezogen werden, indem der Held Dietrich von Bern im Zwerg Laurin auf einen künstlichen Spiegel traf, also ein seitenverkehrtes Gegenbild, dass ihn selbst bezeichnete, wodurch die Grenzen zwischen höfisch und unhöfisch verschwammen und sich zwischen Sichtbarkeit und Täuschung wiederfanden.[13] Der Zwerg und der Held standen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander.

Zwerge als Monster?

Bereits optisch lassen sich bei den Zwergen Unterschiede zum gewöhnlichen höfischen Volk finden. Zwerge zeichnen sich durch ihre Kleinwüchsigkeit aus und tragen in deutschen Erzählungen meist Tarnkappen.[14] Im Gegensatz zur altfranzösischen Dichtung tritt der Zwerg in der mittelhochdeutschen Dichtung allerdings meist nicht als verkrüppelt, missgebildet oder besonders hässlich auf. Es lässt sich bis auf die Kleinwüchsigkeit kein einheitliches optisches Auftreten der Figur des Zwerges bestimmen, da die Zwerge manchmal bärtig sind, andere Male sehr kindlich dargestellt werden. [15] Ebenfalls auffallend ist, dass die Zwerge nicht inmitten der Gesellschaft in Dörfern, Häusern oder am Hofe wohnen. Bereits in ihrer geografischen Positionierung verorten sich die Zwerge am Rande der Gesellschaft in Berghöhlen, die meist einen versteckten Zugang haben. Zwerge gelten als Schatzgräber und Behüter von Schätzen und verfügen über weitere, auch magische Fähigkeiten, die ein normaler Mensch nicht besitzt. [16] So können Zwerge in der Heldenepik in die Zukunft blicken und haben außerdem eine besondere Begabung für Pflanzen. Diese besonderen Begabungen nutzt der Zwerg in literarischen Werken manchmal zu positiven Zwecken, manchmal aber auch zu negativen. Es wird also sichtbar, dass die Zwergenfigur das Potenzial zu einer positiven und guten, als auch zu einer negativen und listigen Figur besitzt. Ein Beispiel für Letzteres lässt sich in der französischen Dichtung vorfinden, wo der Zwerg als diebisch und hässliche Figur auftritt. In der Heldenepik „Ruodolieb“ tauch eine Zwergengestalt auf, die dem Protagonisten einen Schatz verspricht sowie auch die Tochter des Besitzers des Schatzes. Danach wird angeführt, dass der Zwerg extra nochmal auf seine Vertrauenswürdigkeit hinweist. Daraus kann geschlossen werden, dass es sich bei der Figur des Zwerges nicht um einen allgemein als ehrenvoll und aufrichtigen Genossen zu handeln, wie es bei Rittern der Fall ist. Daher scheint auch die Assoziation mit Zwergen als diebisch und hinterlistig naheliegend, wie es bei dem Zwerg Galopin der Fall ist.[17] Allerdings lassen sich auch positive Darstellungen finden, so beispielsweise in Ereck ed Enide, wo der Zwerg als ehrenvoller Hochzeitsgast genannt wird. Dabei ist allerdings auffallend, dass der Zwerg in Verbindung mit seinem Bruder auftritt, der ein Riese ist. Somit wird die Kleinwüchsigkeit des Zwerges also ausgeglichen, sodass das Gleichgewicht bestehen kann und der Zwerg als positive Figur verbleibt.[18] Auch bei Ereck handelt es sich um einen „guten“ Zwerg, der als edler Ritter fungiert. Hierbei wird allerdings hervorgehoben, dass es sich bei dem Zwerg um einen „Zwergenritter“ handelt, also weder um einen gewöhnlichen Ritter noch um einen gewöhnlichen Zwerg. Somit hat der Zwerg also Potenzial gut zu sein und sich für ein nobles und ehrenvolles Leben zu entscheiden. [19] Ebenfalls interessant ist, dass die Riesen und Drachen als Feinde der Zwerge gelten. Beim Kampf gegen Riesen stehen die Zwerge oftmals an der Seite der Helden und unterstützen diese mit Hilfe magischer Fähigkeiten und Zauberkräuter. [20] Trotz der oftmals eher positiven Darstellungen von Zwergen, die sich in der mittelhochdeutschen Dichtung vorfinden lassen, dominieren negative Charakterzüge das Geschlecht der Zwerge. Der Charakter eines Zwerges ist meist heimtückisch und listig, was sich auch in von der Etymologie des Wortes Zwerg ableiten lässt. So kann zusammengetragen werden, dass die Zwerge in der höfischen Literatur ihr bösartiges Wesen beibehalten, während sie in der mittelhochdeutschen Dichtung doch eher freundliche Charakterzüge aufweisen. [21]

Literaturverzeichnis

Harms, Björn-Michael: Kleine Helden. Höfische Zwerge und unhöfische Ritter in der Walberan-Version des „Laurin“, in: Ruhm und Unsterblichkeit. Heldenepik im Kulturvergleich, hg. von Konrad Meisig, Wiesbaden 2010, S. 93-110.
Von Keller, Adelbert: Das Heldenbuch. Nach dem mutmaßlichen ältesten Drucke, Stuttgart 1867 (Band 87), S. 1-3.
Unger, Melanie: Zusammenfassung: Riesen, Handout, Hauptseminar, Monster in der mittelalterlichen Literatur, Universität Konstanz, Konstanz 2021, 1-4.

  1. Pia Holenstein Weidmann: Riesen. Eine Körperchiffre in der Frühen Neuzeit, S. 159-60.
  2. Christa Habiger-Tuczay: Zwerge und Riesen, in: Dämonen, Monster, Fabelwesen, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich, St. Gallen 1999 (Band 2), S. 635.
  3. August Clemens Schoener: Der jüngere Sigenot. Nach sämtlichen Handschriften und Drucken, Heidelberg 1928, XLIV.
  4. Lutz Röhrich: Riese, Riesin, Freiburg/Br., S. 668.
  5. Andreas Hammer: Diskursgeschichte. Antike und mittelalterliche Wissensliteratur, Folien, Hauptseminar, Monster in der mittelalterlichen Literatur, Universität Konstanz, Konstanz 2020, S. 5.
  6. Lutz Röhrich: Riese, Riesin, Freiburg/Br., S. 676.
  7. Ebd., S. 676.
  8. Christa Habiger-Tuczay: Zwerge und Riesen, in: Dämonen, Monster, Fabelwesen, hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich, St. Gallen 1999 (Band 2), S. 647.
  9. Ebd., S. 642.; Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit, Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen 259), S. 347.
  10. Ebd., S. 642.
  11. Ebd., S. 640.
  12. Isabel Habicht: Der Zwerg als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und französischen Texten des Mittelalters, Heidelberg 2010, S. 63-64.
  13. Hartmut Bleumer: Wert, Variation, Interferenz. Zum Erzählphänomen der strukturellen Offenheit am Beispiel des Laurin, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2004), S. 124.
  14. Habicht, Isabel: Der Zwerg als Träger metafiktionaler Diskurse in deutschen und französischen Texten des Mittelalters. Winter 2010, S. 60.
  15. Müller, Ulrich; Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Fachverlag für Wissenschaft und Studium GmbH 1999, S. 636.
  16. Habicht 2010, S. 52-54.
  17. Ebd. S. 57.
  18. Ebd. S. 61.
  19. Ebd. S. 63.
  20. Müller und Wunderlich 1999, S. 641, 642.
  21. Ebd. S. 644.