Sachsen- und Schwabenspiegel
1. Rechtsquellen im Mittelalter
Das gesellschaftliche Zusammenleben im Mittelalter war bestimmten Gewohnheiten und Regeln unterworfen. Diese leiteten sich dabei vom römischen Recht, sowie vom Kirchenrecht und der Bibel ab.
Ein klar festgeschriebenes Recht, so wie wir es heutzutage in Form unserer Verfassung - dem Grundgesetz (GG) - oder dem Strafgesetzbuch (StGB) oder Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) kennen, gab es jedoch nicht. Über allgemein bekannte Vorgehensweisen in Streitfällen oder mündlich überlieferte Rechtsgrundsätze wurden Rechtstreitigkeiten gelöst. Einzelne Grundsätze wurden auch in schriftlicher Form beurkundet. Hierbei handelt es sich jedoch um Dokumente, die sich mehr mit der Verfassung und gesellschaftlichen Ordnung befassten. Das beste Beispiel hierfür sind Urkunden, die einzelne Grundbesitze festlegen oder die Zusicherung oder Bestätigung von Rechten oder Privilegien gegenüber einzelnen Personen oder Personengruppen beinhalten.
Im Gegensatz zu Urkunden oder anderen Verordnungen, die einzelne Rechtsnormen vorgeben, besitzen die in diesem Beitrag behandelten Spiegel einen deskriptiven Charakter. Sie fassen das zusammen, was im Umfeld der Entstehungsorte dieser Spiegel geltendes Recht war. Die Verfasser dieser Spiegeltexte waren darauf bedacht, die mündlich überlieferten Rechte und Rechtspraktiken zu sammeln und aufzuschreiben.
Im Sachsen- und Schwabenspiegel sind genau diese deskriptiven Rechtsnormen zu erkennen. Im Folgenden sollen diese zunächst eingeführt werden, bevor es dann im vierten Abschnitt um die sprachlichen Besonderheiten der beiden Spiegel geht. Dabei werden diese nicht aufgrund ihres Inhalts, sondern wegen ihrer Sprache und ihrem Schriftbild analysiert.
2. Sachsenspiegel
Der Sachsenspiegel ist eine verschriftliche Sammlung an Gesetzen des 13. Jahrhunderts für den norddeutschen Raum. Von ca. 1220-1235 verschriftlichte Eike von Repgow die in seinem Umfeld geltenden Gesetze und fasste sie in einem "Spiegel" zusammen. Das Ziel lag dabei das bereits geltende Recht und die damit verbunden Vorgehensweise bei rechtlichen Auseinandersetzungen zu erfassen und niederzuschreiben. Da Eike von Repgow im Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts lebte und das Werk von ihm selbst als "spigel der Saxen" benannt wurde, hat der Sachsenspiegel seinen heutigen Namen.
Dadurch, dass die bisher mündliche Tradition des geltenden Rechts durch die Verschriftlichung im Sachsenspiegel abgelöst wurde, erfuhr er eine große Resonanz und wurde vielfach kopiert und rezipiert. So verbreitete sich dieser Gesetzestext in einem beachtlichen Tempo. Heute liegt der Sachsenspiegel in einer Vielzahl von Handschriften und Fragmenten vor.
Die Besonderheit hierbei ist, dass der Spiegel auch mit Abbildungen, sogenannten Illuminierungen, ausgestattet ist. Diese zeigen in einer Bildergeschichte das, was im Text beschrieben wird. Daher kann man davon ausgehen, dass der Sachsenspiegel sowohl von alphabetisierten Personen, als auch von Analphabeten konsultiert und auf korrekte Art und Weise verstanden werden konnte.
Da Eike von Repgow selbst die Lebensbereiche des Adels, des Klerus und der Bauern kannte, erfüllte er die perfekten Voraussetzungen, um den Sachsenspiegel zu verfassen. Bereits an der groben Aufteilung in Landrecht und Lehensrecht, ist zu erkennen, dass es eine Trennung zwischen den drei genannten Bevölkerungsgruppen gibt.
Im Lehensrecht sind alle wichtigen Fragen zur territorialen Organisation vom Lehensherren über die Vasallen bis zu den Leibeigenen beschrieben. Zusätzlich ist das Zusammenleben der Stände und die Wahl des Königs in diesem Abschnitt beschrieben. Hier handelt es sich also um eine Art Verfassungstext, welcher den Staatsaufbau festlegt.
Im Landrecht hingegen lassen sich alle Rechtsfragen des alltäglichen Lebens klären. Diesen Teil könnte man mit dem heutigen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) der Bundesrepublik Deutschland vergleichen. Es handelt sich hier um einen Gesetzestext, welcher beschreibt wie das Leben zwischen Bewohnern eines Territoriums oder Siedlung abzulaufen hat und welche Rechte und Pflichten es hierbei gibt.
3. Schwabenspiegel
Um 1275 wurde der Versuch unternommen den bereits erwähnten Sachsenspiegel zu kopieren. Angelehnt an diesem Vorbild, verfasste ein unbekannter Autor den Schwabenspiegel. Er ist ebenfalls eine Sammlung an Gesetzen, welche im Süddeutschen Raum - insbesondere in Augsburg - zur Geltung kamen.
In Anlehnung an das knapp 50 Jahre ältere Vorbild, wurde auch der Schwabenspiegel in zwei größeren Teilen aufgeteilt. Das Land- und das Lehensrecht. Auch hier geht es einerseits im Lehensrechtsteil um die verfassungsmäßige Ordnung des nicht-sächsischen Reichsgebietes und andererseits im Landrechtsteil um das Zusammenleben der Menschen.
Die Besonderheit am Schwabenspiegel liegt darin, dass eine wichtige Gruppe der städtischen Gesellschaft - die Juden - in ihr als eigene Rechtskörperschaft gesehen werden, welche bestimmten Gesetzen unterstellt sind. Sie genießen zum einen den direkten Schutz des Königs und zum anderen den Schutz über spezielle Gesetze, welche das Verbot der Gewaltanwendung gegen Juden festschreibt. So besonders das klingen mag, besteht hier jedoch Grund zur Annahme, dass das Verbot der Gewalt gegen Juden nur als eigenes Gesetz explizit genannt wird, weil in der Vergangenheit dagegen verstoßen wurde. Es ist davon auszugehen, dass, wenn die Gewalt gegen Juden ausgeblieben wäre, auch die explizite Nennung einer Rechtsnorm ausgeblieben wäre, die ebendiese verbietet.
Wie auch der Sachsenspiegel, basiert der Schwabenspiegel auf lateinischem Recht, kanonischem Kirchenrecht, Rechtsnormen und Gesetzen aus dem Territorium, in welchem er verfasst wurde und die der Verfasser des Spiegels kannte, und Gesetzen, die aus der Bibel abgeleitet zu sein scheinen.
4. sprachliche Besonderheiten
Wie bereits die Namen und Entstehungsorte vermuten lassen, unterscheiden sich Sachsen- und Schwabenspiegel in sprachlicher Hinsicht in mehreren Bereichen. Sowohl lautlich, als auch bezüglich der Negationsmuster lassen sich zwischen diesen Texten sprachliche Differenzen erkennen, welche als wichtige Quelle für sprachgeschichtliche Forschungen dienen kann. Über einen Vergleich zwischen diesen beiden Texten, können daher Unterschiede zwischen der sächsischen und der schwäbischen Spiegelvariante Rückschlüsse auf die sprachlichen Varianten im nieder- und hochdeutschen Sprachraum zulassen.
Der Vorteil an den beiden Spiegeln ist, dass sich sowohl im Abschnitt für das Land-, als auch in dem für das Lehensrecht ähnliche Paragraphen wiederfinden lassen. Daher kann man durch das Heranziehen desselben Gesetzes in beiden Spiegeln die sprachlichen Besonderheiten im selben inhaltlichen Thema wiederfinden.
In diesem Beitrag sollen für den sprachlichen Vergleich drei Ausschnitte zum selben Rechtsfall aus drei Spiegeln miteinander verglichen werden. Neben dem Quedlinburger Sachsenspiegel, sollen noch eine niederdeutsche Abschrift, sowie der Schwabenspiegel aus Augsburg zum Untersuchungsgegenstand werden.
Sachsenspiegel (Quedlinburg) | Sachsenspiegel (niederdeutsche Variante) | Schwabenspiegel (Augsburg) | |
---|---|---|---|
(nicht vorhanden) LXXXVIII - LXXXIX |
48. We sin ve drift up enes anderen mannes korn oder gras. Of men dat nicht panden en mach. Hom. 47. |
212. Der vihe ze schaden treibet. Skb. 225 | |
Swer sin ve drift uph eynes anderen mannes corn oder gras, her sol yme gelden sinen schaden upphe recht, unde buʒen mit dren schillingen. | §1 We sin ve drift up enes anderen mannes korn, oder uppe sin gras, he scal eme den scaden gelden uppe recht und boten mit dren scillingen. | Swer sin vihe tribet uf eines mannes korn oder gras, er sol im gelten sinen schaden zwivalt, und sol dem rihter geben dire schillinge, oder nach gewonheit; er mag eʒ ouch wol phenden ane deʒ rihters urlop, unde sol eʒ triben in deʒ rihters gewalt, er mag eʒ banden. | |
N'is aber her jegenwardich nicht, da daʒ ve schadet, unde wirt iz gephandet, den schaden sollen se gelden der das ve is, ob men den schaden zu hant bewiset nach der bure core; unde des phenninge gibt jewelk zu bute vor sin ve. | §2 En is he aver dar to jegenwarde nicht, dar dat ve gescadet heft, unde wert it gepandet, den scaden scolen se gelden, de des dat ve is, of men it eme tohant bewiset na der bure kore. Unde ses pennige gift jene to bote vor sin ve. | (nicht vorhanden) | |
Is daʒ ve so getan, daʒ iʒ neman getriben ne mag, alse eyn phert, daʒ renis is, oder gans oder ber, so lade her dazu zwene man, unde wise ene sinen schaden, unde volge deme ve in sines herren hus, unde besculdege ene da umme; so mut her beʒʒeren vor daʒ ve, alse ob iʒ gephandet were. | §3 Is aver dat ve so gedan, dat men it nicht indriven en mach, alse perde de renisch sin, oder gense, oder bere, so lade he darto twene man, unde bewise sinen scaden unde volge deme ve in sines heren hus, unde sculdege ene darumme; so mot he beteren vor dat ve, alse of it gepandet were. | Ist daʒ vihe so getan vihe, daʒ erʒ niht getriben mag, alse wildiu ros, unde reinschiu pherit, oder wilt daʒ zam ist, oder gense, daʒ sol er in sine gewalt triben, ob erʒ hin ze dem rihter niut bringen mag; unde sol eʒ dem rihter kiunde, unde der sol eʒ im heiʒʒen gelten alse reht ist, unde alse hie vor gesprochen ist. Der man sol sinen schaden bereden selbedritte, und hat er der niut, so sol er sinen schaden bereden mit sin eines hant. |
Was oben in der Tabelle zu lesen ist, ist ein Gesetzesauszug aus dem Teil des sogenannten Landrechtes der verschiedenen Spiegel. Somit handelt es sich um Rechtsfragen des alltäglichen Lebens, welche das Zusammenleben reglementieren sollen.
In dem oben aufgezeigten Beispiel, geht es um den Streitfall, was zu beachten ist, wenn jemand sein Vieh auf das Grundstück eines anderen führt. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Tier Getreide oder Gras von der fremden Wiese frisst oder zertrampelt, wodurch es dem eigentlichen Besitzer abhanden kommt. Der Schaden sollte dann je nach Spiegel mit drei Pfennigen Geldstrafe beglichen werden. Der Schwabenspiegel gibt sogar an, dass das Tier zu pfänden sei. Die beiden Sachsenspiegel sehen auch die Pfändung vor, wobei noch die Zahlung von sechs Pfennigen an den Bauern zu leisten sei. Man kann hier also - noch bevor es um die sprachlichen Unterschiede geht -, inhaltliche Differenzen erkennen.
4.1 Lautverschiebung
Mit der zweiten germanischen Lautverschiebung wird der Wandel von Konsonanten vom Germanischen zum Althochdeutschen beschrieben. Dieser konsonantische Lautwandel hat in den süddeutschen Gebieten südlich der Benrather Linie stattgefunden, aus denen sich das heutige Neuhochdeutsche entwickelt hat. Während in den Gebieten südlich dieser Isoglosse den Lautwandel mitmachten, findet man nördlich der Benrather Linie keine stichhaltigen Belege für diesen Konsonantismus. Daher kann man an den Textauszügen aus den verschiedenen Spiegeln mehrere Belege für die zweite germanische Lautverschiebung ausfindig machen.
Hier seien Beispiele aus den Texten angeführt:
/p/→/f/ bzw. p zu f
Für den Wandel von /p/ zu /f/ im Süddeutschen Raum erkennt man im oben abgebildeten Beispiel aus dem Schwabenspiegel den Textauszug am Wort <uf>, nhdt. "auf". In beiden Sachsenspiegel wird dies hingegen <uph> und <up> genannt.
/t/→/s/ bzw. t zu s
Für den Wandel von /t/ zu /s/ hingegen kann man ebenfalls in den obigen Auszügen erkennen. In der niederdeutschen Variante des Sachsenspiegels kann man das an den Wörtern "dat" und "betteren", nhdt. besseren, erkennen, welche südlich der Benrather Linie, also im Schwabenspiegel als "das" oder "besseren" geschrieben werden.
/t/ → /ts/ bzw. t zu z
Beim Wandel von /t/ zu /ts/ ist festzustellen, dass lediglich die niederdeutsche Version des Sachsenspiegels diesen Sprachwandel nicht mitgemacht hat. Beim Wort "tohant" nhdt. "zur Hand", kann man sehen, dass es sich um einen Lautwandelprozess handelt, der zum Zeitpunkt der Verschriftlichung des Spiegels nur weit nördlich der Benrather Linie anzutreffen war. Zu erkennen ist dies daran, dass es im Quedlinburger Sachsenspiegel bereits den Wandel von <t> zu <z> gegeben hat, wie man an dem Wort "zu hant" in der Quedlinburger Variante erkennen kann.
4.2 Negation
Die Spiegel unterscheiden sich nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch bezüglich ihrer Negationsmuster. Im Jespersen-Zyklus werden verschiedene Negationsarten in einem Phasenmodell beschrieben.
Die erste Phase beschreibt demnach die einfache Negation mittels eines Klitikons, dass entweder proklitisch, d.h. vor dem Verb angehängt, oder enklitisch, d.h. an das Verb hinten dran. Im Althochdeutschen war das das "ni".
Die zweite Phase hingegen wird dadurch definiert, dass das klitische Negationspartikel durch ein optionales "nicht" verstärkt wird.
In der dritten Phasen wird das Klitikon durch ein obligatorisches "nicht" verstärkt.
In der letzten Phasen hingegen fällt das klitische Negationspartikel weg. Es bleibt die einfache Negation mit dem Wort "nicht" als einfacher Negationsmarker zurück, wie es heute im Neuhochdeutschen der Fall ist.
Der Quedlinburger Sachsenspiegel und die niederdeutsche Version davon, sind dem heute gebräuchlichen Negationsmuster mit einem einfachen Negationsmarker weit entfernt. Sie befinden sich noch in der zweiten bzw. dritten Phase des Jespersen-Zyklus. Zu erkennen ist dies daran, dass die Negationen im Sachsenspiegel mit "ne + nicht" bzw. "en + nicht" vorgenommen werden.
Im Schwabenspiegel hingegen ist ein modernerer Sprachgebrauch bezüglich der Negation zu erkennen. Hier findet die Negation mittels des Negationsmarkers "nicht" statt, so wie wir es im Neuhochdeutschen kennen.
5. Fazit
Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl der Sachsen-, als auch der Schwabenspiegel wichtige Informationen darüber liefern wie das Leben der mittelalterlichen Gesellschaft abgelaufen sein muss. Neben diesen inhaltlichen Informationen, liefern die Spiegel auch Hinweise zur sprachgeschichtlichen Entwicklung des Deutschen. Die Spiegel stellen also das alltägliche Leben im 13. Jahrhundert und darüber hinaus auch den Sprachstand des Deutschen im selben Jahrhundert statt.