Neidharts Kreuzlieder am Beispiel von Sommerlied 11

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«Neidharts Lyrik ist literarischer Gegensang, ist Parodie, gerichtet im besonderen gegen die Rituale des Hohen Sangs.» [Schweikle 1990:131] Diese Feststellung Günther Schweikles lässt sich auch auf Neidharts Kreuzzugslyrik beziehen, die sich stark von den traditionellen Kreuzzugsliedern Friedrich von Hausens, Albrecht von Johansdorfs oder Heinrich von Rugges unterscheidet. Neidharts Kreuzzugslieder sind enorme Formen des Gegensangs, in welchen sich die für Neidhart typischen Umkehrstrukturen finden. Er parodiert so nicht nur die konstitutiven Elemente und traditionellen Motive der Kreuzzugslyrik, sondern kehrt diese auch um oder hebt diese auf.

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit Neidharts Kreuzlieder. Hierbei wird anhand von Sommerlied 11 erarbeitet, wie Neidhart an die in den Jahren 1220/1230 fest etablierte Gattung der Kreuzzugslieder anknüpft, dabei jedoch etwas völlig Neues in die Kreuzzugslyrik einbringt, indem er bewusst am traditionellen Typus vorbei schreibt und die traditionellen Motive umkehrt, entleert und parodiert, um den Kreuzzugsgedanken zu desillusionieren. Es wird untersucht, wie Neidhart in Sommerlied 11 mit traditionellen Motiven und Diskursen umgeht, wobei der Fokus besonders auf den Motiven des Kreuzzugslieds, Botenlieds und hohen Minnesangs liegt. Darüber hinaus soll erarbeitet werden, inwiefern Neidhart die von ihm selbst begründete Gattung der Dörper-Lieder in Sommerlied 11 einfließen lässt.

Die traditionelle Kreuzzugslyrik um 1190

Die Kreuzzüge, mit ihren Pilgerfahrten ins Heilige Land und ihren kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Heiden zur Befreiung des Heiligen Grabs, haben die Kultur Europas im 12. und 13. Jahrhundert stark geprägt. Auch die Lyrik hat das Thema Kreuzzug aufgenommen und verarbeitet, wobei die ersten deutschen Kreuzlieder aus den Jahren kurz vor dem dritten Kreuzzug Friedrich Barbarossas 1189-1192 stammen. Diese Verspätung der deutschen Kreuzzugslyrik ist zum einen mit der Ablehnung der Kreuzzugsidee in Deutschland beim ersten Kreuzzug, zum andern mit der Bevölkerungsgruppe der Teilnehmer am zweiten Kreuzzug zu erklären. Zwar war die deutsche Beteiligung an diesem sehr hoch, allerdings setzten sich die Teilnehmer eher aus niedrigeren Bevölkerungsschichten zusammen. [Böhmer 1968:13] Böhmer weist hinsichtlich der Kreuzzugslyrik darauf hin, dass sie grundsätzlich nicht als eine Gattung zu verstehen ist, «sondern als eine im Wesentlichen durch den Inhalt bestimmte Gruppierung der mittelhochdeutschen Dichtung, die zunächst weder über den ästhetischen noch über den sozialen Bereich der einzelnen Werke etwas aussagen kann». [Böhmer 1968:5] Das hat zur Folge, dass man der Kreuzzugslyrik an sich nicht gerecht werden könne, wenn man sie ausschließlich in Verbindung mit den Kreuzzügen betrachtet.

Konstitutive Elemente der Kreuzzugslyrik sind der Abschied im heimatlichen Bereich und von der vrouwe, die Sorge um ein tugendhaftes Leben der zu Hause verbliebenen Frau und die Hoffnung auf Gotteslohn, der mit dem Herrn oder der Familie und vrouwe in der Heimat geteilt werden kann. Das Sänger-Ich sieht sich in den Kreuzliedern zwei im Widerspruch stehenden Dienstverpflichtungen gegenüber: Dem Frauenminnedienst und dem Gottesminnedienst. Durch die Verpflichtung im Dienste Gottes aufzubrechen, wird der Bereich des Gottesminnediensts herausgehoben, wodurch ein Konflikt mit dem Frauenminnedienst entsteht. Beide Dienstverpflichtungen würden den Ritter eigentlich vollkommen beanspruchen, weshalb ihn dieser Konflikt ins Leid stürzt. In den Kreuzliedern wird diese Problematik zwischen den beiden Polen Gottesminne und Frauenminne reflektorisch gelöst. Die Lösung dieses Dilemmas fällt meist zugunsten der Gottesminne aus, da sie der irdischen Bindung überlegen ist. Zwar gibt es auch Kreuzlieder, in denen das Problem offengelassen und sich nicht ausschließlich für die Gottesminne entschieden wird, wie beispielsweise bei Albrecht von Johansdorf. Allerdings stellt in allen Liedern die Trennung den lyrischen Grundvorgang dar, was bedeutet, dass die Lieder zwischen Kreuznahme und Aufbruch zum Kreuzzug liegen. [Böhmer 1968:27] Die traditionelle mittelhochdeutsche Kreuzzugslyrik befasst sich also nicht speziell mit historischen Tatsachen, sondern verbindet Grundelemente des geistlichen Lieds mit denen des weltlichen Minnelieds, «nämlich die Verpflichtung der Kreuznahme als Ausdruck einer existentiellen Treue zu Gott und die Minne, die ein ebenso existentielles Treueverhältnis zur Frau begründet.» [Klein 2000:18] Die Verteilung der beiden Themenbereiche Minne und Kreuzzug variiert in den verschiedenen Kreuzliedern. Die Kreuzzugsmotivik kann sich entweder auf eine Strophe beschränken, oder in das Minnethema verwoben sein. [Weber 1995:16] Auch wird nicht die Entscheidung zur Kreuzzugsteilnahme abgewogen. Vielmehr ist die Kreuznahme die Voraussetzung der Situation, die die Kreuzlieder auslöst. [Böhmer 1968:28] Das religiöse Argumentationsmuster der Lieder bleibt immer das Gleiche. Georg Wolfram stellt diesbezüglich vier, immer wiederkehrende, Gedankenkreise auf: «Gott hat für uns gelitten, wir müssen es ihm vergelten, auch unsere Sünden fordern eine Sühne, wir erwerben durch unseren Dienst die ewige Seligkeit». [Wolfram 1886:97] Dieses gleichbleibende Argumentationsmuster entspricht der kirchlichen Propaganda, ist allerdings in das ritterliche Weltbild integriert. [Böhmer 1968:28] Hinzu kommt das rechtliche Argument für die Begründung der Kriegsfahrt. Grundlage hierfür bildet der terra-sancta-Gedanke, nach welchem das Heilige Land rechtmäßig der lateinischen Kirche als Nachfolger Christi gehört. [Weber 1995:16] Im Allgemeinen sind Kreuzlieder höfische Lieder, die von Rittern verfasst und an den Höfen öffentlich vorgetragen wurden. Dies bedeutet, dass die Autoren unter ihrem eigenen Publikum gelebt und deren Lebens- und Verhaltensformen geteilt haben. Daher musste der Autor seine Lieder auch an die situationsbedingten Erwartungen seines Publikums anpassen, weshalb die Inhalte der Kreuzlieder auch stark vom Publikum selbst geprägt wurden. [Böhmer 1968:21]

Das traditionelle Botenlied

Das Botenlied stellt nach Schweikle eine Sonderform des Werbelieds dar, «in der als dritte fiktive Gestalt ein Bote zur Vermittlung von Liebesgrüßen, Werbungen, Minneermahnungen eingesetzt wird». [Schweikle 1990:134] Der Bote stellt in der frühen ritterlichen Liebeslyrik, sowohl für den Mann als auch für die Frau einen Ansprechpartner dar. Beiden wird es so auf diese Weise möglich, ihrer Situation und ihren Gefühlen in monologischer Form Ausdruck zu verleihen. Im Auftrag der Frau erscheint der Bote als Bittsteller, der häufig auch an ein vergangenes Treffen erinnern soll. Im Namen des Mannes fungiert der Bote als Werbender.

Neidharts Kreuzlieder am Beispiel von Sommerlied 11

Der folgende Teil des Artikels befasst sich mit Neidharts Kreuzlieder am Beispiel von Sommerlied 11. Hierbei wird dieses formal und inhaltlich auf die Fragestellungen hin analysiert und interpretiert.

Übersetzung von Sommerlied 11

Strophe I (R 1, C 26, M, c 1)

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Ez gruonet wol diu heide, Es grünt die Heide,
mit grüenem loube stât der walt: der Wald erstrahlt in grünem Laub:
der winder kalt der kalte Winter
twanc si sêre beide. hatte sie beide in seiner Gewalt
diu zît hât sich verwadelôt. die Zeit hat sich verwandelt.
mîn sendiu nôt Meine qualvolle Sehnsucht
mant mich an die guoten, von der ich unsanfte scheide. erinnert mich an die Geliebte, von der ich schwer scheide.

Strophe II (R 2, C 27, c 2)

Gegen der wandelunge Dem Frühlingsanfang entgegen
wol singent elliu vogelîn singen alle Vögel
den vriunden mîn, für meine Freunde,
den ich gerne sunge, denen ich gerne vorsänge,
des sî mir alle sagten danc. dafür würden sie mir alle Dank entgegenbringen.
ûf mînen sanc Meinen Gesang
ahtent hie die Walhen niht: sô wol dir, diutschiu zunge! achten die Welschen hier nicht: so wohl dir, deutsche Sprache!

Strophe III (R 3, C 28, c 3)

Wie gerne ich nu sande Wie gerne würde ich nun
der lieben einen boten dar, der Liebsten einen Boten senden,
(nu nemt des war!), (seid dessen versichert!)
der daz dorf erkande, einem, dem das Dorf bekannt ist,
dâ ich die seneden inne lie: in dem ich die edle Frau zurückließ:
jâ meine ich die, ja, ich meine die,
von der ich den muot mit staeter liebe nie gewande. von der ich meine Gedanken und meine treue Liebe nie abwandte.

Strophe IV (R 4, C 31, c 4)

Bote, nu var bereite Bote, nun fahr sogleich,
ze lieben vriunden über sê! zu den lieben Freunden über das Meer!
mir tuot vil wê Die Sehnsuchtsqualen
sendiu arebeite. bereiten mir großen Schmerz.
dû solt in allen von uns sagen, Du sollst ihnen allen von uns sagen,
in kurzen tagen in wenigen Tagen
saehens uns mit vröuden dort, wan durch des wâges breite. sähen sie uns mit Freuden bei sich, wenn es die Breite des Meers nicht verhindern würde.

Strophe V (R 5, C 32, c 6)

Sage der meisterinne Sage der Herrin
den willeclîchen dienest mîn! von meinem bereitwilligen Minnedienst!
si sol diu sîn, Sie soll diejenige sein,
diech von herzen minne die ich von Herzen liebe
vür alle vrouwen hinne vür. vor allen Frauen immerfort.
ê ichs verkür, Bevor ich von ihr ablasse,
ê wold ich verkiesen, deich der nimmer teil gewinne. wollte ich eher darauf verzichten, überhaupt jemals eine (Frau) zu gewinnen.

Strophe VI (R 6, C 33, c 6)

Vriunden unde mâgen Den Freunden zu Hause
sage, daz ich mich wol gehabe! sage, dass ich wohlauf bin!
vil lieber knabe, Lieber Junge,
ob si dich des vrâgen, wenn sie dich fragen,
wiez umbe uns pilgerîne stê, wie es um uns Kreuzfahrer stehe
sô sage, wie wê dann sage, wie weh
uns die Walhen haben getân! des muoz uns hie betrâgen. uns die Welschen getan haben! Das muss uns hier bekümmern.

Strophe VII (R 8, c 8)

Wirp ez endelîchen, Richte es eilig,
mit triuwen lâ dir wesen gâch! und zuverlässig aus, beeile dich!
ich kum dar nâch Ich komme dorthin
schiere sicherlîchen, sicherlich schnell nach,
so ich aller baldist immer mac. so schnell ich es nur kann.
den lieben tac Den lieben Tag
lâze uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strîchen! lasse uns Gott erleben, an welchem wir zurück in die Heimat ziehen!

Strophe VIII (R 7, C 29, c 9)

Ob sich der bote nu sûme, Sollte der Bote es versäumen,
sô wil ich selbe bote sîn so will ich selber Bote sein
zen vriunden mîn: für meine Freunde:
wir leben alle kûme, wir sind alle kaum noch am Leben:
daz her ist mêr dan halbez mort. über die Hälfte des Heeres ist tot.
hey, wære ich dort! Ach, wäre ich dort!
bî der wolgetânen læge ich gerne an mînem rûme. Bei der Geliebten läge ich gerne an meinem Platz.

Strophe IX (R 9, C 30, c 10)

Solt ich mit ir nu alten, Sollte ich mit ihr altwerden,
ich het noch eteslîchen dôn ich hätte noch etliche Lieder
ûf minne lôn in der Hoffnung auf Liebeslohn
her mit mir behalten, vorrätig,
des tûsent herze wurden geil. worüber tausend Herzen froh würden.
gewinne ich heil Habe ich Glück
gegen der wolgetânen, mîn gewerft sol heiles walten. bei der Geliebten, so soll es meinem Sängerberuf zugutekommen.

Strophe X (R 10, 7)

Si reien oder tanzen, Sie springen wohl im Reigen oder tanzen,
si tuon vil manegen wîten schrit, sie werden so manchen weiten Schritt machen,
ich allez mit. ich mache alles mit.
ê wir heime geswanzen, Ehe wir zuhause tanzen,
ich sage iz bî den triuwen mîn, ich sage es bei meiner Treue,
wir solden sîn sollten wir
zŒsterrîche: vor dem snite sô setzet man die phlanzen. in Österreich sein: vor der Ernte setzt man die Pflanzen.

Strophe XI (R 11, c 11)

Er dünket mich ein narre, Ein Narr scheint mir der zu sein,
swer diesen ougest hie bestât. der diesen August hier bleibt:
ez waer mîn rât, Es wäre mein Rat,
lieze er siech geharre er ließe die schreckliche Warterei
und vüer hin wider über sê: und führe zurück über das Meer:
daz tuot niht wê; das tut nicht weh;
nindert wære baz ein man dan heime in sîner pharre. nirgends lebt ein Mann besser, als zuhause in seiner Pfarre.

Zusatzstrophe (c 12)

Ich will gein Ôsterîche Ich will mich nach Österreich
an einer züllen swattgen hin in einer Zille treiben lassen.
war kom mîn sin, Wo stand mir der Sinn,
daz ich sô trunkelîche dass ich so betrunken
driu snelliu ros vertoppelt hân? drei schnelle Pferde im Würfelspiel verloren habe?
des muoz ich gân. Deshalb muss ich nun gehen.
koufet ieman setele, ich gibes im sicherlîche. Kauft jemand Sättel, ich gebe sie ihm gewiss.

Überlieferung von Neidharts Sommerlied 11

Neidharts Sommerlied 11 ist mit unterschiedlichem Wortlaut und unterschiedlicher Strophenzahl in den Handschriften R, C und c überliefert. Darüber hinaus ist die erste Strophe des Liedes auch in der Handschrift der Carmina Burana (Handschrift M) überliefert, in welcher sie einem lateinischen Lied in der gleichen Strophenform folgt. [Müller 1977:145] Die älteste Handschrift R überliefert hierbei 11, Handschrift C 8 und Handschrift c 12 Strophen des Liedes. Was von der zweiten Hälfte des Liedes noch in C eingetragen war, kann nicht beurteilt werden, da aufgrund von Blattverlusten an dieser Stelle 56 Strophen verlorengegangen sind. [Böhmer 1968:59] «In c folgt noch eine eigentümliche Zusatzstrophe in burlesker Tonart» [Wießner 1989:28], die in der Forschung einhellig als unecht betrachtet wird.

Für den vorliegenden Artikel und die Interpretation des Sommerlieds 11 wird die Textausgabe von Edmund Wießner verwendet. Wießner folgt dem Strophenbestand und der Reihenfolge von R, nimmt allerdings nach Strophe VI eine Umstellung vor, indem er Strophe R 8 vor R 7 stellt. Für die Interpretation hat dies zur Folge, dass R 8 noch zu den Botenstrophen des Lieds gezählt werden kann und R 7 dann den Beginn der direkten Ansprache an den Zuhörerkreis markiert. Auch druckt er die als unecht geltende Strophe c 12 in seiner Edition ab, welche bei der Interpretation in diesem Artikel nicht berücksichtigt wird.

R C c
I I I
II II II
III III III
IV VIII IV
V IX V
VI IV VI
VIII V X
VII VI VII
IX VIII
X IX
XI XI
Z

Formale Mittel

Neidharts Sommerlied 11 setzt sich aus elf siebenzeiligen Strophen zusammen, womit es das längste Sommerlied Neidharts darstellt. Der Aufbau ist bezüglich Reimschema, Hebungen und Kadenzen konstant. Die Strophen sind aus drei Reimklängen im umarmenden Reim mit dem Reimschema "abbacca" aufgebaut. Die ersten beiden a-Verse haben jeweils drei Hebungen, der dritte a-Vers hat jeweils sieben Hebungen, wodurch jede Strophe durch eine lange Zeile abgeschlossen wird. Der erste b-Vers besteht aus vier, der zweite b-Vers aus zwei Hebungen. Der erste c-Vers weist vier der zweite c-Vers jeweils 2 Hebungen auf. Die Kadenzen in Sommerlied 11 sind bis auf den ersten umarmenden Reim, der weiblich endet, männlich. Die Taktzahl des Lieds beträgt 25.[Brunner 2018:147]

Günther Müller bezeichnet die Form des Liedes als «echte Rondo-Form». Die Entstehung dieser Form leitet er von zwei da-capo-Teilen ab, weshalb er die Strophen für zweiteilig hält. [Müller 1924:429f] Böhmer allerdings argumentiert hier, dass diese Form auch aus einer ursprünglich dreizeiligen Strophe entstanden sein könnte, welche durch den Einschub eines Paarreims nach der ersten und zweiten Zeile erweitert wurde und dadurch als einteilig zu betrachten wäre. [Böhmer 1968:60]

Aufbau von Neidharts Sommerlied 11

Neidharts Sommerlied 11 weist nicht den üblichen zweiteiligen Aufbau der Sommerlieder auf, sondern ist in drei Teile gegliedert, was durch eine Änderung der Sprechrichtung nach der dritten und siebten Strophe, verdeutlicht wird. In Strophe I-III richtet das Sänger-Ich sein Wort nicht an ein fassbares Gegenüber und scheint eher zu sich selbst oder zu einem allgemeinen Publikum zu sprechen. In den Strophen IV-VII spricht es zu einem fiktiven Boten bis das Sänger-Ich dann in den Strophen VIII-XI ein unmittelbares Verhältnis zwischen sich und seinem Zuhörerkreis herstellt und diesen direkt anspricht. [Böhmer 1968:64] Auch thematisch lässt sich das Sommerlied 11 in diese drei Teile gliedern. So beinhalten Strophe I-III den Frühlingseingang, die Gedanken an die vriunde in der Heimat, für die die Vögel singen und die normalerweise Neidharts Publikum wären, sowie die Äußerung des Wunsches, der daheimgebliebenen Geliebten einen Boten zukommen zu lassen. Strophe IV-VII beinhaltet die Ansprache an den fiktiven Boten und einen ersten Lagebericht über das Befinden der pilgerîne unter den Walhen. Endelîchen markiert hier deutlich den Abschluss der Ansprache an den Boten. In Strophe VIII-XI findet sich dann die Ansprache an das Publikum und die drastische Schilderung der Lage, in welcher sich die pilgerîne befinden.

Bleck weist hier darauf hin, dass die einzelnen Strophen deutlich durch Wortklammern miteinander verknüpft sind, «sodass die Teile nahtlos ineinander übergehen». [Bleck 1998:30] Auffällige Wortbrücken bilden hier beispielsweise verwandelôt (Str. I, V. 5) und wandelunge (Str. II, V. 1). Besonders verknüpft sind jeweils Strophe II und III sowie VII und VIII. So sind Strophe II und III zum einen durch gerne (Str. II, V. 4) und gerne (Str. III, V. 1), zum andren durch hie (Str. II, V. 7) und dar (Str. III, V. 2.) verbunden. Strophe VII und VIII werden besonders durch die Wörter geleben (Str. VI, V. 7) und leben (Str. VIII, V. 4) miteinander verknüpft. Darüber hinaus sind auch die Strophen IV-VII, die die Ansprache an den Boten enthalten, durch das Hauptleitwort sagen (sagen Str. IV, V. 5/ sage Str. V, V. 1/ sage Str. VI V. 2/ sage Str. VI, V. 6) miteinander verbunden.

Interpretation Neidharts Sommerlied 11 in der Forschung

Neidharts Sommerlied 11 wird in der Forschung ein singulärer Rang zuerkannt, da sich dieses stark von der traditionellen Kreuzlyrik unterscheidet und die Kreuzzüge erstmals ungeschönt darstellt und kritisiert. Über Neidharts Intentionen, die er mit diesem Lied verfolgte, wurde in der Forschung ganz unterschiedlich geurteilt.

Wentzlaff-Eggebert schreibt Neidhart in seiner Monographie «Kreuzzugsdichtung des Mittelalters – Studien zu ihrer Geschichte und dichterischen Wirklichkeit» eine christliche Grundhaltung zu und attestierte ihm eine persönliche Bindung zu Gott. Zwei Werte seien im Weltbild des Dichters bestimmend. Zum einen Gott zum anderen eine christliche Auffassung von Rittertum. Lediglich die «Enttäuschung über die Haltung der verantwortlichen Führer der Kreuzfahrt verhindert jegliches Eingehen auf die eigentliche religiöse Thematik». [Wentzlaff-Eggebert 1960:309] Diese Interpretation Wentzlaff-Eggeberts fand allerdings in der Forschung nur wenig Anklang. Böhmer argumentiert, dass der Versuch einer «Ehrenrettung» Neidharts für die traditionelle Kreuzzugslyrik, «nur den allzu guten Willen des Interpreten» zeige, etwas in Neidharts Liedern zu finden, was gar nicht vorhanden sei. [Böhmer 1968:70] Auch Klein plädiert dafür Wentzlaff-Eggeberts Rettungsversuch Neidharts zu vernachlässigen. [Klein 2000:1]

Böhmer interpretiert Sommerlied 11 als Propaganda des kleinen Mannes, der sich weder für Politik noch religiöse Beweggründe interessiert, sondern der seine Haut für ein friedliches Leben in seiner pharre retten will. [Böhmer 1968:70] Neidhart schreibe nicht gegen etwas (also die Enttarnung der Kreuzzüge etc.), «sondern wie die Minnesänger vor ihm, für etwas, allerdings für das Gegenteil: für eine absolut diesseitige Lebensfreude». [Böhmer 1968:35]

Anders interpretiert Müller die Intentionen Neidharts in Sommerlied 11. Er sieht darin eine Art Anti-Kreuzzugsaufruf Neidharts. Neidhart würde in seinem Lied so das Argumentationsmuster des Kreuzzugsaufrufs umkehren, um daraus ein Heimkehraufruf vom Kreuzzug zu machen. [Müller 1977:145f]

Schweikle sieht in Sommerlied 11 die für Neidhart typischen Umkehrstrukturen realisiert. Statt eines, für das traditionelle Kreuzlied charakteristischen, Abschiedslieds schreibt Neidhart ein Heimkehrlied, wobei er religiöse, politische und ideelle Themen vernachlässige. Neidharts Sommerlied 11 komme so eher einem Gegenaufruf zur Kreuzfahrt gleich. [Schweikle 1990:88]

Weber deutet Neidharts Kreuzlied als Parodie der traditionellen Kreuzzugslyrik. Neidhart würde so die konstitutiven Elemente des Kreuzliedes parodieren und stattdessen für die absolute diesseitige Lebensfreude plädieren. [Weber 1995:17]

Ursula Schule interpretiert Sommerlied 11 ebenfalls als Gegensang, welcher den Kreuzzugsgedanken total desillusioniere. [Schulze 2018:109]

Klein hingegen argumentiert, dass Neidhart an die Gattung Kreuzlied anknüpft, «um die Erfahrung der Entfremdung zu artikulieren, und zwar in einer bis dahin nicht dagewesenen Radikalität». [Klein 2000:2] Neidhart nehme unter den Kreuzzugslyrikern eine Extremposition ein, die man als «Konterkarierung des konventionellen Kreuzlieds» bezeichnen kann. [Klein 2000:19]

Neidharts Sommerlied 11 - Analyse und Interpretation

In Sommerlied 11 knüpft Neidhart bewusst an die um 1220/ 1230 etablierte Gattung des minnesängerlichen Kreuzlieds an, nimmt dabei aber eine systematische Umbesetzung der für diese Gattung konstitutiven Elemente vor und schreibt am traditionellen Typus vorbei. Neidhart ist einer der ersten Dichter, der innerhalb des Gattungsrahmens Kreuzlied ausbricht, weshalb er sich für das, was er zu sagen hatte, Gehör verschaffen musste. Dies tut er in Form des Gegensangs, ohne einen eigentlich neuen Typus des Kreuzlieds zu schaffen. In seinem Lied, das im Folgenden interpretiert werden soll, zitiert er die verschiedenen konstitutiven Elemente des hohen Minnesangs, des Kreuz- bzw. Botenlieds, kehrt diese allerdings um und parodiert sie.


Strophe I (R1, C 26, M c1)
Ez gruonet wol diu heide,
mit grüenem loube stât der walt:
der winder kalt
twanc si sêre beide.
diu zît hât sich verwadelôt.
mîn sendiu nôt
mant mich an die guoten, von der ich unsanfte scheide.

Die erste Strophe von Neidharts Sommerlied 11 beginnt mit dem literarischen Topos des erwachenden Frühlings. Die Heide und der Wald erstrahlen in grünen Farben, nachdem der Winter die Natur so lange in «seiner Gewalt» hatte. Der triste Winter weicht der fröhlichen Jahreszeit Frühling (Vgl. Str. I, V. 1-4). Mit diesem Liedbeginn greift Neidhart Konventionen der frühen deutschen Liebeslyrik, aber auch den von ihm begründeten Typus der Sommerlieder auf. Durch den Natureingang löst Neidhart bestimmte Erwartungen aus. Der Frühling stellt so ein traditionelles Zeichen für ein sich ankündigendes Liebesglück und Freude dar. Bei Neidhart im Speziellen folgt auf den Natureingang in den Sommerliedern meist der Aufruf zum Tanz und die erwachende Liebeslust in einer dörperlichen Szenerie. In Sommerlied 11 werden diese Erwartungen allerdings nicht eingelöst, sondern in den folgenden Strophen mehrfach durchbrochen. Noch in derselben Strophe wird die quälende Sehnsucht und die Trennung von der Geliebten, von der der Sänger nur schwer scheiden konnte, schroff neben den erwachenden Frühling gestellt (Vgl. Str. I V. 6-7). Klein weist hier darauf hin, dass die Geliebte durch das substantivierte Adjektiv guot als Dame des Minnesangs ausgewiesen wird. Auch merkt sie an, dass nicht ersichtlich wird, in welcher räumlichen Situation sich das Sänger-Ich befindet. Die Präsensform scheide, könnte andeuten, dass er sich nach dem Abschied noch in der Nähe der Geliebten aufhält. Jedoch ist es auch denkbar, dass der Sprecher sich schon weit von der Geliebten entfernt aufhält. [Klein 2000:4] Allerdings wird schon hier angedeutet, dass das Liebesglück zwischen den Beiden nicht an ideologischen Voraussetzungen des hohen Minnesangs, sondern an der räumlichen Entfernung scheitert.


Strophe II (R2, C 27, M c2)
Gegen der wandelunge
wol singent elliu vogelîn
den vriunden mîn,
den ich gerne sunge,
des sî mir alle sagten danc.
ûf mînen sanc
ahtent hie die Walhen niht: sô wol dir, diutschiu zunge!

In Strophe II wird inhaltlich der Natureingang von Strophe I fortgesetzt. Die Vögel begrüßen den Wandel der Natur und den sich ankündigenden, lang ersehnten Sommer. In seiner Phantasie stellt sich das Sänger-Ich vor, wie die Vögel für seine vriunde daheim singen. Auch hier weicht Neidhart wieder vom topischen Gebrauch des Natureingangs ab. Der Gesang der Vögel gilt nicht nur der erwachenden Natur, sondern auch den vriunden mîn, also einem Personenkreis, dem das Sänger-Ich nahesteht. Durch diese Phantasie des Sängers wird in ihm der Wunsch ausgelöst, selbst für seine vriunde zu singen. Diese Wunschvorstellung wird durch den Konjunktiv II der Verben sunge (Vgl. Str. II, V. 4) und sagten (Vgl. Str. II, V5) klar als unrealisierbar dargestellt. Für seinen Gesang würde dem Sänger-Ich Dank entgegengebracht werden. Auch hier greift Neidhart eine Metapher des hohen Minnesangs auf: Den Topos vom Singen und Lohn. Allerdings verwendet Neidhart diesen ebenfalls anders als im traditionellen Minnesang. Das Sänger-Ich will so nicht für seine Geliebte, sondern für seine vriunde, von denen er Dank erwartet, singen. Klein weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mit den vriunden, das heimatliche Publikum des Sängers gemeint ist. [Klein 2000:5] Neidhart thematisiert so in dieser Strophe den für den Sänger existentiellen Zusammenhang von Gesang, Publikum und Lohn. In den letzten beiden Versen wird implizit angedeutet, warum die Wunschvorstellung des Sänger-Ichs unrealisierbar ist. Aus seiner Phantasie kehrt er in die Wirklichkeit zurück. Er befindet sich hie unter den Welschen, bei denen sein Gesang keinen Anklang findet (Vgl. Str. II, V. 6-7). Mit hie wird nur implizit erklärt, wo sich das Sänger-Ich befindet, erst im weiteren Verlauf des Lieds wird dieser Ort explizit beschrieben. Klein beschreibt die Situation des Sänger-Ichs durchaus passend, wenn sie diesen als fremden «Vogel, dem keiner zuhört» beschreibt. [Klein 2000:6] Aus dieser, für das Sänger-Ich schrecklichen, Erfahrung, des Nicht-Verstanden-Werdens und der Einsamkeit erfolgt dann der Ausruf: «sô wol dir, diutschiu zunge!» (Str. II, V. 7) Für diesen zeigt Klein verschiedene Interpretationsmöglichkeiten auf. So könnte der Ausruf als Segenswunsch, wehmütige Abschiedsformel, Ausruf der Resignation oder als ein ironisch bitterer Kommentar verstanden werden. [Klein 2000:6] Wießner deutet den Ausruf als Versuch Neidharts «seine Sache als deutscher Sänger zu der seines Volkes zu machen». [Wießner 1989:23] Unabhängig davon, wie man den Ausruf genau interpretieren mag, feststeht, dass durch diesen das Sehnsuchtsgefühl des Säger-Ichs nach seinen vriunden in der Heimat zum Ausdruck gebracht wird.


Strophe III (R3, C 28, c3)
Wie gerne ich nu sande
der lieben einen boten dar,
(nu nemt des war!),
der daz dorf erkande,
dâ ich die seneden inne lie:
jâ meine ich die,
von der ich den muot mit staeter liebe nie gewande.

In Strohe 3 äußert dann das Sänger-Ich den Wunsch, der Liebsten zu Hause im dorf einen Boten zu senden. Er kehrt damit wieder in die Wunschvorstellung zurück, hier allerdings nicht auf die vriunde sondern auf die Dame bezogen. Das Sänger-Ich versichert dieser Dame stets treu und in Liebe zugetan zu sein. Hier knüpft Neidhart gleich an zwei konventionell literarische Motive an. Zum einen an das Botenmotiv zum andern an das Motiv der Dame des Minnesangs. Auch hier durchkreuzt Neidhart allerdings wieder die traditionellen Motive. Der Bote ist anders als im traditionellen Botenlied ganz im Imaginären angesiedelt. [Klein 2000:6] Wieder handelt es sich um eine Wunschvorstellung des Sänger-Ichs. Dieses wünschte sich, es könnte die unerträgliche Distanz mithilfe eines Boten überwinden. Das dies allerdings nicht möglich ist, wird durch den Irrealis sande ausgedrückt (Vgl. Str. III, V. 1). Auch fungiert der Bote nicht, wie im traditionellen Botenlied, als Werbender im Auftrag des Sänger-Ichs, sondern als Mittel, um in der Vorstellung des Sänger-Ichs, die Distanz zwischen ihm und der Geliebten zu überwinden. Ähnliches lässt sich für die Liebste des Sänger-Ichs feststellen. Neidhart knüpft an die im hohen Minnesang typischen Elemente der Sehnsucht nach der Geliebten und der Treuversicherung an. Anders als im hohen Minnesang aber, kommt seine Liebste aus dem dorf, was autorreferentielle Funktion hat. Hiermit verleiht Neidhart seinem Lied das übliche von ihm geschaffene «Sommerliedgepräge» [Wießner 1989:24] und verbindet Elemente des hohen Minnesangs mit der neuen neidharttypischen Dörperthematik. Auffallend ist hier auch, dass die höfischen Elemente in Neidharts Kreuzlieder zwar von höfischem Wortschatz getragen, diese aber durch unhöfische Sprache kontrastiert werden. Böhmer weist bezüglich des Botenmotivs darauf hin, dass die beinahe wörtlichen Anklänge an Lieder des frühen höfischen Minnesangs in Sommerlied 11 auffallend sind. Dann aber sendete Neidhart den Boten zur senenden ins dorf. Neidhart greift auch hier die traditionellen Elemente der Kreuzlieder auf, um bestimmte Erwartungen zu erwecken, die er dann jedoch nicht erfüllt, sondern entleert oder gar umkehrt. [Böhmer 1968:66]


Strophe IV (R4, C 31, c4)
Bote, nu var bereite
ze lieben vriunden über sê!
mir tuot vil wê
sendiu arebeite.
dû solt in allen von uns sagen,
in kurzen tagen
saehens uns mit vröuden dort, wan durch des wâges breite.

In Strophe IV beginnt die Ansprache des Sänger-Ichs an den fiktiven Boten. Dieser beauftragt den Boten zu den lieben vriunden über das Meer zu reisen. Erneut durchbricht Neidhart die traditionelle Motivik, indem er den Boten nicht zur Geliebten, sondern zu den vriunden schickt, womit er die Position, die eigentlich von der Dame besetzt sein sollte, wie schon zuvor in der zweiten Strophe den vriunden zuschreibt. Im Folgenden wird der Grund benannt, warum das Sänger-Ich einen Boten in die Heimat senden möchte: Seine Sehnsucht bereitet ihm große Schmerzen (Vgl. Str. IV, V. 2-3). Mit sendiu arebeite greift Neidhart wieder den Wortschatz des höfischen Liebesdiskurses auf, was dort normalerweise die quälende Sehnsucht nach der Geliebten beschreibt. In Sommerlied 11 scheint es allerdings um eine allgemeinere Sehnsucht des Sänger-Ichs zu gehen: Die Sehnsucht nach seiner Heimat und seinen vriunden. In Vers fünf gibt sich das Sänger-Ich dann zum ersten Mal als Teil eines Kollektivs zu erkennen. Der Bote soll den Daheimgebliebenen ausrichten, dass sie alle sofort heimkehren würden, wenn sie die Entfernung und das zwischen ihnen liegende Meer nicht daran hindern würde. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur das Sänger-Ich unter der Situation in der Fremde leidet, sondern auch alle anderen, die mit ihm dort verweilen. Für das ganze Kollektiv stellt die Heimkehr das höchste Ziel dar.


Strophe V (R5, C 32, c6)
Sage der meisterinne
den willeclîchen dienest mîn!
si sol diu sîn,
diech von herzen minne
vür alle vrouwen hinne vür.
ê ichs verkür,
ê wold ich verkiesen, deich der nimmer teil gewinne.

In Strophe V schließt Neidhart wieder an das traditionelle Botenlied an. Der Bote soll der meisterinne vom Sänger-Ich ausrichten, dass er ihr treu ergeben sei, nur ihr diene und seine Liebe nur ihr gelte. Bevor er von ihr ablassen würde, würde er lieber darauf verzichten, die Liebe bei einer anderen Frau zu finden. Hiermit knüpft Neidhart an das Ideal der exklusiven Minne an, welches charakteristisch für den klassischen Minnesang ist. Böhmer merkt hier an, dass Neidhart dieser Geliebten zwar Minnestrophen widmet und sie beinahe zum Idealtypus des Minnesangs macht, würde sie nicht als meisterinne im dorf wohnen. Allerdings ist sie keine Frau, um deren Tugend sich das Sänger-Ich sorgt und diese deshalb unter Gottes Schutz stellen möchte. Auch wird nicht erwähnt, dass die Frau das Sänger-Ich mit ihrem Herzen begleitet oder diesen überhaupt vermisst. [Böhmer 1968:68] Offen bleibt, wie der in Vers zwei erwähnte Frauendienst umgesetzt wird. Wie alle Motive des höfischen Minnediskurses (Trennungsschmerz des Sängers, Bekenntnis zur stæter liebe, exklusives Treueverhältnis zur Dame), bleibt auch der Frauendienst nur zitathaft und wird in den folgenden Strophen nicht mehr erwähnt.


Strophe VI (R6, C 33, c6)
Vriunden unde mâgen
sage, daz ich mich wol gehabe!
vil lieber knabe,
ob si dich des vrâgen,
wiez umbe uns pilgerîne stê,
sô sage, wie wê
uns die Walhen haben getân! des muoz uns hie betrâgen.

In Strophe VI wird wieder zum Publikum und der Situation des Sänger-Ichs gewechselt. So soll der Bote den vriunden und magen zu Hause mitteilen, dass es dem Sänger-Ich gut gehe (Vgl. Str. VI, V. 1.2). Auch hier wird wieder an ein traditionelles Thema angeknüpft. Traditionell lässt man allerdings der Geliebten und nicht den vriunden mitteilen, dass es einem gut geht. Der Bote, der in der Heimat Auskunft darüber geben soll, in welcher schlechten Situation man sich befindet, wird durch vil lieber knabe als Vertrauten ausgewiesen.[Klein 2000:10] Hier wird erstmals die Gruppe benannt, zu der sich das Sänger-Ich zählt. Es sind pilgerîne, also Kreuzfahrer oder Pilger zum Heiligen Grab, denen Walhen (Franzosen und Italiener)[Klein 2000:10] großes Leid angetan haben. Diese Schlusszeile (Vgl Str. VI, V. 6-7) könnte auf die Konflikte anspielen, die sich während des fünften Kreuzzugs nach Damiette 1218/ 1219 zwischen den einzelnen Nationen des Kreuzfahrerheers ereignet haben. Auch wurde diese Liedstelle häufig als Beweis für Neidharts eigene Kreuzzugsteilnahme angesehen. Auf diese Forschungskontroverse soll hier allerdings nicht näher eingegangen werden. Fest steht, dass solche Allusionen mit kritischer Absicht nicht charakteristisch für die Kreuzzugslyrik sind. Ebenso möglich wäre es deshalb, dass Neidhart diese Anspielungen auf Geschehnisse als Authentizitätssignale nutzt, um die Kreuzzugssituation zu fungieren. [Klein 2000:11]


Strophe VII (R8 c8)
Wirp ez endelîchen!
mit triuwen lâ dir wesen gâch!
ich kum dar nâch
schiere sicherlîchen,
so ich aller baldist immer mac.
den lieben tac
lâze uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strîchen!

In Strophe VII, der letzten Botenstrophe, weist das Sänger-Ich den Boten an, seinen Auftrag eilig und zuverlässig auszuführen (Vgl. Str. VII, V. 1-2). Dies verdeutlicht das Leid und die Notlage, in der sich das Sänger-Ich befindet. Im weiteren Verlauf versichert dieser dem Boten, ihm so schnell er es nur vermag nachzukommen. Hier stellt sich der Wunsch, der schrecklichen Lage zu entfliehen, und das Verlangen, schnellstmöglich in die Heimat zurückzukehren, deutlich heraus. Das Sänger-Ich äußert dann den Wunsch, dass Gott ihn und seinen Leidensgenossen den Tag erleben lasse, an dem sie heimkehren könnten. Wentzlaff-Eggebert interpretiert «den lieben tac/ lâze uns got geleben, daz wir hin heim ze lande strîchen» (Vgl. Str. VI, V. 6-7) als Indiz für eine persönliche Bindung des Sänger-Ichs an Gott. Nur die Enttäuschung über die verantwortlichen Führer, verhindere jegliches Eingehen auf die religiöse Thematik. [Wentzlaff-Eggebert 1960:309] Böhmer merkt hier allerdings zurecht an, dass man unmöglich eine religiöse Bedeutung des Wortes got sehen kann. Die verkehrten traditionellen Elemente der Kreuzlieder lassen keineswegs auf eine traditionelle Geisteshaltung Neidharts schließen. Zwar verwendet Neidhart Elemente des minnesängerlichen Kreuzlieds, allerdings berührt er den religiösen Grundgedanken überhaupt nicht. Böhmer sieht gerade in diesem Weglassen ein sehr wirkungsvolles Ausdrucksmittel. In Sommerlied 11 ist so die religiöse Thematik nicht verdeckt, sondern schlicht nicht vorhanden. «Ausgerechnet die Erwartung, die am engsten mit dem Kreuzlied verbunden ist, und die Neidhart durch Aufnahme der andern, damit verknüpften Vorstellungen noch verstärkt, wird nicht erfüllt.» [Böhmer 1968:70] Der Konflikt zwischen den Polen Gottesminne und Frauenminne, der in den traditionellen Kreuzliedern ein zentrales Thema darstellt, entsteht bei Neidhart also erst gar nicht. In Neidharts Lied werden bis hier also zwei zentrale Themen behandelt. Zum einen die Erfahrung der Entfremdung und der damit verbundenen Notsituation, zum anderen die Sehnsucht nach der Geborgenheit in der weit entfernten Heimat. Klein weist darauf hin, dass sich die Schilderungen der schrecklichen Lebensumstände im Verlauf des Lieds steigern. Von der anfänglichen Leiderfahrung des Sängers, der von seiner guoten getrennt ist (Vgl. Str. I, V. 7), über das Nicht-Verstanden-Werden unter den Walhen (Vgl. Str. II, V. 7) bis hin zu dem Bericht über die kollektiven Erfahrungen und den Konflikten mit den Walhen. Diese Steigerung mündet dann in Strophe VIII in der wirkungsvollsten Aussage des Sänger-Ichs. [Klein 2000:11]


Strophe VIII (R7, C29, c9)
Ob sich der bote nu sûme,
sô wil ich selbe bote sîn
zen vriunden mîn:
wir leben alle kûme,
daz her ist mêr dan halbez mort.
hey, wære ich dort!
bî der wolgetânen læge ich gerne an mînem rûme.

In Strophe VIII will das Sänger-Ich selbst die Botenrolle übernehmen, falls der Bote seinen Auftrag versäumen würde. Hier wird noch einmal die Sehnsucht des Sänger-Ichs nach den vriunden verdeutlicht und die Dringlichkeit, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Dieser schlüpft nun in die Rolle des Boten, um ein unmittelbares Verhältnis zu seinem Zuhörerkreis zu schaffen. Er spricht diesen direkt an als er seine drastischste und wirkungsvollste Aussage trifft: «wir leben alle kûme, daz her ist mêr dan halbez mort.» (Vgl. Str. VII, V. 4-5) Hier ist der Höhepunkt der Spannung erreicht. Die Sehnsucht nach der Heimat wird in krassem Kontrast zu der aktuellen Lebenssituation gestellt. Die Kreuzzugssituation wird ungeschönt dargestellt: Über die Hälfte des Heeres ist bereits tot und die, die noch am Leben sind, sind mehr tot als lebendig. In dieser Schilderung findet sich keinerlei ideelle Vorstellung, sondern lediglich eine Beschreibung von Tod und Elend. Die Vergegenwärtigung der grausamen Kreuzzugsituation löst dann im Sänger-Ich den Wunsch aus, dort zu sein (Vgl. Str. VIII, V. 6). Im letzten Vers der Strophe wird dieses dort dann näher bestimmt. Gemeint ist der Platz, an den sich das Sänger-Ich sehnt: An die Seite der wolgetânen. An mînem rûme ist dabei eine intime Ortsangabe, die im hohen Minnesang der Dame zugeschrieben wird. Klein weist hier darauf hin, dass Ortsangabe, wie fast alles im Lied, überdeterminiert ist. Auf den minnesängerlichen Diskurs bezogen hebt sie die Distanz zwischen dem Sänger-Ich und seiner Geliebten auf und setzt Vertrautheit, Nähe und die Erfahrung erfüllter Liebe voraus. Auf den Diskurs des Kreuzlieds bezogen stiftet sie hingegen Distanz des Sänger-Ichs zur Kreuzzugssituation, wodurch deutlich gezeigt wird, dass der Sänger nicht zum Kreuzzug, sondern zu seiner vrouwe gehört.[Klein 2000:13] Bei Neidhart entsteht die Spannung also zwischen den Polen Kreuzfahrerdasein und Leben in der Heimat bei den vriunden und der vrouwe. Allerdings befindet sich Neidharts Sänger-Ich nicht in dem Konflikt, sich für einen der Pole zu entscheiden. Die Entscheidung für die Heimat und gegen den Kreuzzug ist bei Neidhart längst gefallen und wichtig ist nur, diese irgendwie zu verwirklichen. [Böhmer 1968:68]


Strophe IX (R9, C30, c10)
Solt ich mit ir nu alten,
ich het noch eteslîchen dôn
ûf minne lôn
her mit mir behalten,
des tûsent herze wurden geil.
gewinne ich heil
gegen der wolgetânen, mîn gewerft sol heiles walten.

In Strophe IX werden alle Themen des Liedes zusammengeführt, weshalb Klein diese als «eigentlichen Kulminationspunkt des Liedes» bezeichnet. [Klein 2000:13] Das Sänger-Ich wechselt wieder in seine Phantasie und entwirft eine Art «Zukunftswunschvorstellung». Sollte es ihm gewährt werden, mit der Geliebten alt zu werden, würde er noch viele Lieder singen, die tausende Herzen erfreuen würden. Wenn ihm dieses Liebesglück zu teil werden würde, würde er auch erfolgreich in seiner Profession als Sänger sein. In dem Wunsch, mit der Geliebten alt werden zu können, äußert sich der Wunsch und die Hoffnung, den Kreuzzug zu überleben. Diese schöne Wunschvorstellung steht im Gegensatz zum «kaum Leben» (Vgl. Str. VIII, V. 4) in der gegenwärtigen Situation. Das Überleben stellt auch die Voraussetzung für seinen Erfolg als Sänger dar. Damit, dass sein Gesang die Menschen glücklich machen würde, wird die Vorstellung vom Gesang als Dienst an der Gesellschaft aufgegriffen. In den letzten beiden Versen wird der im Minnesang des 12. Jahrhunderts häufig gebrauchte Topos vom Liebesleid, das den Sänger zum Singen nötigt, ins Gegenteil verkehrt. Nicht enttäuschte Liebe und Frustration wird zum Beweggrund und Gegenstand des Gesangs, sondern erlebte, glückliche Liebe. So wird in dieser Strophe auch der Zusammenhang von Kunst und Liebe diskutiert, dies allerdings ebenfalls in der Aufhebung der traditionellen Gattungsnorm. [Klein 2000:14]


Strophe X (R10, 7)
Si reien oder tanzen,
si tuon vil manegen wîten schrit,
ich allez mit.
ê wir heime geswanzen,
ich sage iz bî den triuwen mîn,
wir solden sîn
zŒsterrîche: vor dem snite sô setzet man die phlanzen.


Strophe X spielt sich immer noch in der Zukunftsphantasie des Sänger-Ichs ab. Dieses stellt sich vor, wie die Daheimgebliebenen fröhlich tanzen. Das Sänger-Ich entflieht der grausamen Situation des Kreuzzuges, indem er sich vorstellt, was man in seiner Heimat üblicherweise im Frühling macht: den Reigen tanzen. Das Sänge-Ich würde alles dafür tun, daheim mit ihnen zu tanzen, egal welcher Tanz getanzt werden würde. Diese ausgelassene Tanzsituation steht in starkem Kontrast zum beklemmenden gegenwärtigen Zustand. Bevor sich diese Zukunftsphantasie allerdings erfüllen kann, muss man zuallererst nach Hause, also nach Österreich zurückkehren. Diese Tatsache wird im letzten Vers mit einer Art Lebensweisheit ausgedrückt, welche aus dem bäuerlichen Milieu stammt: «vor dem snite sô setzet man die phlanzen.» Nachdem Neidhart schon mit der meisterinne im dorf und dem bäuerlichen Reihentanz seine Dörperthematik in das Lied eingebracht hat, greift er diese nun noch einmal deutlich auf.


Strophe XI (R11, c11)
Er dünket mich ein narre,
swer diesen ougest hie bestât.
ez waer mîn rât,
lieze er siech geharre
und vüer hin wider über sê:
daz tuot niht wê;
nindert wære baz ein man dan heime in sîner pharre.

Die letzte Strophe des Liedes steht in starkem Kontrast zur Vorigen. Der vergegenwärtigten Heimat der zehnten Strophe wird in Strophe XI ein ungeschöntes Fazit zum Unternehmen Kreuzzug entgegengestellt. [Klein 2000:17] Ein Narr sei der, der diesen August noch beim Kreuzzug verweile. Das Sänger-Ich schlüpft nun in die Rolle eines Ratgebers und rät in spruchartigem Charakter, die quälende Warterei und den Schmerz zu beenden, indem man endlich zurück in die Heimat führe. Die Heimkehr wird hier noch einmal zum höchsten Ziel erklärt. Alles andere erscheint dem Sänger-Ich unsinnig. Darauf folgt dann das Bekenntnis zur heimatlichen Pfarre, welche der beste Ort für jeden Mann darstelle. Die Pfarre stellt hierbei den denkbar größten Kontrast zu der grausamen Kreuzzugsrealität dar. Klein weist hier darauf hin, dass dadurch das politische und religiöse Unternehmen Kreuzzug doppelt relativiert wird. «Zum einen durch die Etablierung einer Gegenwelt, zum andern dadurch, dass schonungslos benannt wird, was von jener Heilserwartung übrigbleibt, die die Diskussion in der traditionellen Kreuzzugslyrik – und die zeitgenössische Propaganda – bestimmte.»[Klein 2000:17] Alle Versprechungen, die bezüglich der Kreuzzüge gemacht wurden, erweisen sich als nicht wahr. Der Ort der Kreuzzugssituation erweist sich als Ort des Schreckens, dem das Dorf als sicherer und geborgener Ort entgegengesetzt wird. Neidhart schildert die Erfahrung der Entfremdung auf dem Kreuzzug und setzt dieser die Geborgenheit der Heimat entgegen. Klein merkt hier richtig an, dass Neidhart damit «zweifelslos die Demontage des Unternehmens Kreuzzug» betreibt.[Klein 2000:18] Allerdings wendet sie ein, dass es sich nicht um Fundamentalkritik handelt, was der Gebrauch des klerikalen Worts pharre verdeutlicht. Für Klein wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass der Kirchgang zuhause dem Gottesdienst eines Kreuzzugs vorzuziehen sei. [Klein 2000:18] Böhmer merkt hinsichtlich der letzten Strophe an, dass die Parodie der traditionellen Elemente des Kreuzlied nicht zum Selbstzweck wird, sondern dass Neidhart hier eine entschiedene Stellungnahme vornimmt, was aus dem spruchartigen Charakter der Strophe ersichtlich wird. «Neidhart braucht die Parodie als Mittel, um sein eigentliches Anliegen mitzuteilen […]: die existenzielle Entscheidung für die vreude.»[Böhmer 1968:70]. Dieses Anliegen bestimme trotz aller Klage den Grundton des Kreuzlieds, sowie seine Haltung zum Kreuzzug. Letztendlich spiegelt die letzte Strophe in voller Klarheit auch das Heimweh und die Sehnsucht nach den vriunden und der Geliebten des Sänger-Ichs wider. [Wießner 1989:26]

Sommerlied 11 - Ein untypisches Sommerlied?

Schon zu Beginn des Sommerlieds 11 wird klar, dass es sich nicht um ein typisches Sommerlied Neidharts handelt. Zwar findet sich der für Neidhart spezifische Natureingang, allerdings werden die damit ausgelösten Erwartungen im Lied selbst nicht eingelöst. Die Frage, ob und weshalb man Neidharts Kreuzlied zu den Sommerliedern zählen soll, beschäftigt die Forschung immer wieder. Es lassen sich sowohl formale als auch inhaltliche Gründe finden, die die Standpunkte Für und Wider einer Einordnung als Sommerlied unterstrützen. Für das Sommerlied spricht formal der unstollige Strophenbau. Inhaltlich sind der Frühlingseingang, die Aufforderung zum Tanz und der Reigen im Freien Kennzeichen von Neidharts Sommerliedern. Klar gegen eine Einordnung als Sommerlied scheint der vorwiegend höfische Charakter, aber vor allem die Kreuzliedthematik an sich, zu sprechen. [Böhmer 1968:72] Böhmer betont, dass Sommerlied 11 durchaus höfische Motive und teilweise auch höfischer Wortschatz aufweist. Hierfür finden sich eher Parallelstellen zu den Winterliedern als zu den Sommerliedern. So ist beispielsweise der übliche Gebrauch für den Ausdruck vrouwe in den Sommerliedern senede. Guote erscheint dagegen eher in den Winterliedern Neidharts. Scheiden, im Sinne von Abschied nehmen, tritt sonst nur in Winterliedern auf. [Böhmer 1968:72] Ähnliches lässt sich auch bei den Motiven betrachten. Das Botenmotiv tritt so mit Ausnahme der Kreuzlieder nur in Winterliedern Neidharts auf. Auch das höfische Motiv der Trennung ist bei Neidhart besonders in den Sommerliedern selten. Allerdings hat das Höfische in Sommerlied 11 eine besondere Funktion. Es soll bestimmte Erwartungen auslösen und so Bezüge zur Tradition eines Liedtypus herstellen. Diese werden dann mit den zahlreichen unhöfischen Elementen des Liedes kontrastiert, um zu verdeutlichen, dass «man sich nicht mehr in den Bahnen der Tradition bewegt». [Böhmer 1968:73] In Form des Gegensangs, ohne einen neuen Typus Kreuzlied zu schaffen, bedient sich Neidhart so der Gegengestalt, um die Kontraste zu verschärfen. Böhmer stellt hier fest, dass das Höfische nötig war, um das Gegenbild für das Publikum anschaulicher zu machen. Besonders die bedrückende und schreckliche Thematik der Kreuzzüge scheint nicht in das Schema der Sommerlieder zu passen. Böhmer argumentiert hier, dass kein Widerspruch darin liegt, dass die Kreuzlieder Sommerlieder sind, da diese sogar nur als Sommerlieder möglich sind. «Der Kreuzzug stellt nicht die Welt der Sommerlieder in Frage, sondern erscheint umgekehrt durch sie fragwürdig.» [Böhmer 1968:75] Denn letztlich führt die Thematik der Kreuzlieder bei Neidhart, zu dem was in seinen Sommerliedern das Leitmotiv darstellt: die Freude.

Fazit

Nachdem nun Neidharts Kreuzzugslyrik am Beispiel von Sommerlied 11 näher betrachtet wurde, kann festgehalten werden, dass Neidhart mit diesem eine Extremposition unter den traditionellen Kreuzliedern einnimmt. Neidhart thematisiert in keiner Weise religiöse Verpflichtungen oder die Hoffnung auf Gottes Lohn, die sich im Kampf für das Heilige Land bietet. Die charakteristische religiöse Thematik eines Kreuzlieds ist in Sommerlied 11 schlicht nicht vorhanden. Für das Sänger-Ich bringt der Kreuzzug stattdessen nur Leid, Tod, Heillosigkeit, die Erfahrung der Entfremdung, die Trennung von der Geliebten und den vriunden, sowie Konflikte unter den Christen mit sich. Das Sänger-Ich interessiert sich nicht für Politik oder Strategien des Kreuzzugs, weshalb Böhmer richtig anmerkt, dass das Lied auch als «Propaganda für die Politik des kleinen Mannes» gelesen werden kann. [Böhmer 1968:70] Durch das fehlende religiöse Verpflichtungsgefühl des Sänger-Ichs, kommt es in Sommerlied 11 nicht zum Konflikt zwischen den beiden Polen Gottes- und Frauenminnedienst. Die Spannung entsteht bei Neidhart zwischen den Polen Kreuzfahrerdasein und dem Leben in der Heimat. Allerdings besteht der Konflikt nicht darin, sich für einen der Pole zu entscheiden, da die Entscheidung längst gefallen ist: Die Heimkehr wird zum höchsten Ziel erklärt, da bei Neidhart alles andere unsinnig erscheint. Nur in der Geborgenheit der Heimat, bei der Geliebten und den vriunden kann das Sänger-Ich sein Glück finden. Anstelle der Kreuzzugsideologie setzt Neidhart die trostlose, ungeschönt beschriebene Kreuzzugswirklichkeit. Für Neidhart ist der Kreuzzug quasi ein «reales Riuwental». [Klein 2000:20] Indem Neidhart die schreckliche Erfahrung des Kreuzzugs inszeniert und ihr die vertraute, geborgene Welt zu Hause entgegensetzt, betreibt Neidhart die Desillusionierung des Kreuzzugsgedankens.
Neidhart knüpft zwar an den traditionellen Typus Kreuzlied an, schreibt aber bewusst an diesem vorbei, indem er die traditionellen Motive umkehrt, entleert und parodiert. Mit dem Aufgreifen der traditionellen Motive des hohen Minnesangs, sowie der des Kreuz- und Botenlieds, weckt er bestimmte Erwartungen, die er dann nicht erfüllt. Neidhart war einer der Ersten, der hinsichtlich der Kreuzzugslyrik ausbrach, weshalb er sich für sein Anliegen Gehör verschaffen musste. Hierfür erschuf er keinen neuen Typus des Kreuzlieds, sondern bediente sich dabei der Gegengestalt. Gerade durch den Rückgriff auf die traditionellen Elemente und deren anschließende Umkehrung war es ihm möglich, die Kontraste zu verschärfen und so dem Publikum das von ihm gezeichnete Gegenbild verständlicher zu machen. [Böhmer 1968:74]

Literaturverzeichnis

Textausgabe

Die Lieder Neidharts, hg. v. Edmund Wießner, fortgef. v. Hanns Fischer, 5., verb. Auflage, rev. v. Paul Sappler, mit einem Melodieanhang v. Helmut Lomnitzer, Tübingen 1999 (ATB 44).

Forschungsliteratur

  • [*Bleck 1998] Bleck, Reinhard: Neidharts Kreuzzugs-, Bitt- und politische Lieder als Grundlage für seine Biographie, Göppingen 1998.
  • [*Böhmer 1968] Böhmer, Maria: Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Kreuzzugslyrik, Roma 1968.
  • [*Brunner 2018] Brunner, Horst: Die Töne der Neidhartlieder, in: Springeth, Margarete/ Spechtler, Franz Viktor (Hgg.): Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, Berlin/ Boston 2018.
  • [*Klein 2000] Klein, Dorothea: Der Sänger in der Fremde. Interpretation, literarhistorischer Stellenwert und Textfassungen von Neidharts Sommerlied 11, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 1-30.
  • [*Müller 1924] Müller, Günther: Zu Neidharts Reienstrophik, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 48 (1924), S. 492-494.
  • [*Müller 1977] Müller, Ulrich: Überlegungen zu einer neuen Neidhart-Ausgabe, in: Ebenbauer, Alfred (Hg.): Österreichische Literatur zur Zeit der Bamberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976, Wien 1977.
  • [*Schulze 2018] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Springeth, Margarete/ Spechtler, Franz Viktor (Hgg.): Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, Berlin/ Boston 2018.
  • [*Schweikle 1990] Schweikle, Günther: Neidhart, Stuttgart 1990.
  • [*Weber 1995] Weber, Barbara: Œuvre-Zusammensetzung bei den Minnesängern des 13. Jahrhunderts, Göppingen 1995.
  • [*Wentzlaff-Eggebert 1960] Wentzlaff-Eggebert, Friedrich Wilhelm: Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Studien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit, Berlin 1960.
  • [*Wießner 1989] Wießner, Edmund: Kommentar zu Neidharts Liedern, Stuttgart 1989.
  • [*Wolfram 1886] Wolfram, Georg: Kreuzpredigt und Kreuzlied, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 30 (1886).