Radikales Alteritätskonzept

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Das radikale Alteritätskonzept des Schweizer Mediävisten Paul Zumthor (1915-1995) bezieht sich auf den Umgang mit mittelalterlichen Quellen wie z.B. Literatur. Es stellt eine direkte Gegenposition zu der These dar, dass Sprache, historische Texte, kulturelle Bedingungen und gesellschaftliche Inhalte dieser Epoche auch heute noch Auswirkungen auf unser Leben haben, bzw. dass sich diese von uns vollkommen nachvollziehen lassen (hermeneutisches Alteritätskonzept, reflexives Alteritätskonzept).

Erläuterung

Zumthor sieht die o.g. Inhalte der mittelalterlichen Epoche für uns als komplett unverfügbar an. Jede Parallele der mittelalterlichen Gesellschaft zu unserer Zeit sei also so lange reiner Zufall, bis wir mit genauer Sicherheit eine exakte Analogie beweisen können [1]. Die Schwierigkeit eines solchen Nachweises besteht darin, dass wir weder mit einer Primärquelle arbeiten (einen Zeitzeugen befragen), noch selbst die damalige Welt in Augenschein nehmen können. Zum Beispiel können wir die Intentionen von Autoren mittelalterlicher Texte - aufgrund der damals gängigen Manuskript- und Kopiekultur und der Tatsache, dass die Verfasser schon lange verblichen sind - nur mutmaßen.

Beispiele

Datei:Ebstorfer-Weltkarte.jpg
Ebstorfer Weltkarte

Am folgenden Beispiel soll das Konzept genauer erläutert werden.

Die Ebstorfer Weltkarte [2], eine mittelalterliche Weltkarte mit Entstehung um vermutlich 1300, zeigt eine für unsere Begriffe ziemlich abstrakte geographische Ansicht der (damals bekannten) Welt und eine recht ungewöhnliche "Form" für eine Karte. Auf der Karte ist Osten oben angeordnet, dort befindet sich neben Assyrien (Assuria) und Indien (India) das Paradies, während sich Europa mit z.B. Britannien (Britania), Ligurien (Linguria) und der Lombardei (Langobardia) in der unteren linken Ecke (also dem Westen / Nordwesten) befindet. Das Zentrum der Welt bildet die heilige Stadt Jerusalem. Im Süden befinden sich u.a. Kalabrien (Calabria), Lybien (Libia) und Sizilien (Sicilia). Eine weitere Besonderheit der Karte ist, dass sie die Hände (Norden/Süden), Füße (Westen) und den Kopf (Osten) von Jesus Christus trägt. Zudem sind auch mythische Figuren (Amazonen), nicht greifbare Dinge (Arche Noah, Turm zu Babel), Menschen, Tiere und Gebäude auf ihr verzeichnet[3].

Zumthor zufolge sind die Intentionen der Kartenzeichner und die Bedeutung ihrer Karte für uns heute unverständlich und nicht zugängig. Selbstverständlich lassen sich Vermutungen über die Bedeutung der Karte und ihrer inhaltlichen Gestaltung anstellen, die mit hoher Sicherheit sogar korrekt sind und im Zusammenhang mit eventuell vorhandenen Sekundärquellen (wie Literatur etc.) ihrer ursprünglichen Bedeutung gerecht werden können, doch dies ist nicht der Inhalt von der These. Ihr zufolge wäre die Ebstorfer Weltkarte mit all ihren Inhalten und ihrer eigentlichen Aussage unserer Generation gegenüber erst verfügbar, wenn sich diese mit absoluter Genauigkeit (etwa durch den Fund einer Handschrift der Kartenzeichner, in der die Karte bis ins Detail erläutert wird oder durch ein Gespräch mit den Urhebern) nachweisen ließen.

Fazit

Das radikale Alteritätskonzept sucht also den direkten Kontakt zur Vergangenheit und will wissenschaftliche Erkenntnisse über zurückliegende Jahrhunderte nicht auf Vermutungen gründen. Paul Zumthors These lässt sich auf alle Überlieferungen der vergangenen Jahrhunderte in jeder Form, deren Aussage und Inhalte noch nicht vollständig begriffen und erklärt werden konnten, anwenden. Dabei versteht sie sich selbst nicht als non plus ultra im Umgang mit derartigen Quellen, zeigt aber auch durchaus ihre Daseinsberechtigung innerhalb der Geschichtswissenschaften, speziell in der Mediävistik, auf.

Quellen

  1. [1], Zumthor, Paul: Comments on H.R. Jauss's Article, in: New Literary History 10 (1979), S. 367-376.
  2. [2], Siehe Ebstorfer Weltkarte
  3. [3], Einzelheiten aus Wikipedia entnommen.