Mittelalterliche Dichtkunst
Die mittelalterliche Dichtkunst weicht in vielerlei Hinsicht von den heutigen Vorstellungen einer literarischen Tätigkeit ab. Während heute großer Wert auf Urherberschaft und Originalität von Werken gelegt wird, war dies im Mittelalter durchaus nicht der der Fall. Es war unwichtig woher ein Dichter den Stoff nahm. Von Belangen war dagegen, was er aus diesem Stoff machte, wie er ihn bearbeitete und variierte. Dichtkunst galt daher als erlernbares Handwerk und wurde zu den septem artes liberales gezählt.
So schrieb Thomasîn von Zerclaere um 1215:
"Doch ist der ein gout zimberman, der in sînem werke kan stein und holz legen wol, dâ erz von rehte legen soll."
Durch den Vergleich eines Dichters mit einem "zimberman" bringt Thomasîn deutlich der erlernbaren Charakter der Dichtkunst zum Ausdruck. Wie ein Zimmermann sein Handwerk erlernt, so kann auch ein Dichter das dichten lernen. Was genau verstand man aber unter gelungener Dichtung?
Dazu schrieb Geoffrey von Vinsauf um 1200:
"Es ist schwierig, einen bekannten Stoff zu bearbeiten. Aber je schwieriger, desto lobenswerter... Jedenfalls viel wertvoller, als einen neuen Stoff zu erfinden, der noch unbenutzt ist."
Somit wird die kunstfertige Variation bereits vorhandener Texte sogar über die phantasievolle Neuschöpfung gestellt. Mittelalterliche Werke können also als Wiedererzählungen (Retextualisierungen) bereits vorhandener Texte (häufig aus dem Romanischen) angesehen werden. Das Entscheidene war dabei die stilistische Ausschmückung und die inhaltliche bearbeitung der Vorlagen (bene tractare).