Das Elsterngleichnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Der Prolog des Parzival ist in der Vorlage „Conte du Graal“ von Chrétien nicht vorzufinden und somit ein freier Entwurf Wolframs von Eschenbach. Er gehört aufgrund seiner vielseitigen Deutungs- und Übersetzungsvarianten zu den in der Forschung meist diskutierten Textpassagen. M. Dallappiazza schreibt dies bezüglich sogar, dass „ein Konsens sicherlich nie mehr zu erwarten ist“ [Dallapiazza 2009: S. 32] . Diese zahlreichen Deutungsvarianten basieren auf den Schwierigkeiten, welche die Übersetzung mittelalterlicher Texte bereitet. Sie bleibt immer nur der Versuch Unterschiede zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen zu minimalisieren durch möglichst adäquate Textformen zu ersetzen. Für die Übersetzung maßgeblich ist allerdings auch welche Funktion der Prolog mittelalterlicher Texte übernahm. Von vielen Seiten wird die Meinung vertreten, dass er zwar eine Gesprächs- und Verständigungsbasis zwischen Autor und Publikum herstellen sollte, Wolfram allerdings bereits hier einen Leitgedanken formulierte, der innerhalb seines Werkes immer wieder auftaucht und aufgrund seines Stellenwertes nicht übergangen werden kann. Eine Gegenposition vertritt unter anderen E. Nellmann. Aus formgeschichtlichen Gründen dürfe man den Eingang des Prologs als sentenzhafte Eröffnung nur auf sich selbst und nicht auf den Romaninhalt beziehen. Auch nach Haug nehmen in der mittelalterlichen Tradition die ersten Verse des Prologs noch keinen konkreten Bezug auf die Thematik des Werkes. Vielmehr sei es Ziel des Epikers eine Positionsbestimmung im Verhältnis zum Vorgänger aufzubauen, weshalb der Autor einen Satz mit allgemeiner Verbindlichkeit wähle [Haug 1985: S. 159].

Übersetzung und Interpretation

Vers 1,1 - 1,2

Die ersten Verse gelten als richtungsweisend für die Übersetzung und Interpretation der nachfolgenden Verse und erwecken die Hoffnung „in dem bilderreichen Dunkel des Eingangs den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Werkes zu finden“ [Bumke 1970: S. 275]. Jedoch herrscht nach langjähriger Forschungsgeschichte und zahlreichen Diskussionen noch immer Uneinigkeit über das richtige Verständnis dieser Verse.

Ist zwîvel herzen nâchgebûr,
daz muoz der sêle werden sûr.

[1]

Da kein eindeutiges Äquivalent für zwîvel gefunden werden kann, treten bereits hier Differenzen in der Übersetzung auf. So kann das Wort die Bedeutung von Unsicherheit (im Sinne von Zweifel), Untreue bis hin zu Verzweiflung, welche auch die Verzweiflung an Gott (Unglaube) einschließt, annehmen:

Forschungspositionen zur Übersetzung von zwîvel

1.

Zwivel und damit auch unstaete (V. 10) und staete (V.14) sind Leitwörter dieses Eingangs und beziehen sich nur auf den Prolog und nicht auf das Folgewerk. Sie stellen durch Disposition menschlicher Verhaltensweisen eine Gesprächssituation her. [2]


2.

Zwîvel wird im Sinne von desperatio (Verzweiflung an dem Glauben an die Gande Gottes) übersetzt und als Todsünde, die ins Verderben führt. Nach dieser Interpretation bezieht sich Wolfram auf Hartmanns höfischen Legendenroman >Gregorius<, in dem die Vorstellung vertreten wird, alles werde vergeben außer dem zwîvel. Eine entsprechende Übersetzung lautet somit: Wenn Verzweiflung im Herzen wohnt, führt das die Seele ins Verderben. [3]

3.

Nach Karl Lachmann steht zwîvel für ein „moralisches Schwanken“, welches den Wankelmut Parzivals beschreibt. Er verweist hier besonders auf eine bestimmte Stelle des Romans, in der es Parzival unterlässt die Erlösungsfrage zu stellen. Auch lässt sich diese Deutung direkt auf Parzival Charakter beziehen. Er wird als Schwankender dargestellt, der seine Seele jedoch bewahrt, obwohl er immer wieder in Gefahr gerät sie zu verlieren. [4]

4.

Zwîvel wird mit Unglaube, Abfall von Gott, Abtrünnigkeit übersetzt und verweist wiederum auf eine bestimmte Textstelle der Parzival-Handlung. Gemeint ist Parzivals Verfluchung durch Cûndrie , aufgrund seiner Absage an Gott. [5]

5.

Unstaete (V .10) ist ein Äquivalent zu zwîvel und soll im Sinne von Unbeständigkeit verstanden werden. Zwîvel wird mit der dunklen Farbe und ebenfalls mit Hölle assoziiert. [6]




Einige Beispiele möglicher Übersetzungen der Verse 1,1-1,2:

„Tritt Schwanken dem Herzen nahe, so wird es die Seele bitter empfinden.“ (Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hrsg. E. Martin, Teil 2, Halle 1903)

„ Wenn das Herz mit Zweifel an Gottes Hilfe uns an sich selbst zusammen haust, so muß das der Seele sauer werden.“ (Wolfram von Eschenbach, Parzival, in Prosa übertragen von W. Stapel, München 1950)

„Lebt das Herz mit der Verzweiflung, so wird es höllisch für die Seele“ (D. Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt a.M. 1986, S. 429)

„Ist Unentschiedenheit dem Herzen nah, so wird es höllisch für die Seele.“ (Wolfram von Eschenbach, Parzival, 2 Bände, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart 1981)


Verse 1,3 - 1,6

In den folgenden Versen führt Parzival einen dritten Typus neben dem rein guten und dem rein schlechten Menschen ein. Da er das Gute mit der weißen Farbe und das schlechte mit Schwarz assoziiert, erscheint dieser Typus in der Farbe einer Elster. Er ist schwarz und weiß, gut und böse zugleich.

gesmaehet unde gezieret
ist, swâ sich parrieret
unverzaget mannes muot,
als agelstern varwe tuot.

Verse 1,7 - 1,14

Die Verse 1,7 bis 1,9 charakterisieren den elsternfarbenen Menschen genauer als einen Menschen, der obwohl er Anteil an der Hölle hat glücklich sein kann, da er in gleicher Weise Anteil am Himmel hat. Diesem elsterfarbenen Charakter stellt Wolfram nun noch den unstaete geselle (V.1,10), der die swarze varwe gar (V.1,11) inne und somit nur Anteil an der Hölle hat gegenüber, sowie den weißen Menschen, mit staeten gedanken (V. 1,14), der sinngemäß dem Himmel zugeordnet wird. Hier nimmt Wolfram eine Gegenposition zu Hartmann ein, der in seinem Legendenroman >Gregorius< nur das Entweder-Oder, den eindeutig guten und eindeutig schlechten Menschen in Betracht zog.

der mac dennoch wesen geil:
wand an im sint beidiu teil,
des himmels und der helle.
der unstaete geselle
hât die szwarzen varwe gar,
und wirt och nâch der vinster var:
sô habet sich an die blanken
der mit staeten gedanken.


Diese Verse können hindeuten auf Parzival, den Helden des Romans, der als Schwankender zwischen Gut und Böse dargestellt wird. „In ihm ist der Widerspruch zwischen dem, was er sein soll, und dem, was er jeweils schon sein kann, Figur geworden.“ [Brackert 2000: S.344] Da er seine Kindheit fernab von der Gesellschaft mit seiner Mutter im Wald verbrachte, die ihm die standesgemäße Erziehung und Bildung vorenthielt, zieht er als tumber in die Welt hinaus auf der Suche nach seiner Identität. Diese Suche stellt ihn immer wieder vor die Frage nach dem Richtigen und Falschen, dem Guten und dem Bösen. Aber gerade er gelangt auf seinem Weg zur höchsten würde. Interessant ist, dass innerhalb des Romans neben dem innerlich elsternhaften Parzival eine zweite Figur auftritt, sein Halbbruder Feirefiz, welcher als Sohn der dunkelhäutigen Belankane und des weißen Gahmuret schwarz und weiß zugleich ist und somit seine Elsternfarbigkeit eine äußerliche ist. Diese Entsprechungen zwischen dem Prolog und der folgenden Handlung sind sehr eindeutig. Demnach fällt es schwer sie nicht als von Wolfram geplante Vorbereitung auf die Haupthandlung zu verstehen.


























Quellennachweise

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Vgl. H. Brinkmann, Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung, WW 14 (1964): S.1-21
  3. Vgl. W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13.Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985 : S.159
  4. Vgl. K. Lachmann, Über den Eingang des Parzival, in: Kleine Schriften Bd. 1, hrsg. von K. Müllenhoff, Berlin 1876: S. 485f.
  5. Vgl. H.Hempel, der >zwivel< bei Wolfram und anderweit, in: Erbe der Vergangenheit (FS K. Helm), Tübingen 1951: 184ff:
  6. Vgl. H. Rupp, Wolframs >Parzival<-Prolog, in: Beitr. (Halle) 82 (1961): S. 369-387

<HarvardReferences />

Forschungslitertatur

[*Dallapiazza 2009] M. Dallapiazza, Wolfram von Eschenbach – Parzival, Berlin, 2009

[*Haug 1985] W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13.Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985

[*Bumke 1970] J. Bumke, Die Wolfram von Eschenbachforschung seit 1945: Bericht und Bibliographie, München 1970

[*Brackert 2000] H. Brackert, Zwîvel, in: Blütezeit, Tübingen 2000