Das Elsterngleichnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Der Prolog des Parzival ist in der Vorlage Conte du Graal von Chrétien de Troyes nicht vorzufinden und somit ein freier Entwurf Wolframs von Eschenbach. Er gehört aufgrund seiner vielseitigen Deutungs- und Übersetzungsvarianten zu den in der Forschung meist diskutierten Textpassagen. Michael Dallapiazza schreibt diesbezüglich sogar, dass „ein Konsens sicherlich nie mehr zu erwarten ist“ [Dallapiazza 2009: S. 32] . Die zahlreichen Deutungsvarianten basieren auf den Schwierigkeiten, welche die Übersetzung mittelalterlicher Texte bereitet. Sie bleibt immer nur der Versuch, Unterschiede zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen zu minimalisieren durch möglichst adäquate Textformen zu ersetzen. Für die Übersetzung maßgeblich ist allerdings auch, welche Funktion der Prolog mittelalterlicher Texte übernahm. Von vielen Seiten wird die Meinung vertreten, dass er zwar eine Gesprächs- und Verständigungsbasis zwischen Autor und Publikum herstellen sollte, Wolfram allerdings bereits hier einen Leitgedanken formulierte, der innerhalb seines Werkes immer wieder auftaucht und aufgrund seines Stellenwertes nicht übergangen werden kann. Eine Gegenposition vertritt unter anderen Eberhart Nellmann. Aus formgeschichtlichen Gründen dürfe man den Eingang des Prologs als sentenzhafte Eröffnung nur auf sich selbst und nicht auf den Romaninhalt beziehen. Auch nach Walter Haug nehmen in der mittelalterlichen Tradition die ersten Verse des Prologs noch keinen konkreten Bezug auf die Thematik des Werkes. Vielmehr sei es Ziel des Epikers eine Positionsbestimmung im Verhältnis zum Vorgänger aufzubauen, weshalb der Autor einen Satz mit allgemeiner Verbindlichkeit wähle [Haug 1985: S. 159].

Übersetzung und Interpretation

1,1 - 1,2

Die ersten Verse gelten als richtungsweisend für die Übersetzung und Interpretation der nachfolgenden Verse und erwecken die Hoffnung „in dem bilderreichen Dunkel des Eingangs den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Werkes zu finden“ [Bumke 1970: S. 275]. Jedoch herrscht nach langjähriger Forschungsgeschichte und zahlreichen Diskussionen noch immer Uneinigkeit über das richtige Verständnis dieser Verse.

Ist zwîvel herzen nâchgebûr, Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt,
daz muoz der sêle werden sûr. das muß der Seele sauer werden.

[1]

Da kein eindeutiges Äquivalent für zwîvel gefunden werden kann, treten bereits hier Differenzen in der Übersetzung auf. So kann das Wort die Bedeutung von Unsicherheit (im Sinne von Zweifel), Untreue bis hin zu Verzweiflung, welche auch die Verzweiflung an Gott (Unglaube) einschließt, annehmen:


Forschungspositionen zur Übersetzung von zwîvel

  • zwîvel und damit auch "unstaete" (1,10) und staete (1,14) sind Leitwörter dieses Eingangs und beziehen sich nur auf den Prolog und nicht auf das Folgewerk. Sie stellen durch Disposition menschlicher Verhaltensweisen eine Gesprächssituation her. [2]
  • zwîvel wird im Sinne von desperatio (Verzweiflung an dem Glauben an die Gande Gottes) übersetzt und als Todsünde, die ins Verderben führt. Nach dieser Interpretation bezieht sich Wolfram auf Hartmanns höfischen Legendenroman Gregorius, in dem die Vorstellung vertreten wird, alles werde vergeben außer dem zwîvel. Eine entsprechende Übersetzung lautet somit: Wenn Verzweiflung im Herzen wohnt, führt das die Seele ins Verderben. [3]
  • Nach Karl Lachmann steht zwîvel für ein „moralisches Schwanken“, welches den Wankelmut Parzivals beschreibt. Er verweist hier besonders auf eine bestimmte Stelle des Romans, in der es Parzival unterlässt, die Erlösungsfrage zu stellen. Dies lässt sich auch direkt auf Parzivals Charakter beziehen. Er wird als Schwankender dargestellt, der seine Seele jedoch bewahrt, obwohl er immer wieder in Gefahr gerät, sie zu verlieren. [4]
  • zwîvel wird mit Unglaube, Abfall von Gott, Abtrünnigkeit übersetzt und verweist wiederum auf eine bestimmte Textstelle der Parzival-Handlung. Gemeint ist Parzivals Verfluchung durch Cundrie aufgrund seiner Absage an Gott. [5]
  • Unstaete (1,10) ist ein Äquivalent zu zwîvel und soll im Sinne von Unbeständigkeit verstanden werden. Zwîvel wird mit der dunklen Farbe und ebenfalls mit Hölle assoziiert. [6]






Einige Beispiele möglicher Übersetzungen der Verse 1,1-1,2:

„Tritt Schwanken dem Herzen nahe, so wird es die Seele bitter empfinden.“ (Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hrsg. E. Martin, Teil 2, Halle 1903)

„ Wenn das Herz mit Zweifel an Gottes Hilfe uns an sich selbst zusammen haust, so muß das der Seele sauer werden.“ (Wolfram von Eschenbach, Parzival, in Prosa übertragen von W. Stapel, München 1950)

„Lebt das Herz mit der Verzweiflung, so wird es höllisch für die Seele“ (D. Kühn, Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt a.M. 1986, S. 429)

„Ist Unentschiedenheit dem Herzen nah, so wird es höllisch für die Seele.“ (Wolfram von Eschenbach, Parzival, 2 Bände, Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart 1981)


1,3 - 1,6

In den folgenden Versen führt Wolfram einen dritten Typus neben dem rein guten und dem rein schlechten Menschen ein. Da er das Gute mit der weißen Farbe und das Schlechte mit Schwarz assoziiert, erscheint dieser Typus in der Farbe einer Elster. Er ist schwarz und weiß, gut und böse zugleich.

gesmaehet unde gezieret Schande und Schmuck
ist, swâ sich parrieret sind beieinander, wo
unverzaget mannes muot, eines Mannes Mut konfus gemustert gehen will
als agelstern varwe tuot. wie Elsternfarben.


1,7 - 1,14

Die Verse 1,7 bis 1,9 charakterisieren den elsternfarbenen Menschen genauer als einen Menschen, der, obwohl er Anteil an der Hölle hat, glücklich sein kann, da er in gleicher Weise Anteil am Himmel hat. Diesem elsterfarbenen Charakter stellt Wolfram nun noch den "unstaete[n] geselle[n]" (1,10), der die "swarzen varwe gar" (1,11) inne und somit nur Anteil an der Hölle hat gegenüber, sowie den weißen Menschen, mit "staeten gedanken" (1,14), der sinngemäß dem Himmel zugeordnet wird. Hier nimmt Wolfram eine Gegenposition zu Hartmann ein, der in seinem Legendenroman Gregorius nur das Entweder-Oder, den eindeutig guten und eindeutig schlechten Menschen in Betracht zog.

der mac dennoch wesen geil: Trotzdem, der kann dennoch glücklich sein,
wand an im sint beidiu teil, denn an ihm ist etwas von beiden:
des himels und der helle. vom Himmel und von der Hölle.
der unstaete geselle wer sich mit der Treulosigkeit zusammentut,
hât die swarzen varwe gar, der hat die schwarze Farbe ganz
und wirt och nâch der vinster var: und muß auch nach der Finsternis geraten.
sô habet sich an die blanken Und so hält der,
der mit staeten gedanken. der fest steht und treu, es mit den Weißen.

Diese Verse können hindeuten auf Parzival, den Helden des Romans, der als Schwankender zwischen Gut und Böse dargestellt wird. „In ihm ist der Widerspruch zwischen dem, was er sein soll, und dem, was er jeweils schon sein kann, Figur geworden.“ [Brackert 2000: S. 344] Da er seine Kindheit fernab von der Gesellschaft mit seiner Mutter im Wald verbrachte, die ihm die standesgemäße Erziehung und Bildung vorenthielt, zieht er als tumber in die Welt hinaus auf der Suche nach seiner Identität. Diese Suche stellt ihn immer wieder vor die Frage nach dem Richtigen und Falschen, dem Guten und dem Bösen. Aber gerade er gelangt auf seinem Weg zur höchsten Würde. Neben dem innerlich elsternhaften Parzival tritt sein Halbbruder Feirefiz auf. Als Sohn der dunkelhäutigen Belacane und des weißen Gahmuret ist er schwarz und weiß zugleich und somit äußerlich elsternfarben. Diese Entsprechungen zwischen dem Prolog und der folgenden Handlung sind sehr eindeutig. Demnach fällt es schwer sie nicht als von Wolfram geplante Vorbereitung auf die Haupthandlung zu verstehen.


1,15 - 1,25

diz vliegende bîspel Dieses fliegende Beispiel
ist tumben liuten gar ze snel, ist zu schnell für dumme Menschen,
sine mugens niht erdenken: sie bringen es nicht fertig, ihm nachzudenken;
wand ez kan vor in wenken denn es kann vor ihnen Haken schlagen
reht alsam ein schnellec hase. grade so wie ein verstörter Hase.
zin anderhalp ame glase Zinn, hinten am Glas, macht trügerisch tanzende Lichter
geleichet, und des blinden troum. und ebenso des Blinden Traum:
die gebent antlützes roum, Die geben einem die Haut, die obendrauf schwimmt auf den Bildern.
doch mac mit staete niht gesîn Doch kann dieses stumpfe, leichte Scheinen
dirre trüebe lîhte schîn: nicht in Festigkeit dauern
er machet kurze fröude alwâr. es macht ein kurzes Glück, das ist wohl wahr.


Wolfram behauptet, sein Elsterngeleichnis, die Vorstellung eines schwarzen und weißen, eines guten und zugleich bösen Menschen, sei für "tumbe" nicht begreiflich. Das "vliegende bîspel"(1,15) sei so wenig zu fassen wie ein hakenschlagender Hase. Fraglich ist allerdings, was die Erscheinung eines solchen Charakters so ungewöhnlich und unbegreiflich macht. Nach Wolfram liegt der Sinn verborgen und ein Verständnis sei trügerisch, da es nur ein scheinbares Verständnis sei. Es wird deutlich, dass wohl die Schwierigkeit nicht allein in der Vorstellung eines solch elsternfarbenen Menschentypus liegt, sondern vielmehr darin, dass ein elsternfarbener Mensch im ständigen Zwiespalt ist. Er verhält sich nicht entweder gut oder böse, sondern in seinem Verhalten ist er ständig unsicher darüber was tatsächlich gut und böse ist. Der elsternfarbene Mensch trägt nach Walter Haug diesen Widerspruch nicht als gegensätzliche Anlagen in sich, sondern bewegt sich in diesem. [Haug 2003: S.153]

Forschungspositionen zur Übersetzung und Interpretation

in Arbeit!... Die Verse 1,19-1,21 gehören zu den in der Forschung viel diskutieren Versen des Prologs. Hier reiht Wolfram unmittelbar drei Bilder anneinander: ein "schnellec hase", "zin anderhalp ame glase" und "des blinden troum". Bei der Interpretation taucht die Frage auf, in welchem Zusammenhang diese Bilder zueinander stehen und welchen Zweck sie erfüllen. Das Wort "gelîchen" in Vers 1,21 ist hierbei maßgeblich für die Argumentation, da es unterschiedliche Standpunkte zur Konjektur, sowie der Übersetzung eben dieser gibt. Lachmann konjizierte "geleichet" (täuschen): diz vliegende bîspel (1,13) gleicht einem Spiegel und einem Blindentraum, welche allerdings nur Schein und von kurzer Dauer sind. Diese Konjektur wurde allerdings in der Forschung widerlegt, da die Befunde gegen den Diphthong sprechen. Schirok plädiert dafür gelîchen mit „gefällt“ zu übersetzen, da das Spiegelbild und der Blindentraum dann zur Begründung des hakenschlagenden Hasen herangezogen werden können. Seiner Meinung nach will Wolfram damit deutlich machen, dass tumbe nicht in der Lage sind das Beispiel des elsternfarbenen Helden zu begreifen, da sie bisher nur an täuschenden Bildern und somit Wirklichkeitsfernem Gefallen gefunden haben, jedoch wie der Spiegel oder der Traum bloß an der Oberfläche blieben und eben nicht in die Tiefe gingen.[7] Diese Tiefe, die Frage nach Gut und Böse, der Glaube an Gott, ist jedoch das was Wolfram im Parzival immer wieder aufgreift und zum Thema seines Romans macht. Schirok weist allerdings darauf hin, dass der Hase real vorgestellt ist, das Spiegelbild Realität nur abbildet und der Blindentraum reine Vorstellung bleibt. Auf dieser Erkenntnis gründet er seine Interpretation der Verse 1,13 bis 1,25: „ Der schnellec hase provoziert den Zugriff, erweist ihn aber als für die tumben unmöglich, während Spiegelbild und Blindentraum den tumben die volle Identität mit der Realität suggerieren, die nicht vorhanden ist. Was also das Hasenbild als für die tumben unmöglich erweist, täuschen Spiegelbild und Blindentraum gerade vor: Faßbarkeit .“ [Schirok 1986: S.120f.] Vertreter dieser Interpretation unterstützen die These, dass Wolfram hier darauf hinweise wie wichtig es sei an welcher Art Literatur man sich orientiere. Er behauptet, dass tumbe nicht erkennen könnten, dass Literatur mit dem Charakter des Spiegelbildes und Blindentraums bloßer flüchtiger Schein ist, und somit nicht in der Lage seien zu begreifen, dass sie ihnen den Zugriff auf die Wirklichkeit versperre. Sie stehen Wolframs Elsterngleichnis, in welchem er die existentielle Suche nach Gut und Böse dem Helden des Romans auferlegt, hilflos wie einem hakenschlagenden Hasen gegenüber.

Quellennachweise

  1. Alle folgenden Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Text und Übersetzung. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Vgl. H. Brinkmann, Der Prolog im Mittelalter als literarische Erscheinung, WW 14 (1964): S.1-21
  3. Vgl. W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13.Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985 : S.159
  4. Vgl. K. Lachmann, Über den Eingang des Parzival, in: Kleine Schriften Bd. 1, hrsg. von K. Müllenhoff, Berlin 1876: S. 485f.
  5. Vgl. H.Hempel, der >zwivel< bei Wolfram und anderweit, in: Erbe der Vergangenheit (FS K. Helm), Tübingen 1951: 184ff:
  6. Vgl. H. Rupp, Wolframs >Parzival<-Prolog, in: Beitr. (Halle) 82 (1961): S. 369-387
  7. B. Schirok, Zin anderhalp an dem glase gelîchet, in: ZdfA 115 (1986)

<HarvardReferences />

Forschungslitertatur

[*Dallapiazza 2009] M. Dallapiazza, Wolfram von Eschenbach – Parzival, Berlin, 2009

[*Haug 1985] W. Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13.Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985

[*Bumke 1970] J. Bumke, Die Wolfram von Eschenbachforschung seit 1945: Bericht und Bibliographie, München 1970

[*Brackert 2000] H. Brackert, Zwîvel, in: Blütezeit, Tübingen 2000

[*Haug 2003] W. Haug, Das literaturtheoretische Konzept Wolframs von Eschenbach: Eine neue Lektüre des >Parzival>-Prologs, in: Die Wahrheit der Fiktion, Tübingen 2003

[*Schirok 1986] Schirok, zin anderhalp an dem glase gelîchet, ZdfA 115 (1986)