1091: Eine Urkunde Rogers I. zur Neuordnung Siziliens: Unterschied zwischen den Versionen

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{{Kapitel LAT-DE TAB-2|John Aspinwall, Theresa Jäckh|''Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia'', ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96, hier: S. 94-95, übers. John Aspinwall und Theresa Jäckh.|5=== Autor/in & Werk:  ==
{{Kapitel LAT-DE TAB-2|John Aspinwall, Theresa Jäckh|''Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia'', ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96, hier: S. 94-95, übers. John Aspinwall und Theresa Jäckh.|5=== Autor/in & Werk:  ==


Die zitierte Quellenpassage stammt aus einer Urkunde, mit der die Abtei Sant’Agata di Catania durch Graf Roger I. (regn. 1059-1101) zusammen mit seiner Frau Adelasia (gest. 1118) und seinen Söhnen Gaufredus (gest. 1120) und Jordan (gest. 1092) gestiftet wurde. Ausgestellt an unbekanntem Ort, datiert das Dokument auf den 09. Dezember 1091 und stammt damit aus der Zeit unmittelbar nachdem Noto, der letzte Ort muslimischen Widerstandes auf Sizilien, an Roger I. gefallen war.
[§1] Die zitierte Quellenpassage stammt aus einer Urkunde, mit der die Abtei Sant’Agata di Catania durch Graf Roger I. (regn. 1059-1101) zusammen mit seiner Frau Adelasia (gest. 1118) und seinen Söhnen Gaufredus (gest. 1120) und Jordan (gest. 1092) gestiftet wurde. Ausgestellt an unbekanntem Ort, datiert das Dokument auf den 09. Dezember 1091 und stammt damit aus der Zeit unmittelbar nachdem Noto, der letzte Ort muslimischen Widerstandes auf Sizilien, an Roger I. gefallen war.


Die das Rechtsgeschäft veranlassenden Personen sind kurz in chronologischer Abfolge zu kontextualisieren: Graf Roger I. war seit 1060 damit beschäftigt gewesen, die normannische Eroberung der seit dem 9. Jahrhundert islamisch beherrschten Mittelmeerinsel voranzutreiben. Sein Bruder Herzog Robert Guiskard (regn. 1059-1085), der dem sizilischen Unternehmen nominell vorgestanden und sich selbst während der frühen Jahre der Eroberungen strategisch wichtiges Territorium zugeignet hatte, war mittlerweile verstorben. Sein Sohn und Nachfolger Roger Borsa (regn. 1085-1111) hielt sich überwiegend auf dem süditalienischen Festland auf, wo er mehrere Aufstände niederschlagen musste. Sein Onkel Roger I. unterstützte ihn dabei militärisch und erhielt im Jahr 1091 zum Dank das ''condominium'' (die geteilte Herrschaft) über jene der Guiskard’schen Linie zugehörigen Teile in Sizilien und Kalabrien. Für die entsprechenden Gebiete findet sich in den Urkunden Rogers I. oft ein Hinweis auf die Mitherrschaft des Neffen. In der hier zitierten Urkunde aber treten Roger I. und seine Familie unabhängig und selbstbewusst auf. Dabei nennt das Protokoll der Urkunde als Aussteller neben dem Grafen selbst auch seine dritte Ehefrau, Adelasia, sowie seine Söhne Gaufredus und Jordan, die Roger I., als er Adelasia im Jahr 1089 heiratete, zusammen mit neun Töchtern in die Ehe gebracht hatte. Unbekannt ist, wer die Mutter von Gaufredus oder Jordan war, weshalb man vermutet, dass sie beide aus illegitimen Verbindungen hervorgegangen waren.
[§2] Die das Rechtsgeschäft veranlassenden Personen sind kurz in chronologischer Abfolge zu kontextualisieren: Graf Roger I. war seit 1060 damit beschäftigt gewesen, die normannische Eroberung der seit dem 9. Jahrhundert islamisch beherrschten Mittelmeerinsel voranzutreiben. Sein Bruder Herzog Robert Guiskard (regn. 1059-1085), der dem sizilischen Unternehmen nominell vorgestanden und sich selbst während der frühen Jahre der Eroberungen strategisch wichtiges Territorium zugeignet hatte, war mittlerweile verstorben. Sein Sohn und Nachfolger Roger Borsa (regn. 1085-1111) hielt sich überwiegend auf dem süditalienischen Festland auf, wo er mehrere Aufstände niederschlagen musste. Sein Onkel Roger I. unterstützte ihn dabei militärisch und erhielt im Jahr 1091 zum Dank das ''condominium'' (die geteilte Herrschaft) über jene der Guiskard’schen Linie zugehörigen Teile in Sizilien und Kalabrien. Für die entsprechenden Gebiete findet sich in den Urkunden Rogers I. oft ein Hinweis auf die Mitherrschaft des Neffen. In der hier zitierten Urkunde aber treten Roger I. und seine Familie unabhängig und selbstbewusst auf. Dabei nennt das Protokoll der Urkunde als Aussteller neben dem Grafen selbst auch seine dritte Ehefrau, Adelasia, sowie seine Söhne Gaufredus und Jordan, die Roger I., als er Adelasia im Jahr 1089 heiratete, zusammen mit neun Töchtern in die Ehe gebracht hatte. Unbekannt ist, wer die Mutter von Gaufredus oder Jordan war, weshalb man vermutet, dass sie beide aus illegitimen Verbindungen hervorgegangen waren.


Jordan war als Nachfolger Rogers I. designiert. Er hatte den Vater seit 1076 bei seinen Eroberungen unterstützt und galt als äußerst geschickt und umtriebig. Für seine Verdienste erhielt er nach der abgeschlossenen Unterwerfung Siziliens die Herrschaft über Syrakus und Noto. Er tauchte noch in einer späteren Schenkung für Catania auf, starb aber im folgenden Jahr, was Roger I. größten Schmerz bereitet haben soll. In der wichtigsten erzählenden Quelle zu Roger I., die ein Mönch der Abtei Sant’Agata di Catania namens Gaufredus Malaterra verfasst hat, ist dieses Ereignis als Tiefpunkt im Leben des Grafen beschrieben. Selbst die mit Jordan und Roger verfeindeten Muslime hätten beim Anblick des trauernden Vaters geweint.<ref name="ftn1">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius'' (Rerum Italicarum Scriptores 5,1), ed. Ernesto Pontieri, Bologna: Zanichelli, 1925-1928, lib. 4, cap. 18, S. 97-98; für Bücher 1-2 siehe die neue Edition: Gaufredus Malaterra, ''De rebus gesti'' ''Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius'', lib. 1 & 2, ed. Marie-Agnès Lucas-Avenal (Fontes & Paginæ), Caen: Presses universitaires de Caen, 2016.</ref> Der Verlust des Sohnes dürfte mit der Sorge verbunden gewesen sein, keinen männlichen Nachfolger zu haben. Denn Malaterra, der den Grafen persönlich gekannt hatte, weiß auch zu berichten, dass Rogers Sohn Gaufredus an Lepra erkrankt war (''morbus elephantinus'').<ref name="ftn2">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', lib. 4, cap. 18, S. 97.</ref> Deshalb hatte er zwar die Herrschaft über Ragusa erhalten, war von der Erbschaft in Sizilien aber ausgeschlossen.  
[§3] Jordan war als Nachfolger Rogers I. designiert. Er hatte den Vater seit 1076 bei seinen Eroberungen unterstützt und galt als äußerst geschickt und umtriebig. Für seine Verdienste erhielt er nach der abgeschlossenen Unterwerfung Siziliens die Herrschaft über Syrakus und Noto. Er tauchte noch in einer späteren Schenkung für Catania auf, starb aber im folgenden Jahr, was Roger I. größten Schmerz bereitet haben soll. In der wichtigsten erzählenden Quelle zu Roger I., die ein Mönch der Abtei Sant’Agata di Catania namens Gaufredus Malaterra verfasst hat, ist dieses Ereignis als Tiefpunkt im Leben des Grafen beschrieben. Selbst die mit Jordan und Roger verfeindeten Muslime hätten beim Anblick des trauernden Vaters geweint.<ref name="ftn1">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius'' (Rerum Italicarum Scriptores 5,1), ed. Ernesto Pontieri, Bologna: Zanichelli, 1925-1928, lib. 4, cap. 18, S. 97-98; für Bücher 1-2 siehe die neue Edition: Gaufredus Malaterra, ''De rebus gesti'' ''Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius'', lib. 1 & 2, ed. Marie-Agnès Lucas-Avenal (Fontes & Paginæ), Caen: Presses universitaires de Caen, 2016.</ref> Der Verlust des Sohnes dürfte mit der Sorge verbunden gewesen sein, keinen männlichen Nachfolger zu haben. Denn Malaterra, der den Grafen persönlich gekannt hatte, weiß auch zu berichten, dass Rogers Sohn Gaufredus an Lepra erkrankt war (''morbus elephantinus'').<ref name="ftn2">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', lib. 4, cap. 18, S. 97.</ref> Deshalb hatte er zwar die Herrschaft über Ragusa erhalten, war von der Erbschaft in Sizilien aber ausgeschlossen.  


In besonderer Weise sollte Adelasia, die aus dem savoyischen Adelsgeschlecht der Aleramici stammte, Einfluss auf die Geschicke der Hinterlassenschaft Rogers I. nehmen. Nicht nur gebar sie in den folgenden Jahren zwei Söhne, Simon (1093-1105) und Roger (1095-1154), auch übernahm sie nach dem Tod ihres Mannes die Regentschaft über sein Territorium und übte diese äußerst geschickt und entschieden bis zur Volljährigkeit Rogers II. im Jahr 1112 aus. Unter ihrer Aufsicht wurde die Verwaltung der Grafschaft überwiegend von sizilischen und kalabresischen Griechen geführt, die sowohl auf Arabisch als auch Griechisch urkundeten. Außerdem siedelten Hof und Familie zunächst von Milet nach Messina und dann in den vorwiegend arabisch-islamisch geprägten Osten der Insel über. Hier etablierten sie in Palermo das Zentrum von Verwaltung, Repräsentation und Herrschaft. Nach 1112 heiratete Adelasia Balduin von Jerusalem (regn. 1100-1118) ‒ vielleicht in der Hoffnung, die Herrschaft ihres Sohnes auf das Heilige Land erweitern zu können. Obwohl die Ehe nach kurzer Zeit gelöst wurde und Adelasia nach Sizilien zurückkehrte, nahm ihr Sohn in einer späteren Urkunde Bezug auf diese Episode, indem er sich als „königlicher Sohn“ bezeichnete.<ref name="ftn3">Zur Regentschaft der Adelasia siehe von Falkenhausen, Adelasia.</ref> </div>
[§4] In besonderer Weise sollte Adelasia, die aus dem savoyischen Adelsgeschlecht der Aleramici stammte, Einfluss auf die Geschicke der Hinterlassenschaft Rogers I. nehmen. Nicht nur gebar sie in den folgenden Jahren zwei Söhne, Simon (1093-1105) und Roger (1095-1154), auch übernahm sie nach dem Tod ihres Mannes die Regentschaft über sein Territorium und übte diese äußerst geschickt und entschieden bis zur Volljährigkeit Rogers II. im Jahr 1112 aus. Unter ihrer Aufsicht wurde die Verwaltung der Grafschaft überwiegend von sizilischen und kalabresischen Griechen geführt, die sowohl auf Arabisch als auch Griechisch urkundeten. Außerdem siedelten Hof und Familie zunächst von Milet nach Messina und dann in den vorwiegend arabisch-islamisch geprägten Osten der Insel über. Hier etablierten sie in Palermo das Zentrum von Verwaltung, Repräsentation und Herrschaft. Nach 1112 heiratete Adelasia Balduin von Jerusalem (regn. 1100-1118) ‒ vielleicht in der Hoffnung, die Herrschaft ihres Sohnes auf das Heilige Land erweitern zu können. Obwohl die Ehe nach kurzer Zeit gelöst wurde und Adelasia nach Sizilien zurückkehrte, nahm ihr Sohn in einer späteren Urkunde Bezug auf diese Episode, indem er sich als „königlicher Sohn“ bezeichnete.<ref name="ftn3">Zur Regentschaft der Adelasia siehe von Falkenhausen, Adelasia.</ref> </div>


== Inhalt & Quellenkontext:  ==
== Inhalt & Quellenkontext:  ==
Neben den Ausstellern nennt das Urkundenprotokoll einen gewissen Ansgerius als Empfänger, der hiermit in das Amt des Abtes von St. Agatha eingesetzt werden sollte. Unser Quellenausschnitt, der aus dem konstitutiven Teil des Urkundenkontexts stammt, überträgt ihm und all seinen Nachfolgern die Herrschaft über die Stadt Catania mitsamt ihren Ländereien, Besitzungen und Erbschaften. Die Abtei konnte damit künftig Abgaben in den entsprechenden Gebieten und über deren Bewohner erheben. Die Urkunde weist außerdem darauf hin, dass die Grenzen dieses Cataneser Territoriums der alten Tradition und dem ehemaligen Einfluss der Stadt entsprechen sollten. Überdies wird der Abtei in bemerkenswerter Weise die muslimische Bevölkerung (''Sarraceni'') mitsamt deren Ländereien und Besitzungen zugesprochen und zwar innerhalb derjenigen Grenzen, die deren Gebiete umfasst hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen (d.h. als die islamische Herrschaft noch intakt war). Überdies erhalten Abt und Kloster das Kastell Jato (Provinz Palermo) mit all seinen Gebieten.  
[§5] Neben den Ausstellern nennt das Urkundenprotokoll einen gewissen Ansgerius als Empfänger, der hiermit in das Amt des Abtes von St. Agatha eingesetzt werden sollte. Unser Quellenausschnitt, der aus dem konstitutiven Teil des Urkundenkontexts stammt, überträgt ihm und all seinen Nachfolgern die Herrschaft über die Stadt Catania mitsamt ihren Ländereien, Besitzungen und Erbschaften. Die Abtei konnte damit künftig Abgaben in den entsprechenden Gebieten und über deren Bewohner erheben. Die Urkunde weist außerdem darauf hin, dass die Grenzen dieses Cataneser Territoriums der alten Tradition und dem ehemaligen Einfluss der Stadt entsprechen sollten. Überdies wird der Abtei in bemerkenswerter Weise die muslimische Bevölkerung (''Sarraceni'') mitsamt deren Ländereien und Besitzungen zugesprochen und zwar innerhalb derjenigen Grenzen, die deren Gebiete umfasst hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen (d.h. als die islamische Herrschaft noch intakt war). Überdies erhalten Abt und Kloster das Kastell Jato (Provinz Palermo) mit all seinen Gebieten.  


Im folgenden Abschnitt werden diese Zugeständnisse versatzstückweise wiederholt, wobei einige interessante Ergänzungen erfolgen. Diese betreffen erneut die muslimische Bevölkerung: Der Abt von Sant’Agata solle nämlich alle Muslime in sein Territorium aufnehmen, die zu Stadt und Umland von Catania gehört hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen. Die Urkunde geht sogar weiter und besagt, dass auch die Kinder der aus Catania und zudem aus Jato (Provinz Palermo) stammenden Muslime zum Besitz der Abtei gehören sollen. Aus Furcht, so fügt das Dokument als Hintergrundinformation hinzu, seien viele der Muslime nämlich vor den Normannen geflohen und hätten sich über die Insel verteilt – ein seltener Verweis auf großflächige Flucht- und Migrationsbewegungen, die der dreißigjährige Kampf um Sizilien mit sich gebracht hatte.
[§6] Im folgenden Abschnitt werden diese Zugeständnisse versatzstückweise wiederholt, wobei einige interessante Ergänzungen erfolgen. Diese betreffen erneut die muslimische Bevölkerung: Der Abt von Sant’Agata solle nämlich alle Muslime in sein Territorium aufnehmen, die zu Stadt und Umland von Catania gehört hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen. Die Urkunde geht sogar weiter und besagt, dass auch die Kinder der aus Catania und zudem aus Jato (Provinz Palermo) stammenden Muslime zum Besitz der Abtei gehören sollen. Aus Furcht, so fügt das Dokument als Hintergrundinformation hinzu, seien viele der Muslime nämlich vor den Normannen geflohen und hätten sich über die Insel verteilt – ein seltener Verweis auf großflächige Flucht- und Migrationsbewegungen, die der dreißigjährige Kampf um Sizilien mit sich gebracht hatte.


Im weiteren Verlauf nennt das Dokument einige andere Privilegien, bevor die Strafandrohung (''sanctio'') bei Zuwiderhandlung folgt. In der ''sanctio'' nimmt das Dokument ausführlich Bezug auf Papst Urban II. (sed. 1088-1099), den Roger I. über sein Vorhaben informiert haben soll. Der Papst habe ihn dafür gelobt (''sanctus papa peticioni laudavit''). Urban II. tritt folgend in der Poenformel sogar als Garant der Urkunde auf. Wer immer also gegen den Rechtsinhalt verstoßen solle, werde vom Papst exkommuniziert, verflucht und aus dem Orden ausgeschlossen. Der Grund für die direkte Jurisdiktion des Papstes über die Abtei ist wohl dadurch zu erklären, dass in Catania so kurz nach der Eroberung noch kein Bischof etabliert war. Wenig später setzte Roger I. Ansgerius in Personalunion von Abt und Bischof in das höchste Kirchenamt von Catania ein.  
[§7] Im weiteren Verlauf nennt das Dokument einige andere Privilegien, bevor die Strafandrohung (''sanctio'') bei Zuwiderhandlung folgt. In der ''sanctio'' nimmt das Dokument ausführlich Bezug auf Papst Urban II. (sed. 1088-1099), den Roger I. über sein Vorhaben informiert haben soll. Der Papst habe ihn dafür gelobt (''sanctus papa peticioni laudavit''). Urban II. tritt folgend in der Poenformel sogar als Garant der Urkunde auf. Wer immer also gegen den Rechtsinhalt verstoßen solle, werde vom Papst exkommuniziert, verflucht und aus dem Orden ausgeschlossen. Der Grund für die direkte Jurisdiktion des Papstes über die Abtei ist wohl dadurch zu erklären, dass in Catania so kurz nach der Eroberung noch kein Bischof etabliert war. Wenig später setzte Roger I. Ansgerius in Personalunion von Abt und Bischof in das höchste Kirchenamt von Catania ein.  


Das Eschatokoll, welches die Urkunde beschließt, beinhaltet eine ungewöhnliche Datierung, die nicht nur auf den Pontifikat Urbans II., sondern auch auf die Herrscherjahre Herzog Roger Borsas, König Philipps I. von Frankreich (regn. 1059/60-1108), Kaiser Heinrichs IV. (regn. 1084-1105) und Kaiser Alexios I. Komnenos (regn. 1081-1118) verweist. Diese soll Julia Becker zufolge bei der Abschrift des Originals im mittleren 12. Jahrhunderts hinzugefügt worden sein, um die sizilische Grafschaft schon Ende des 11. Jahrhunderts im Geflecht der großen Könige und Kaiser zu verorten. An der Echtheit des Dokumentes besteht aber anderweitig kein Zweifel.<ref name="ftn4">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr. 17, S. 95.</ref> Die Zeugen der Urkunde umfassen kirchliche Würdenträger aus dem kalabresischen und apulischen Raum, die Erzbischöfe von Tarent und Cosenza sowie einen Abt von Sant’Eufemia, ein Vorposten des lateinischen Mönchtums im überwiegend griechisch geprägten Kalabrien. Vertreten sind außerdem die engen, in anderen Dokumenten belegten Vertrauten des Grafen. Anders als in späteren Urkunden tauchen hier noch keine Verwalter auf. Die Unterschrift tätigen Roger I. und seine Frau. </div>
[§8] Das Eschatokoll, welches die Urkunde beschließt, beinhaltet eine ungewöhnliche Datierung, die nicht nur auf den Pontifikat Urbans II., sondern auch auf die Herrscherjahre Herzog Roger Borsas, König Philipps I. von Frankreich (regn. 1059/60-1108), Kaiser Heinrichs IV. (regn. 1084-1105) und Kaiser Alexios I. Komnenos (regn. 1081-1118) verweist. Diese soll Julia Becker zufolge bei der Abschrift des Originals im mittleren 12. Jahrhunderts hinzugefügt worden sein, um die sizilische Grafschaft schon Ende des 11. Jahrhunderts im Geflecht der großen Könige und Kaiser zu verorten. An der Echtheit des Dokumentes besteht aber anderweitig kein Zweifel.<ref name="ftn4">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr. 17, S. 95.</ref> Die Zeugen der Urkunde umfassen kirchliche Würdenträger aus dem kalabresischen und apulischen Raum, die Erzbischöfe von Tarent und Cosenza sowie einen Abt von Sant’Eufemia, ein Vorposten des lateinischen Mönchtums im überwiegend griechisch geprägten Kalabrien. Vertreten sind außerdem die engen, in anderen Dokumenten belegten Vertrauten des Grafen. Anders als in späteren Urkunden tauchen hier noch keine Verwalter auf. Die Unterschrift tätigen Roger I. und seine Frau. </div>


== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation:  ==
== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation:  ==
Nach Beendigung der Eroberung Siziliens begann Roger I. damit, sein Reich zu ordnen und Ländereien zu verteilen<ref name="ftn5">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 4, cap. 15, S. 93-94.</ref> – ein mehrjähriger Prozess, der nur durch die Auswertung urkundlicher Quellen fassbar wird. Bevor das Unternehmen nicht vollständig abgeschlossen war, hatte der Graf die Vergabe von Territorien vermieden und die Versuche einiger Aufrührer (darunter sein eigener Sohn Jordan),<ref name="ftn6">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 3, cap. 31, S. 76-77 (zur Revolte des Ingelmarus) und lib. 4, cap. 16, S. 94-95.</ref> sich Land anzueignen, unterdrückt und hart bestraft. Um die Aufspaltung in Kleinstgebiete und -herrschaften zu vermeiden, hatte Roger I. nur dort, wo sich Widerstand gegen die neue Herrschaft regte, vorzeitig Vertraute eingesetzt.<ref name="ftn7">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 3, cap. 20, S. 69.</ref>  
[§9] Nach Beendigung der Eroberung Siziliens begann Roger I. damit, sein Reich zu ordnen und Ländereien zu verteilen<ref name="ftn5">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 4, cap. 15, S. 93-94.</ref> – ein mehrjähriger Prozess, der nur durch die Auswertung urkundlicher Quellen fassbar wird. Bevor das Unternehmen nicht vollständig abgeschlossen war, hatte der Graf die Vergabe von Territorien vermieden und die Versuche einiger Aufrührer (darunter sein eigener Sohn Jordan),<ref name="ftn6">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 3, cap. 31, S. 76-77 (zur Revolte des Ingelmarus) und lib. 4, cap. 16, S. 94-95.</ref> sich Land anzueignen, unterdrückt und hart bestraft. Um die Aufspaltung in Kleinstgebiete und -herrschaften zu vermeiden, hatte Roger I. nur dort, wo sich Widerstand gegen die neue Herrschaft regte, vorzeitig Vertraute eingesetzt.<ref name="ftn7">Gaufredus Malaterra, ''De rebus gestis'', ed. Pontieri, lib. 3, cap. 20, S. 69.</ref>  


Die großen Schenkungen der 1090er Jahre zielten dann zum einen darauf ab, die treusten seiner Kämpfer für ihre Mühen zu belohnen. Jene Ritter wurden in Kastellen an strategisch wichtigen Punkten stationiert, wo sie Straßen oder rebellische Ortschaften kontrollieren konnten. Zum anderen galt es, Sizilien mit Bistums- und Klostergründungen zu durchdringen, um die territorialen und organisatorischen Strukturen des Landes nach den Jahren des Krieges wiederaufleben zu lassen und dabei zu christianisieren. Den neuen kirchlich-monastischen Einrichtungen wurden daher besonders großflächige Gebiete und Landflächen zugesprochen.<ref name="ftn8">Zu diesem Prozess grundlegend, Becker, Roger I., S. 77-93.</ref>  
[§10] Die großen Schenkungen der 1090er Jahre zielten dann zum einen darauf ab, die treusten seiner Kämpfer für ihre Mühen zu belohnen. Jene Ritter wurden in Kastellen an strategisch wichtigen Punkten stationiert, wo sie Straßen oder rebellische Ortschaften kontrollieren konnten. Zum anderen galt es, Sizilien mit Bistums- und Klostergründungen zu durchdringen, um die territorialen und organisatorischen Strukturen des Landes nach den Jahren des Krieges wiederaufleben zu lassen und dabei zu christianisieren. Den neuen kirchlich-monastischen Einrichtungen wurden daher besonders großflächige Gebiete und Landflächen zugesprochen.<ref name="ftn8">Zu diesem Prozess grundlegend, Becker, Roger I., S. 77-93.</ref>  


Die Gründungsurkunde von Sant’Agata di Catania ist eine der ersten dieser Schenkungen und dokumentiert die Umbruchszeit zwischen islamischer und normannischer Herrschaft besonders eindrücklich. Wie schon erwähnt, erfahren wir zunächst, dass der Benediktiner Ansgerius zum Abt von Sant’Agata und zum Herrn über Catania mit allen dazugehörigen Ländereien bestimmt wurde. Ansgerius stammte aus dem nördlichen Frankreich und kannte Roger I. wohl persönlich. In Süditalien war er schon seit längeren angesiedelt, denn bevor er nach Catania kommen sollte, war er Abt von Sant’Eufemia bei Lamezia. Wie Sant’Eufemia sollte auch die neue Benediktinerabtei von Catania, der Ansgerius nun vorstand, zu einem benediktinischen Bollwerk werden und zwar in einem Gebiet, das tiefgreifend islamisiert war. Damit unterschieden sich die Stadt Catania und ihr Umland beispielsweise von Messina und der Val Demone, wo der griechisch-christliche Einfluss unter islamischer Herrschaft stark geblieben war. Viele der Mönche, die Ansgerius nach Sant’Agata folgten, stammten ebenfalls ursprünglich aus der ''Francia'', sodass die Abtei bald zu einem Zentrum lateinischer Immigration wurde.<ref name="ftn9">Becker, Vita, S. 160-161.</ref>
[§11] Die Gründungsurkunde von Sant’Agata di Catania ist eine der ersten dieser Schenkungen und dokumentiert die Umbruchszeit zwischen islamischer und normannischer Herrschaft besonders eindrücklich. Wie schon erwähnt, erfahren wir zunächst, dass der Benediktiner Ansgerius zum Abt von Sant’Agata und zum Herrn über Catania mit allen dazugehörigen Ländereien bestimmt wurde. Ansgerius stammte aus dem nördlichen Frankreich und kannte Roger I. wohl persönlich. In Süditalien war er schon seit längeren angesiedelt, denn bevor er nach Catania kommen sollte, war er Abt von Sant’Eufemia bei Lamezia. Wie Sant’Eufemia sollte auch die neue Benediktinerabtei von Catania, der Ansgerius nun vorstand, zu einem benediktinischen Bollwerk werden und zwar in einem Gebiet, das tiefgreifend islamisiert war. Damit unterschieden sich die Stadt Catania und ihr Umland beispielsweise von Messina und der Val Demone, wo der griechisch-christliche Einfluss unter islamischer Herrschaft stark geblieben war. Viele der Mönche, die Ansgerius nach Sant’Agata folgten, stammten ebenfalls ursprünglich aus der ''Francia'', sodass die Abtei bald zu einem Zentrum lateinischer Immigration wurde.<ref name="ftn9">Becker, Vita, S. 160-161.</ref>


Untermauert wurde die neue Stellung Catanias, als die Stadt im Jahr nach unserer Gründungsurkunde mit Ansgerius an ihrer Spitze zum Bistum erhoben und mithilfe weiterer, noch umfassenderer Schenkungen ausgestattet wurde.<ref name="ftn10">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr.†23, S. 114-116.</ref> Die Kathedralkirche wurde dabei im Stil einer Wehrkirche (''ecclesia munita'') errichtet, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie geschützt wie ein Kastell in der muslimischen Stadt thronen sollte. Im März 1092 bestätigte Papst Urban II. die Ernennung des Ansgerius zum Bischof und die Erhebung Catanias zum Bistumssitz, wobei er in seinem Schreiben deutlich machte, dass es sich hier um eine Wiedererrichtung, nicht eine Neugründung handele, sei das Bistum doch schon im Register Gregors des Großen aufgetaucht.<ref name="ftn11">Enzensberger, Kirche S. 27-29; Italia Pontificia, Bd. 10: Calabria‒Insulae, ed. Dieter Girgensohn, Zürich: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1975, Nr. 19 S. 290.</ref> Dort lässt sich in der Tat ein Cataneser Bischofssitz nachweisen und auch die Heilige, die man als Patronin von Abtei und Kathedrale wählte, ist in besonderer Weise mir der vorislamischen Geschichte der Stadt verbunden: Der Kult der heiligen Agatha von Catania war in Palermo und Catania schon im frühen Mittelalter vertreten und soll laut Quellen des 12. Jahrhunderts sogar von den Muslimen Siziliens geachtet, wenn nicht sogar als Nothelferin verehrt worden sein.<ref name="ftn12">Oldfield, Medieval Cult. </ref>  
[§12] Untermauert wurde die neue Stellung Catanias, als die Stadt im Jahr nach unserer Gründungsurkunde mit Ansgerius an ihrer Spitze zum Bistum erhoben und mithilfe weiterer, noch umfassenderer Schenkungen ausgestattet wurde.<ref name="ftn10">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr.†23, S. 114-116.</ref> Die Kathedralkirche wurde dabei im Stil einer Wehrkirche (''ecclesia munita'') errichtet, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie geschützt wie ein Kastell in der muslimischen Stadt thronen sollte. Im März 1092 bestätigte Papst Urban II. die Ernennung des Ansgerius zum Bischof und die Erhebung Catanias zum Bistumssitz, wobei er in seinem Schreiben deutlich machte, dass es sich hier um eine Wiedererrichtung, nicht eine Neugründung handele, sei das Bistum doch schon im Register Gregors des Großen aufgetaucht.<ref name="ftn11">Enzensberger, Kirche S. 27-29; Italia Pontificia, Bd. 10: Calabria‒Insulae, ed. Dieter Girgensohn, Zürich: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1975, Nr. 19 S. 290.</ref> Dort lässt sich in der Tat ein Cataneser Bischofssitz nachweisen und auch die Heilige, die man als Patronin von Abtei und Kathedrale wählte, ist in besonderer Weise mir der vorislamischen Geschichte der Stadt verbunden: Der Kult der heiligen Agatha von Catania war in Palermo und Catania schon im frühen Mittelalter vertreten und soll laut Quellen des 12. Jahrhunderts sogar von den Muslimen Siziliens geachtet, wenn nicht sogar als Nothelferin verehrt worden sein.<ref name="ftn12">Oldfield, Medieval Cult. </ref>  


Die Urkunde von 1091 verdeutlicht noch in anderer Hinsicht den Wunsch, einen ''status quo'' aus der Zeit vor den Kriegswirren wiederherzustellen. Das Dokument lässt verlautbaren, dass Catania die Grenzen ihrer alten Größe zurückerhalten solle – eine Formulierung, die vielleicht auf die alten ''latifundia'' Siziliens anspielt, deren Grenzen unter islamischer Herrschaft wohl in Teilen weiter Bestand hatten.<ref name="ftn13">Metcalfe, Landscapes, S. 97-98.</ref> Außerdem sollten alle Muslime, die unter islamischer Herrschaft im Territorium Catanias gelebt, sich aber über das sizilische Land zerstreut hatten, mitsamt ihrer Nachkommenschaft wieder diesen Gebieten zugeordnet werden. Das Gründungsdokument für die Abtei Sant’Agata zeugt damit davon, dass Roger I. für die Stabilisierung der Grafschaft nicht nur neue Verwaltungsstrukturen schaffen musste, sondern auch Sorge dafür zu tragen hatte, dass verlassenes Land wieder besiedelt und bestellt würde.  
[§13] Die Urkunde von 1091 verdeutlicht noch in anderer Hinsicht den Wunsch, einen ''status quo'' aus der Zeit vor den Kriegswirren wiederherzustellen. Das Dokument lässt verlautbaren, dass Catania die Grenzen ihrer alten Größe zurückerhalten solle – eine Formulierung, die vielleicht auf die alten ''latifundia'' Siziliens anspielt, deren Grenzen unter islamischer Herrschaft wohl in Teilen weiter Bestand hatten.<ref name="ftn13">Metcalfe, Landscapes, S. 97-98.</ref> Außerdem sollten alle Muslime, die unter islamischer Herrschaft im Territorium Catanias gelebt, sich aber über das sizilische Land zerstreut hatten, mitsamt ihrer Nachkommenschaft wieder diesen Gebieten zugeordnet werden. Das Gründungsdokument für die Abtei Sant’Agata zeugt damit davon, dass Roger I. für die Stabilisierung der Grafschaft nicht nur neue Verwaltungsstrukturen schaffen musste, sondern auch Sorge dafür zu tragen hatte, dass verlassenes Land wieder besiedelt und bestellt würde.  


Nimmt man zu der hier besprochenen Urkunde die späteren Schenkungen für das Bistum Catania hinzu, so lässt sich der neue Rechtsstatus dieser ländlich-muslimischen Bevölkerung unter normannischer Herrschaft skizzieren: Bischof Ansgerius erhält von Graf Roger I. im Jahr 1095 ein auf Griechisch gefertigtes Privileg, dem eine auf Arabisch geschriebene Namensliste (''ğarīda'') folgt. Diese führt die Namen von 525 „Leuten von Catania“ auf; eine zweite nennt 390 muslimische Familien in Aci Castello, nahe Catania.<ref name="ftn14">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr. 50, S. 200-201; Johns, ''Administration, S''. 57-58; Metcalfe, ''Muslims, ''S.'' ''112-121. </ref> Durch die Listen erhält der Privilegienempfänger die muslimische Bevölkerung als Besitz, indem sie auf seinem Territorium festgeschrieben und ihm überdies zu religiös-begründeten Abgaben verpflichtet wird. Inwieweit es sich hier um eine „Feudalisierung“ Siziliens handelte, wurde von der Forschung ausführlich diskutiert.<ref name="ftn15">Peri, ''Villani''<nowiki>; Bresc, Feudalizzazione. </nowiki></ref> Übrigens scheinen die Namenslisten regelmäßig überprüft worden zu sein, wie Fälle zeigen, bei denen kirchliche Würdenträger an die gräfliche Verwaltung herantraten, wenn einer ihrer Hörigen (''servi'') abhandengekommen war<ref name="ftn16">Von Falkenhausen, Testo.</ref>  
[§14] Nimmt man zu der hier besprochenen Urkunde die späteren Schenkungen für das Bistum Catania hinzu, so lässt sich der neue Rechtsstatus dieser ländlich-muslimischen Bevölkerung unter normannischer Herrschaft skizzieren: Bischof Ansgerius erhält von Graf Roger I. im Jahr 1095 ein auf Griechisch gefertigtes Privileg, dem eine auf Arabisch geschriebene Namensliste (''ğarīda'') folgt. Diese führt die Namen von 525 „Leuten von Catania“ auf; eine zweite nennt 390 muslimische Familien in Aci Castello, nahe Catania.<ref name="ftn14">''Documenti latini e greci'', ed. Becker, Nr. 50, S. 200-201; Johns, ''Administration, S''. 57-58; Metcalfe, ''Muslims, ''S.'' ''112-121. </ref> Durch die Listen erhält der Privilegienempfänger die muslimische Bevölkerung als Besitz, indem sie auf seinem Territorium festgeschrieben und ihm überdies zu religiös-begründeten Abgaben verpflichtet wird. Inwieweit es sich hier um eine „Feudalisierung“ Siziliens handelte, wurde von der Forschung ausführlich diskutiert.<ref name="ftn15">Peri, ''Villani''<nowiki>; Bresc, Feudalizzazione. </nowiki></ref> Übrigens scheinen die Namenslisten regelmäßig überprüft worden zu sein, wie Fälle zeigen, bei denen kirchliche Würdenträger an die gräfliche Verwaltung herantraten, wenn einer ihrer Hörigen (''servi'') abhandengekommen war<ref name="ftn16">Von Falkenhausen, Testo.</ref>  


Ob es einen echten Zusammenhang zwischen den Hunderten von Hörigen in den Namenslisten von 1095 und den Geflohenen gibt, ob es sich also um die gleichen Familien oder Personenverbände handelte, die vor der Eroberung in Catania siedelten, lässt sich freilich nicht feststellen. Allerdings lassen die arabischen Listen von 1095 den Rückschluss zu, dass die Verwalter Rogers I. bei der Zusammenstellung auf Vorlagen der islamischen Administration zurückgegriffen haben. Dies würde belegen, dass zumindest einige arabisch-islamische Verwaltungsdokumente den Herrschaftswechsel überlebt hatten und die gräfliche Verwaltung (häufig arabischsprachige Griechen) unmittelbar nach der Eroberung an deren administrative Praxis anknüpfte.<ref name="ftn17">Grundlegend Johns, ''Administration'', bes. S. 39-62.</ref> Unter König Roger II. (regn. 1130-1154) wurde die für Lateineuropa einzigartig arabischsprachige Verwaltung zu repräsentativen Zwecken reformiert und nach fatimidischem Modell neu gestaltet.<ref name="ftn18">Johns, ''Administration,'' S. 115-143.</ref>
[§15] Ob es einen echten Zusammenhang zwischen den Hunderten von Hörigen in den Namenslisten von 1095 und den Geflohenen gibt, ob es sich also um die gleichen Familien oder Personenverbände handelte, die vor der Eroberung in Catania siedelten, lässt sich freilich nicht feststellen. Allerdings lassen die arabischen Listen von 1095 den Rückschluss zu, dass die Verwalter Rogers I. bei der Zusammenstellung auf Vorlagen der islamischen Administration zurückgegriffen haben. Dies würde belegen, dass zumindest einige arabisch-islamische Verwaltungsdokumente den Herrschaftswechsel überlebt hatten und die gräfliche Verwaltung (häufig arabischsprachige Griechen) unmittelbar nach der Eroberung an deren administrative Praxis anknüpfte.<ref name="ftn17">Grundlegend Johns, ''Administration'', bes. S. 39-62.</ref> Unter König Roger II. (regn. 1130-1154) wurde die für Lateineuropa einzigartig arabischsprachige Verwaltung zu repräsentativen Zwecken reformiert und nach fatimidischem Modell neu gestaltet.<ref name="ftn18">Johns, ''Administration,'' S. 115-143.</ref>


Für die Zeit des ausgehenden 11. Jahrhunderts liefern die Urkunden für Sant’Agata di Catania einzigartige Einblicke in den Prozess der territorialen, strukturellen und administrativ-rechtlichen Neuorganisation Siziliens, die das Ende einer fundamentalen Umwälzung politischer und religiöser Ordnungen einleitete. </div>|6=''Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia'', ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96.|7=Becker, Julia: ''Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs'' (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117), Tübingen: Niemeyer, 2008.
[§16] Für die Zeit des ausgehenden 11. Jahrhunderts liefern die Urkunden für Sant’Agata di Catania einzigartige Einblicke in den Prozess der territorialen, strukturellen und administrativ-rechtlichen Neuorganisation Siziliens, die das Ende einer fundamentalen Umwälzung politischer und religiöser Ordnungen einleitete. </div>|6=''Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia'', ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96.|7=Becker, Julia: ''Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs'' (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117), Tübingen: Niemeyer, 2008.


Becker, Julia: ''...ut omnes habitatores Messane tam latini quam greci et hebrei habeant predictam libertatem ...'' Vita cittadina e cittadinanza a Messina tra Normanni, Angioini e Aragonesi, in: Theresa Jäckh, Mona Kirsch (Hrsg.), Urban Dynamics and Trancsultural Communication in Medieval Sicily (Mittelmeerstudien 17), Paderborn: Brill, 2017, S. 159-172.
Becker, Julia: ''...ut omnes habitatores Messane tam latini quam greci et hebrei habeant predictam libertatem ...'' Vita cittadina e cittadinanza a Messina tra Normanni, Angioini e Aragonesi, in: Theresa Jäckh, Mona Kirsch (Hrsg.), Urban Dynamics and Trancsultural Communication in Medieval Sicily (Mittelmeerstudien 17), Paderborn: Brill, 2017, S. 159-172.

Aktuelle Version vom 16. Juli 2021, 13:40 Uhr

Verfasser/in: John Aspinwall, Theresa Jäckh

Quelle

Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia, ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96, hier: S. 94-95, übers. John Aspinwall und Theresa Jäckh.
Dedimus ego et uxor mea Adelixa et filii mei, Goiffredus videlicet et Iordanus, totam ipsam civitatem Cathanensium cum omnibus pertinentiis suis et cum omnibus posessi/onibus suis et cum omnibus hereditatibus suis, quas ipsa civitas tunc temporis habebat vel olim habuerat secundum suam nobilitaten (…) ut abbas et monachi huis monasterii ita haberent prefatam civitatem cum omnibus pertinentiis suis, sicuti Sarr/aceni eandem civitatem cum omnibus pertinentiis suis, tenebant, quando Normanni primum transierunt in Siciliam. Similiter dedimus prefato abbati et omnibus successoribus eius quod/dam castellum nomine Iatium cum omnibus pertinentiis suis. Ich selbst, meine Frau Adelasia und meine Söhne, Gaufredus sowie Jordanus, geben die ganze Stadt Catania mit allen ihren Gebieten, all ihren Besitzungen und all ihren Erbschaften, die jene Stadt seit alters her hat oder auch gemäß ihrer Nobilität hatte (…), und [wir legen fest], dass der Abt und die Mönche dieses Klosters also die genannte Stadt mit all ihren Gebieten haben sollen, so wie die Muslime dieser Stadt und all die Ländereien, die sie besaßen, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen. Gleichermaßen geben wir dem genannten Abt und allen seinen Nachfolgern jenes Kastell mit dem Namen Jato mit all seinen Gebieten.
Et etiam concessi ego Rogerius comes abbati, ut ipse omnes illos Sarracenos accipet et per totam Siciliam, qui Sarraceni tunc temporis / erant in civitate Cathanensium, quando Normanni primum transierunt in Siciliam. Insuper omnes illos Sarracenos dedi prefato monasterio, qui nati fuerunt in quolibet loco Sicilie de illis / Sarracenis, qui tunc temporis erant in civitate Cathanensium et in castello Iatio, quando Normanni primum transierunt in Siciliam, et pro timore Normannorum inde ad alias partes fugerunt. Und auch gewähre ich, Graf Roger, dem Abt [das Recht], dass er all die Sarazenen, und zwar aus ganz Sizilien, aufnehme, die zu der Zeit in der Stadt Catania lebten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen. Außerdem gebe ich dem genannten Kloster all die Sarazenen, die von jenen Sarazenen dieses Ortes in Sizilien geboren wurden, die in der Stadt Catania und im Kastell von Jato gelebt hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen, und die aus Furcht vor den Normannen in andere Teile [der Insel] geflohen waren.

Autor/in & Werk:

[§1] Die zitierte Quellenpassage stammt aus einer Urkunde, mit der die Abtei Sant’Agata di Catania durch Graf Roger I. (regn. 1059-1101) zusammen mit seiner Frau Adelasia (gest. 1118) und seinen Söhnen Gaufredus (gest. 1120) und Jordan (gest. 1092) gestiftet wurde. Ausgestellt an unbekanntem Ort, datiert das Dokument auf den 09. Dezember 1091 und stammt damit aus der Zeit unmittelbar nachdem Noto, der letzte Ort muslimischen Widerstandes auf Sizilien, an Roger I. gefallen war.

[§2] Die das Rechtsgeschäft veranlassenden Personen sind kurz in chronologischer Abfolge zu kontextualisieren: Graf Roger I. war seit 1060 damit beschäftigt gewesen, die normannische Eroberung der seit dem 9. Jahrhundert islamisch beherrschten Mittelmeerinsel voranzutreiben. Sein Bruder Herzog Robert Guiskard (regn. 1059-1085), der dem sizilischen Unternehmen nominell vorgestanden und sich selbst während der frühen Jahre der Eroberungen strategisch wichtiges Territorium zugeignet hatte, war mittlerweile verstorben. Sein Sohn und Nachfolger Roger Borsa (regn. 1085-1111) hielt sich überwiegend auf dem süditalienischen Festland auf, wo er mehrere Aufstände niederschlagen musste. Sein Onkel Roger I. unterstützte ihn dabei militärisch und erhielt im Jahr 1091 zum Dank das condominium (die geteilte Herrschaft) über jene der Guiskard’schen Linie zugehörigen Teile in Sizilien und Kalabrien. Für die entsprechenden Gebiete findet sich in den Urkunden Rogers I. oft ein Hinweis auf die Mitherrschaft des Neffen. In der hier zitierten Urkunde aber treten Roger I. und seine Familie unabhängig und selbstbewusst auf. Dabei nennt das Protokoll der Urkunde als Aussteller neben dem Grafen selbst auch seine dritte Ehefrau, Adelasia, sowie seine Söhne Gaufredus und Jordan, die Roger I., als er Adelasia im Jahr 1089 heiratete, zusammen mit neun Töchtern in die Ehe gebracht hatte. Unbekannt ist, wer die Mutter von Gaufredus oder Jordan war, weshalb man vermutet, dass sie beide aus illegitimen Verbindungen hervorgegangen waren.

[§3] Jordan war als Nachfolger Rogers I. designiert. Er hatte den Vater seit 1076 bei seinen Eroberungen unterstützt und galt als äußerst geschickt und umtriebig. Für seine Verdienste erhielt er nach der abgeschlossenen Unterwerfung Siziliens die Herrschaft über Syrakus und Noto. Er tauchte noch in einer späteren Schenkung für Catania auf, starb aber im folgenden Jahr, was Roger I. größten Schmerz bereitet haben soll. In der wichtigsten erzählenden Quelle zu Roger I., die ein Mönch der Abtei Sant’Agata di Catania namens Gaufredus Malaterra verfasst hat, ist dieses Ereignis als Tiefpunkt im Leben des Grafen beschrieben. Selbst die mit Jordan und Roger verfeindeten Muslime hätten beim Anblick des trauernden Vaters geweint.[1] Der Verlust des Sohnes dürfte mit der Sorge verbunden gewesen sein, keinen männlichen Nachfolger zu haben. Denn Malaterra, der den Grafen persönlich gekannt hatte, weiß auch zu berichten, dass Rogers Sohn Gaufredus an Lepra erkrankt war (morbus elephantinus).[2] Deshalb hatte er zwar die Herrschaft über Ragusa erhalten, war von der Erbschaft in Sizilien aber ausgeschlossen.

[§4] In besonderer Weise sollte Adelasia, die aus dem savoyischen Adelsgeschlecht der Aleramici stammte, Einfluss auf die Geschicke der Hinterlassenschaft Rogers I. nehmen. Nicht nur gebar sie in den folgenden Jahren zwei Söhne, Simon (1093-1105) und Roger (1095-1154), auch übernahm sie nach dem Tod ihres Mannes die Regentschaft über sein Territorium und übte diese äußerst geschickt und entschieden bis zur Volljährigkeit Rogers II. im Jahr 1112 aus. Unter ihrer Aufsicht wurde die Verwaltung der Grafschaft überwiegend von sizilischen und kalabresischen Griechen geführt, die sowohl auf Arabisch als auch Griechisch urkundeten. Außerdem siedelten Hof und Familie zunächst von Milet nach Messina und dann in den vorwiegend arabisch-islamisch geprägten Osten der Insel über. Hier etablierten sie in Palermo das Zentrum von Verwaltung, Repräsentation und Herrschaft. Nach 1112 heiratete Adelasia Balduin von Jerusalem (regn. 1100-1118) ‒ vielleicht in der Hoffnung, die Herrschaft ihres Sohnes auf das Heilige Land erweitern zu können. Obwohl die Ehe nach kurzer Zeit gelöst wurde und Adelasia nach Sizilien zurückkehrte, nahm ihr Sohn in einer späteren Urkunde Bezug auf diese Episode, indem er sich als „königlicher Sohn“ bezeichnete.[3]

Inhalt & Quellenkontext:

[§5] Neben den Ausstellern nennt das Urkundenprotokoll einen gewissen Ansgerius als Empfänger, der hiermit in das Amt des Abtes von St. Agatha eingesetzt werden sollte. Unser Quellenausschnitt, der aus dem konstitutiven Teil des Urkundenkontexts stammt, überträgt ihm und all seinen Nachfolgern die Herrschaft über die Stadt Catania mitsamt ihren Ländereien, Besitzungen und Erbschaften. Die Abtei konnte damit künftig Abgaben in den entsprechenden Gebieten und über deren Bewohner erheben. Die Urkunde weist außerdem darauf hin, dass die Grenzen dieses Cataneser Territoriums der alten Tradition und dem ehemaligen Einfluss der Stadt entsprechen sollten. Überdies wird der Abtei in bemerkenswerter Weise die muslimische Bevölkerung (Sarraceni) mitsamt deren Ländereien und Besitzungen zugesprochen und zwar innerhalb derjenigen Grenzen, die deren Gebiete umfasst hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen (d.h. als die islamische Herrschaft noch intakt war). Überdies erhalten Abt und Kloster das Kastell Jato (Provinz Palermo) mit all seinen Gebieten.

[§6] Im folgenden Abschnitt werden diese Zugeständnisse versatzstückweise wiederholt, wobei einige interessante Ergänzungen erfolgen. Diese betreffen erneut die muslimische Bevölkerung: Der Abt von Sant’Agata solle nämlich alle Muslime in sein Territorium aufnehmen, die zu Stadt und Umland von Catania gehört hatten, als die Normannen erstmals nach Sizilien kamen. Die Urkunde geht sogar weiter und besagt, dass auch die Kinder der aus Catania und zudem aus Jato (Provinz Palermo) stammenden Muslime zum Besitz der Abtei gehören sollen. Aus Furcht, so fügt das Dokument als Hintergrundinformation hinzu, seien viele der Muslime nämlich vor den Normannen geflohen und hätten sich über die Insel verteilt – ein seltener Verweis auf großflächige Flucht- und Migrationsbewegungen, die der dreißigjährige Kampf um Sizilien mit sich gebracht hatte.

[§7] Im weiteren Verlauf nennt das Dokument einige andere Privilegien, bevor die Strafandrohung (sanctio) bei Zuwiderhandlung folgt. In der sanctio nimmt das Dokument ausführlich Bezug auf Papst Urban II. (sed. 1088-1099), den Roger I. über sein Vorhaben informiert haben soll. Der Papst habe ihn dafür gelobt (sanctus papa peticioni laudavit). Urban II. tritt folgend in der Poenformel sogar als Garant der Urkunde auf. Wer immer also gegen den Rechtsinhalt verstoßen solle, werde vom Papst exkommuniziert, verflucht und aus dem Orden ausgeschlossen. Der Grund für die direkte Jurisdiktion des Papstes über die Abtei ist wohl dadurch zu erklären, dass in Catania so kurz nach der Eroberung noch kein Bischof etabliert war. Wenig später setzte Roger I. Ansgerius in Personalunion von Abt und Bischof in das höchste Kirchenamt von Catania ein.

[§8] Das Eschatokoll, welches die Urkunde beschließt, beinhaltet eine ungewöhnliche Datierung, die nicht nur auf den Pontifikat Urbans II., sondern auch auf die Herrscherjahre Herzog Roger Borsas, König Philipps I. von Frankreich (regn. 1059/60-1108), Kaiser Heinrichs IV. (regn. 1084-1105) und Kaiser Alexios I. Komnenos (regn. 1081-1118) verweist. Diese soll Julia Becker zufolge bei der Abschrift des Originals im mittleren 12. Jahrhunderts hinzugefügt worden sein, um die sizilische Grafschaft schon Ende des 11. Jahrhunderts im Geflecht der großen Könige und Kaiser zu verorten. An der Echtheit des Dokumentes besteht aber anderweitig kein Zweifel.[4] Die Zeugen der Urkunde umfassen kirchliche Würdenträger aus dem kalabresischen und apulischen Raum, die Erzbischöfe von Tarent und Cosenza sowie einen Abt von Sant’Eufemia, ein Vorposten des lateinischen Mönchtums im überwiegend griechisch geprägten Kalabrien. Vertreten sind außerdem die engen, in anderen Dokumenten belegten Vertrauten des Grafen. Anders als in späteren Urkunden tauchen hier noch keine Verwalter auf. Die Unterschrift tätigen Roger I. und seine Frau.

Kontextualisierung, Analyse & Interpretation:

[§9] Nach Beendigung der Eroberung Siziliens begann Roger I. damit, sein Reich zu ordnen und Ländereien zu verteilen[5] – ein mehrjähriger Prozess, der nur durch die Auswertung urkundlicher Quellen fassbar wird. Bevor das Unternehmen nicht vollständig abgeschlossen war, hatte der Graf die Vergabe von Territorien vermieden und die Versuche einiger Aufrührer (darunter sein eigener Sohn Jordan),[6] sich Land anzueignen, unterdrückt und hart bestraft. Um die Aufspaltung in Kleinstgebiete und -herrschaften zu vermeiden, hatte Roger I. nur dort, wo sich Widerstand gegen die neue Herrschaft regte, vorzeitig Vertraute eingesetzt.[7]

[§10] Die großen Schenkungen der 1090er Jahre zielten dann zum einen darauf ab, die treusten seiner Kämpfer für ihre Mühen zu belohnen. Jene Ritter wurden in Kastellen an strategisch wichtigen Punkten stationiert, wo sie Straßen oder rebellische Ortschaften kontrollieren konnten. Zum anderen galt es, Sizilien mit Bistums- und Klostergründungen zu durchdringen, um die territorialen und organisatorischen Strukturen des Landes nach den Jahren des Krieges wiederaufleben zu lassen und dabei zu christianisieren. Den neuen kirchlich-monastischen Einrichtungen wurden daher besonders großflächige Gebiete und Landflächen zugesprochen.[8]

[§11] Die Gründungsurkunde von Sant’Agata di Catania ist eine der ersten dieser Schenkungen und dokumentiert die Umbruchszeit zwischen islamischer und normannischer Herrschaft besonders eindrücklich. Wie schon erwähnt, erfahren wir zunächst, dass der Benediktiner Ansgerius zum Abt von Sant’Agata und zum Herrn über Catania mit allen dazugehörigen Ländereien bestimmt wurde. Ansgerius stammte aus dem nördlichen Frankreich und kannte Roger I. wohl persönlich. In Süditalien war er schon seit längeren angesiedelt, denn bevor er nach Catania kommen sollte, war er Abt von Sant’Eufemia bei Lamezia. Wie Sant’Eufemia sollte auch die neue Benediktinerabtei von Catania, der Ansgerius nun vorstand, zu einem benediktinischen Bollwerk werden und zwar in einem Gebiet, das tiefgreifend islamisiert war. Damit unterschieden sich die Stadt Catania und ihr Umland beispielsweise von Messina und der Val Demone, wo der griechisch-christliche Einfluss unter islamischer Herrschaft stark geblieben war. Viele der Mönche, die Ansgerius nach Sant’Agata folgten, stammten ebenfalls ursprünglich aus der Francia, sodass die Abtei bald zu einem Zentrum lateinischer Immigration wurde.[9]

[§12] Untermauert wurde die neue Stellung Catanias, als die Stadt im Jahr nach unserer Gründungsurkunde mit Ansgerius an ihrer Spitze zum Bistum erhoben und mithilfe weiterer, noch umfassenderer Schenkungen ausgestattet wurde.[10] Die Kathedralkirche wurde dabei im Stil einer Wehrkirche (ecclesia munita) errichtet, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass sie geschützt wie ein Kastell in der muslimischen Stadt thronen sollte. Im März 1092 bestätigte Papst Urban II. die Ernennung des Ansgerius zum Bischof und die Erhebung Catanias zum Bistumssitz, wobei er in seinem Schreiben deutlich machte, dass es sich hier um eine Wiedererrichtung, nicht eine Neugründung handele, sei das Bistum doch schon im Register Gregors des Großen aufgetaucht.[11] Dort lässt sich in der Tat ein Cataneser Bischofssitz nachweisen und auch die Heilige, die man als Patronin von Abtei und Kathedrale wählte, ist in besonderer Weise mir der vorislamischen Geschichte der Stadt verbunden: Der Kult der heiligen Agatha von Catania war in Palermo und Catania schon im frühen Mittelalter vertreten und soll laut Quellen des 12. Jahrhunderts sogar von den Muslimen Siziliens geachtet, wenn nicht sogar als Nothelferin verehrt worden sein.[12]

[§13] Die Urkunde von 1091 verdeutlicht noch in anderer Hinsicht den Wunsch, einen status quo aus der Zeit vor den Kriegswirren wiederherzustellen. Das Dokument lässt verlautbaren, dass Catania die Grenzen ihrer alten Größe zurückerhalten solle – eine Formulierung, die vielleicht auf die alten latifundia Siziliens anspielt, deren Grenzen unter islamischer Herrschaft wohl in Teilen weiter Bestand hatten.[13] Außerdem sollten alle Muslime, die unter islamischer Herrschaft im Territorium Catanias gelebt, sich aber über das sizilische Land zerstreut hatten, mitsamt ihrer Nachkommenschaft wieder diesen Gebieten zugeordnet werden. Das Gründungsdokument für die Abtei Sant’Agata zeugt damit davon, dass Roger I. für die Stabilisierung der Grafschaft nicht nur neue Verwaltungsstrukturen schaffen musste, sondern auch Sorge dafür zu tragen hatte, dass verlassenes Land wieder besiedelt und bestellt würde.

[§14] Nimmt man zu der hier besprochenen Urkunde die späteren Schenkungen für das Bistum Catania hinzu, so lässt sich der neue Rechtsstatus dieser ländlich-muslimischen Bevölkerung unter normannischer Herrschaft skizzieren: Bischof Ansgerius erhält von Graf Roger I. im Jahr 1095 ein auf Griechisch gefertigtes Privileg, dem eine auf Arabisch geschriebene Namensliste (ğarīda) folgt. Diese führt die Namen von 525 „Leuten von Catania“ auf; eine zweite nennt 390 muslimische Familien in Aci Castello, nahe Catania.[14] Durch die Listen erhält der Privilegienempfänger die muslimische Bevölkerung als Besitz, indem sie auf seinem Territorium festgeschrieben und ihm überdies zu religiös-begründeten Abgaben verpflichtet wird. Inwieweit es sich hier um eine „Feudalisierung“ Siziliens handelte, wurde von der Forschung ausführlich diskutiert.[15] Übrigens scheinen die Namenslisten regelmäßig überprüft worden zu sein, wie Fälle zeigen, bei denen kirchliche Würdenträger an die gräfliche Verwaltung herantraten, wenn einer ihrer Hörigen (servi) abhandengekommen war[16]

[§15] Ob es einen echten Zusammenhang zwischen den Hunderten von Hörigen in den Namenslisten von 1095 und den Geflohenen gibt, ob es sich also um die gleichen Familien oder Personenverbände handelte, die vor der Eroberung in Catania siedelten, lässt sich freilich nicht feststellen. Allerdings lassen die arabischen Listen von 1095 den Rückschluss zu, dass die Verwalter Rogers I. bei der Zusammenstellung auf Vorlagen der islamischen Administration zurückgegriffen haben. Dies würde belegen, dass zumindest einige arabisch-islamische Verwaltungsdokumente den Herrschaftswechsel überlebt hatten und die gräfliche Verwaltung (häufig arabischsprachige Griechen) unmittelbar nach der Eroberung an deren administrative Praxis anknüpfte.[17] Unter König Roger II. (regn. 1130-1154) wurde die für Lateineuropa einzigartig arabischsprachige Verwaltung zu repräsentativen Zwecken reformiert und nach fatimidischem Modell neu gestaltet.[18]

[§16] Für die Zeit des ausgehenden 11. Jahrhunderts liefern die Urkunden für Sant’Agata di Catania einzigartige Einblicke in den Prozess der territorialen, strukturellen und administrativ-rechtlichen Neuorganisation Siziliens, die das Ende einer fundamentalen Umwälzung politischer und religiöser Ordnungen einleitete.

Editionen & Übersetzungen

Documenti latini e greci del conte Ruggero I di Calabria e Sicilia, ed. Julia Becker (Ricerche dell’Istituto Storico Germanico di Roma 9), Rom: Viella, 2013, Nr. 17, S. 92-96.

Zitierte & weiterführende Literatur

Becker, Julia: Graf Roger I. von Sizilien. Wegbereiter des normannischen Königreichs (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 117), Tübingen: Niemeyer, 2008.

Becker, Julia: ...ut omnes habitatores Messane tam latini quam greci et hebrei habeant predictam libertatem ... Vita cittadina e cittadinanza a Messina tra Normanni, Angioini e Aragonesi, in: Theresa Jäckh, Mona Kirsch (Hrsg.), Urban Dynamics and Trancsultural Communication in Medieval Sicily (Mittelmeerstudien 17), Paderborn: Brill, 2017, S. 159-172.

Bresc, Henri: La feudalizzazione in Sicilia dal vassallaggio al potere baronale, in: Rosario Romeo (Hrsg,), Storia della Sicilia, Bd. 3, Neapel: Società editrice storia di Napoli e della Sicilia, 1980, S. 501-543.

Enzensberger, Horst: Die lateinische Kirche und die Bistumsgründungen in Sizilien zu Beginn der normannischen Herrschaft, in: Medioevo Italiano. Rassegna storica online 1,2 (2000), S. 1-40.

Enzensberger, Horst: Fondazione o „rifondazione“? Alcune osservazioni sulla politica ecclesiastica del conte Ruggero, in: Gaetano Zito (Hrsg.), Chiesa e società in Sicilia. L’età normanna. Atti del I Convegno internazionale organizzato dall’arcidiocesi di Catania, 25-27 novembre 1992, Turin: Società editrice internazionale, 1995, S. 21-49.

Johns, Jeremy: Arabic Administration in Norman Sicily. The Royal Dīwān (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge: Cambridge University Press, 2002.

Metcalfe, Alex: Arabic-Speakers in Norman Sicily, Diss. masch., Leeds, 1999.

Metcalfe, Alex: “De Saracenico in Latinum transferri”: Causes and Effects of Translation in the Fiscal Administration of Norman Sicily, in: Al-Masāq 13 (2001), S. 43-86.

Metcalfe, Alex: Dynamic Landscapes and Dominant Kin Groups: Hydronymy and Water-Management in Arab-Norman Western Sicily, in: Theresa Jäckh, Mona Kirsch (Hrsg.), Urban Dynamics and Transcultural Communication in Medieval Sicily (Mittelmeerstudien 17), Paderborn: Brill, 2017, S. 97-139.

Metcalfe, Alex: The Muslims of Medieval Italy (The New Edinburgh Islamic Surveys), Edinburgh: EUP, 2009.

Oldfield, Paul: The Medieval Cult of St Agatha of Catania and the Consolidation of Christian Sicily, in: The Journal of Ecclesiastical History 62 (2011), S. 439-456.

Peri, Illuminato: Villani e cavalieri nella Sicilia medievale (Biblioteca di cultura moderna 1040), Rom: Laterza, 1993.

Von Falkenhausen, Vera: Zur Regentschaft der Gräfin Adelasia del Vasto in Kalabrien und Sizilien (1101–1112), in: Ihor Ševčenko, Irmgard Hutter (Hrsg.), Aetos. Studies in Honour of Cyril Mango Presented to Him on April 14, 1998, Stuttgart: Teubner, 1998, S. 87-115.

Von Falkenhausen, Vera: Testo e contesto: un κατόνομα inedito della contessa Adelasia per il monastero di Bagnara (settembre 1111), in: Bruno Figliuolo, Rosalba Di Meglio, Ambrosio Ambrosio (Hrsg.), Ingenita curiositas ‒ Studi sull’Italia medievale per Giovanni Vitolo, Battipaglia: Laveglia & Carlone, 2018, S. 1273-1290.

White, Lynn T.: Latin Monasticism in Norman Sicily, Cambridge (Massachusetts): Mediaeval Academy of America, 1938.

Zitierempfehlung

John Aspinwall, Theresa Jäckh, "1091: Eine Urkunde Rogers I. zur Neuordnung Siziliens", in: Transmediterrane Geschichte. Kommentierte Quellenanthologie, ed. Daniel G. König, Theresa Jäckh, Eric Böhme, URL: https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/1091:_Eine_Urkunde_Rogers_I._zur_Neuordnung_Siziliens. Letzte Änderung: 16.07.2021, Zugriff: 29.03.2024.

Schlagworte

Catania, ḏimma (dhimma), ḏimmī (dhimmī), Eroberung, „Feudalisierung“, (Friedens)vertrag, ğizya (jizya), Heilige Agatha, Hörige, islamisches Recht, Mehrsprachigkeit, Muslime, Normannen, religiöser Status, Roger I., Sicherheit, Sizilien, Steuern, Tribut, Umsiedelung, Urkunden, Verhandlung


  1. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius (Rerum Italicarum Scriptores 5,1), ed. Ernesto Pontieri, Bologna: Zanichelli, 1925-1928, lib. 4, cap. 18, S. 97-98; für Bücher 1-2 siehe die neue Edition: Gaufredus Malaterra, De rebus gesti Rogerii Calabriae et Siciliae Comitis et Roberti Guiscardi Ducis fratris eius, lib. 1 & 2, ed. Marie-Agnès Lucas-Avenal (Fontes & Paginæ), Caen: Presses universitaires de Caen, 2016.
  2. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, lib. 4, cap. 18, S. 97.
  3. Zur Regentschaft der Adelasia siehe von Falkenhausen, Adelasia.
  4. Documenti latini e greci, ed. Becker, Nr. 17, S. 95.
  5. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, ed. Pontieri, lib. 4, cap. 15, S. 93-94.
  6. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, ed. Pontieri, lib. 3, cap. 31, S. 76-77 (zur Revolte des Ingelmarus) und lib. 4, cap. 16, S. 94-95.
  7. Gaufredus Malaterra, De rebus gestis, ed. Pontieri, lib. 3, cap. 20, S. 69.
  8. Zu diesem Prozess grundlegend, Becker, Roger I., S. 77-93.
  9. Becker, Vita, S. 160-161.
  10. Documenti latini e greci, ed. Becker, Nr.†23, S. 114-116.
  11. Enzensberger, Kirche S. 27-29; Italia Pontificia, Bd. 10: Calabria‒Insulae, ed. Dieter Girgensohn, Zürich: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung, 1975, Nr. 19 S. 290.
  12. Oldfield, Medieval Cult.
  13. Metcalfe, Landscapes, S. 97-98.
  14. Documenti latini e greci, ed. Becker, Nr. 50, S. 200-201; Johns, Administration, S. 57-58; Metcalfe, Muslims, S. 112-121.
  15. Peri, Villani; Bresc, Feudalizzazione.
  16. Von Falkenhausen, Testo.
  17. Grundlegend Johns, Administration, bes. S. 39-62.
  18. Johns, Administration, S. 115-143.