711-745: Ibn al-Qūṭiyya zur Kooperation seiner westgotischen Vorfahren mit den muslimischen Eroberern

Aus Transmed Wiki
Version vom 16. Juli 2021, 10:23 Uhr von Hiwis-koenig (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Verfasser/in: Daniel G. König

Quelle

Ibn al-Qūṭiyya, Tariḫ iftitaḥ al-Andalus [Geschichte der Eroberung von al-Andalus], ed. Ibrāhīm al-Ibyārī, Beirut / Kairo: Dār al-kitāb al-lubnānī, 1989, S. 29-32, übers. Daniel G. König.
أخبرنا أبو محمد بن عمر بن عبد العزيز، قال: حدّثنا غير واحد من علمائنا (...): أن آخر ملوك القوط بالأندلس غيطشة، تــُوفي عن ثلاث أولاد، أكبرهم المند، ثم وقلة، ثم أرطباش، وكانو صغاراً عند وفاة أبيهم، فضبطت عليهم أمهم مُلك أبيهم بطليطلة، وانحرف لذريق، وكان قائداً للملك أبيهم، بمن يطيف به من رجال الحرب، فاحتل قرطبة. فلما دخل طارقُ بن زياد الأندلس، أيام الوليد بن عبد الملك، كتب لذريق إلى أولاد الملك غيطشة، وقد تـَرعرعوا وركبوا الخيل، يدعوهم إلى مناصرته، وأن تكون أيديهم واحدةً على عدوهم، وحشدوا الثغر، وقدموا ونزلوا شقــُندة وما يطمئنون إلى لذريق بدخول قرطبة، فخرج إليهم، ثم نهض للقاء طارق، فلما تقابلت الفتئان أجمع المــُند وأخوه على الغدر بلذريق، وأرسلوا في ليلتهم تلك إلى طارق يــُعلمونه أن لذريق إنما كان كلباً من كلاب أبيهم وأتباعه، ويسألونه الأمان، على أن يخرجوا إليه بالصباح، وأن يــُمضِي لهم ضياع أبيهم بالأندلس، وكانت ثلاث آلاف ضيعة، سُمِّيت بعد ذلك: صفايا الملوك. Es informierte uns Abu Bakr Muḥammad bin ‘Umar bin ‘Abd al-‘Azīz. Er sagte: Mehr als einer unserer Gelehrten (…) [berichtete], dass der letzte König der Goten [al-Qūṭ] in al-Andalus Witiza (Ġayṭaša) gewesen sei, der bei seinem Tod drei Söhne hinterließ: Der älteste war Almund, gefolgt von Waqala, gefolgt von Arṭabāš. Sie alle waren noch klein, als ihr Vater starb. So führte ihre Mutter das Königreich ihres Vaters für sie. Dann allerdings rebellierte Roderich (Luḏrīq), einer der Militärführer im Reiche ihres Vaters, gemeinsam mit einigen Militärs seiner Entourage und besetzte Córdoba. Als dann Ṭāriq bin Ziyād in der Herrschaftsperiode [des Kalifen] al-Walīd bin ʿAbd al-Malik in al-Andalus eintraf, schrieb Roderich an die Söhne Witizas, die nun schon erwachsen geworden waren und schon zu Pferde ritten, und rief sie dazu auf, ihm zum Siege zu verhelfen und gemeinsam mit vereinten Kräften gegen ihren Feind zusammenzuhalten. Da sammelten sie sich, traten den Marsch an und ließen sich in Secunda (Šaqunda) nieder, denn sie hatten nicht genügend Vertrauen zu Roderich, als dass sie Córdoba betreten hätten. So kam er also zu ihnen, dann bereitete er sich auf das Aufeinandertreffen mit Ṭāriq vor. Als dann die beiden Gruppen aufeinandertrafen, da entschlossen sich Almund und seine zwei Brüder, Roderich zu verraten. Und sie schickten in dieser ihrer Nacht [einen Boten] zu Ṭāriq, ließen ihm mitteilen, dass Roderich ein Hund von den Hunden ihres Vaters und seiner Anhänger gewesen sei, und baten ihn um Schutz unter der Bedingung, dass sie am nächsten Morgen zu ihm überlaufen würden. Auch [ließen sie ihm mitteilen], dass ihnen die Domänen ihres Vaters in al-Andalus weggenommen worden seien. Es handelte sich dabei um dreitausend Landgüter, die später "die Krongüter" (ṣafāyā al-mulūk) genannt wurden.
فلما أصبحوا انحاشوا بمن معهم إلى طارق، فكانوا سبب الفتح، فلما وصلوا إليه قالو له: أنت أمير نفسك أم على رأسك أمير؟ قال لهم: بلى، على رأسي أمير، وعلى الأمير أمير، وأذن لهم باللحاق بموسى بن نصير بإفريقية ليؤكد سببهم به، وسألوه الكتاب إليه بشأنهم معه، وما أعطاهم من عهده، ففعل. وساروا نحو موسى، فتلقَّؤه في انحداره إلى الأندلس على قرب من بلاد البربر، بكتاب طارق بما كان من إجابتهم إلى الطاعة، وما شرط لهم، فوجّههم موسى بن نصير إلى الوليد بن عبد الملك، ووصلو إليه وأنفذ لهم عهد طارق بن زياد، وعقد لكل واحد منهم بذلك سجلاً، ومكانت سجلاتهم: ألا يقوموا إلى داخل عليهم ولا إلى خارج منهم. Als sie dann am nächsten Morgen erwachten, machten sie sich mit ihren Leuten auf zu Ṭāriq, was dann auch die Ursache der Eroberung war. Als sie ihn erreichten, sagten sie zu ihm: Bist Du Befehlshaber in eigenem Recht oder steht über Dir noch ein Befehlshaber? Da sagte er zu ihnen: Aber nein, mir ist ein Befehlshaber vorgesetzt und diesem wiederum ein Befehlshaber. Dann gestattete er ihnen, sich zu Mūsā bin Nuṣayr in Nordafrika (Ifrīqīya) zu begeben, damit er ihr Anliegen bestätige. Auch baten sie ihn um ein Schreiben an ihn [Mūsā] mit Bezug auf ihre Verhandlung mit ihm sowie auf den Vertrag, den er ihnen gegeben hatte, das er dann auch ausstellte. Sie machten sich dann zu Mūsā auf. Sie trafen auf ihn, als er gerade dabei war, sich von den Regionen der Berber auf den Weg nach al-Andalus zu machen, und gaben ihm das Schreiben von Ṭāriq, das ihre Unterwerfung und die ihnen auferlegten Bedingungen enthielt. Musa bin Nuṣayr schickte sie daraufhin zu [dem Kalifen] al-Walīd bin ʿAbd al-Malik. Sie gelangten zu ihm und er ratifizierte ihnen gegenüber den Vertrag von Ṭāriq bin Ziyād. Außerdem verpflichtete er sie in Form eines Schriftstückes zum neutralen Verhalten sowohl im Innern als auch nach außen.
وقدموا الأندلس، وكانوا بهذا الحال، إلى أن توفي المُند، وخَلَّف إبنة، وهي سارة القوطية، وابنين صغيرين، أحدهما، وعباس المتوفي بجليقية، فبسط أرطباش (يده) إلى ضيعهم فقبضها إلى صياعه، وذلك في أول ولاية هشام بن عبد الملك. فأنشأت مركباً بإشبيلية. وكان أبوها المُند قد آشر سُكنى إشبيلية، وصار له من الضيع ألف ضيعة بغرب الأندلس، وصار لأرطباش مثله في وسط الأندلس، ولزم سكنى قرطبة. ومن نسله: أبو سعيد القومس. (...) وصار لوقلة ألف ضيعة بشرق الأندلس، وكان آثر سكنى طليلة. و من نسله: حفص بن البر، قاضى العجم. ثم توجهت بأخويها بمركب إلى الشام حتى نزلت بعسقلان، ثم قصدت حتى وقفت بباب هشام بن عبد الملك، فأنهت خبرها والعهد المنعقد لأبيها على الوليد، وتظلمت من عمها أرطباش، فأوصلها إلى نفسه، ونظرت إلى عبد الرحمن بن معاوية صبياً بين يديه، وكان عبد الرحمن يحفظ ذلك لها بالأندلس، وكانت إذا أتت قُرطبة أذن لها في دخول القصر إلى العِيال. فكتب لها هشام إلى حنظلة بن صفوان الكلبي، عامل إفريقية، بإنهاد عهد الوليد بن عبد الملك، ويأمر بذلك عاملَه حُسام بن ضرار، وهو أبو الخطَّاب الكلبي، فتم لها ذلك. وأنكحها الخليفة هشام من عيسى بن مزاحم، فقدم معها الأندلس، وقبض ضياعها، وهو جد ابن القوطية (...). Sie machten sich dann [zurück] nach al-Andalus auf, wo sie diesen Vereinbarungen treu blieben, bis schließlich Almund starb und eine Tochter hinterließ, nämlich Sara die Gotin (Sāra al-Qūṭiyya) sowie zwei kleine Söhne – einer von ihnen Bischof (al-maṭrān) in Sevilla (Išbīliya) und ‘Abbās, der in Galicien verstarb (Ǧalliqiyya). Da fand Arṭabaš Gefallen an ihren Domänen und fügte sie den seinen hinzu, und das war zu Beginn der Herrschaft des [Kalifen] Hišām b. ʿAbd al-Malik. Sie [Sāra] schuf sich dann ein Gefolge in Sevilla, denn ihr Vater hatte es vorgezogen, sich in Sevilla niederzulassen. Ihm waren von den Domänen eintausend Landgüter im Westen von al-Andalus zugefallen. Dasselbe galt für Arṭabāš, der sich in Córdoba (Qurṭuba) niedergelassen hatte, im Zentrum von al-Andalus. Zu seiner Nachkommenschaft gehört Abū Saʿīd al-Qūmis. (…) Waqala erhielt tausend Landgüter im Osten von al-Andalus und hatte es vorgezogen, sich in Toledo (Ṭulayṭula) niederzulassen. Zu seiner Nachkommenschaft gehört Ḥafṣ bin Albar, der Qaḍī der Nichtaraber (al-ʿaǧam). Sie [Sāra] machte sich daraufhin mit ihren zwei Brüdern per Schiff nach Syrien auf, bis sie in Askalon (ʿAsqalān) eintraf. Dann machte sie sich auf den Weg, bis sie vor die Pforte des [Kalifen] Hišām bin ʿAbd al-Malik kam. Sie übermittelte ihm ihre Nachricht und informierte ihn von dem Vertrag, der zwischen ihrem Vater und [dem Kalifen] al-Walīd geschlossen worden war. Auch beschwerte sie sich über ihren Onkel Arṭabāš. Er ließ sie zu sich, so dass sie auch einen Blick auf den jungen ʿAbd al-Raḥmān bin Muʿāwiya warf. Dieser erinnerte sich später in al-Andalus daran und erlaubte ihr, wenn sie nach Córdoba kam, das Betreten des Palastes zu den Familienmitgliedern. Hišām setzte dann für sie ein Schriftstück an Ḥanẓala bin Ṣafwan al-Kalbī, den Gouverneur von Nordafrika, auf, in dem er ihn aufforderte, den Vertrag des al-Walīd bin ʿAbd al-Malik umzusetzen. Auf Ḥanẓalas Befehl führte dessen Statthalter Ḥusām bin Ḍarar, also Abū l-Ḫaṭṭāb al-Kalbī (regn. 125-127/743-745), das für sie aus. Der Kalif Hišām gab sie dann ʿĪsā bin Muzaḥim zur Frau, der sich mit ihr nach al-Andalus aufmachte und ihre Ländereien an sich nahm. Er ist der Vorfahre von Ibn al-Qūṭiyya (…).

Autor/in & Werk

[§1] Bei Ibn al-Qūṭiyya (gest. 367/977) handelt es sich um einen in Sevilla geborenen und ausgebildeten muslimischen Gelehrten und einen in al-Andalus bekannten Autor von Gedichten, Werken zu Grammatik und Lexikographie, der in Córdoba auch das Amt eines Richters (qāḍī) innehatte.[1] Im Allgemeinen wird er als Autor der hier zitierten "Geschichte der Eroberung von al-Andalus" (Tārīḫ iftitāḥ al-Andalus) angesehen. Am Ende des einzigen überlieferten Manuskriptes wird das Werk als "Geschichte des Ibn al-Qūṭiyya" (Tārīḫ Ibn al-Qūṭiyya) bezeichnet. Dieses wird zu Anfang mit der Phrase eingeleitet „Es berichtete uns Abū Bakr Muḥammad b. ʿUmar b. ʿAbd al-ʿAzīz [b. al-Qūṭiyya].“[2] Diese Form der Einleitung impliziert, dass es sich bei dem erhaltenen Manuskript um eine von einem oder mehreren Schülern getätigte Abschrift des Werkes bzw. eine Form von "Vorlesungsmitschriften" handelt, von denen allerdings nicht klar ist, ob sie vom Autor selbst authentifiziert wurden. Die Tatsache, dass einige Zitate des Werkes bei späteren arabisch-islamischen Geschichtsschreibern im einzigen erhaltenen Manuskript nicht wiederzufinden sind, impliziert, dass wohl mehrere Varianten des Werkes in Umlauf waren. Damit stellt sich die Frage, ob man hier in der üblichen Weise von einer Autorenschaft sprechen kann. Soweit eine Datierung des Manuskriptes möglich ist, handelt es sich um eine korrumpierte Kurzversion einer Mit- oder Abschrift, die im oder nach dem 11. Jahrhundert hergestellt wurde.[3] Das Geschichtswerk enthält keine eigenständige Behandlung der vorislamischen Geschichte des spanischen Westgotenreiches in einem gesonderten Kapitel, sondern beginnt direkt mit dem oben angeführten Zitat, also mit einer Erklärung der Begleitumstände der muslimischen Invasion. Hierauf folgen Ausführungen zu einem gewissen Arṭabāš, definiert als Sohn des vorletzten Westgotenkönigs Witiza, dann zu den Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der ersten arabisch-berberischen Einwanderungswelle und der Gruppe von Syrern, die sich in den 740ern anlässlich der Niederschlagung der großen Berberrevolte in Nordafrika und al-Andalus auf der Iberischen Halbinsel niederließen. Daraufhin erzählt das Werk eine Geschichte des umayyadischen al-Andalus bis zur Herrschaft des ʿAbd Allāh b. Muḥammad (regn. 275-300/888-912). Anders als das mehrbändige spätere Geschichtswerk des Ibn Ḥayyān (gest. 469/1076) handelt es sich bei dem Werk des Ibn al-Qūṭiyya allerdings nicht um eine möglichst vollständige politische Geschichte der Iberischen Halbinsel unter muslimischer Herrschaft, sondern um eine Sammlung von Anekdoten, die subtil moralisierend die Herrschaftsverhältnisse unter der Umayyadendynastie beleuchten.[4] Dieser eher freie Umgang mit historischer Überlieferung hat Ibn al-Qūṭiyya bei späteren Gelehrten wie Ibn al-Faraḍī (gest. 403/1018) den Ruf eingebracht, bei der Überlieferung historischer Traditionen nicht ganz sauber zu arbeiten.[5] Diese Hintergrundinformationen sind von Relevanz, sobald man sich der im hier zitierten Exzerpt dargestellten westgotischen Genealogie des Ibn al-Qūṭiyya zuwendet.

Inhalt & Quellenkontext

[§2] Dem Geschichtswerk zufolge ist ein Zwist zwischen Vertretern der westgotischen Elite zumindest teilweise für den Erfolg der muslimischen Invasion verantwortlich. Nach dem Tod des vorletzten Westgotenkönigs Witiza hatte dessen Frau für Witizas minderjährige Söhne Almund, Waqala und Arṭabāš die Herrschaft geführt, war aber vom Usurpator Roderich entmachtet worden. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die Söhne Witizas für eine Kollaboration mit dem muslimischen Eroberer Ṭāriq b. Ziyād und trugen damit zum Fall Roderichs wie auch der westgotischen Herrschaft insgesamt bei. Als Gegenleistung erwirkten sie von Seiten Ṭāriqs, seines Vorgesetzten Mūsā b. Nuṣayr und sogar des umayyadischen Kalifen al-Walīd (regn. 86-96/705-715) eine Bestätigung ihres als "Krongüter" bezeichneten Besitzes, die sie zu Neutralität nach innen und außen verpflichtete. Der Kalif in Damaskus, in diesem Fall Hišām b. ʿAbd al-Malik (regn. 105-25/724-43), griff nochmals in die Familienverhältnisse ein, als Witizas Sohn Arṭabāš sich nach dem Tod seines Bruders Almund bemühte, seine Nichte Sāra "die Gotin" (al-Qūṭiyya) zu enteignen. Bei einer Audienz in Damaskus erwirkte sie ein offizielles Schreiben, das den Gouverneur von al-Andalus, Abū l-Ḫaṭṭāb al-Kalbī (regn. 125-127/743-745) zur Restitution ihres entwendeten Besitzes veranlasste. Während ihres Aufenthaltes in Damaskus ging sie zudem die Ehe mit dem umayyadischen Klienten ʿĪsā b. Muzāḥim ein und lernte den Enkel des Kalifen Hišam, den späteren Emir von al-Andalus, ʿAbd al-Raḥmān b. Muʿāwiya b. Hišam (regn. 138-72/756-88) kennen. Sāra wurde damit Teil der umayyadisch geprägten muslimischen Herrschaftselite von al-Andalus. Anders als die Nachfahren ihrer Onkel, in deren Reihen das Geschichtswerk weiter Christen wie etwa den erwähnten Ḥafṣ b. Albar al-Qūṭī[6] verzeichnet, gebar sie ihrem ersten sowie ihrem zweiten Mann eine Reihe muslimischer Kinder, von denen einer Vorfahr des hier zitierten Autors, Ibn al-Qūṭiyya, war. Dem Werk zufolge war Ibn al-Qūṭiyya somit direkter Nachfahre des Westgotenkönigs Witiza, wahrscheinlich in der sechsten Generation (Ġaytaša-Witiza > Almund > Sāra > Ibrāhīm > ʿAbd al-ʿAzīz > ʿUmar > Muḥammad b. ʿUmar).

[§3] Inwieweit es sich hierbei um eine authentische Genealogie handelt, ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt, weil die Geschichte einige Ungereimtheiten enthält. Zum einen ist nicht ersichtlich, wie die beim Tod Witizas (regn. ca. 701-710) minderjährigen Königssöhne im Jahr der muslimischen Invasion 711, also nur ein Jahr später, schon ausgewachsene Männer gewesen sein können.[7] Nicht logisch erscheint ferner, dass Mūsā b. Nuṣayr, dessen Eifersucht auf Ṭāriq b. Ziyād in allen arabisch-islamischen Geschichtswerken erwähnt wird, einer Gruppe westgotischer Adliger erlaubt haben soll, nach Damaskus zu reisen, um dort den Kalifen über die Eroberungsleistungen seines Klienten zu informieren.[8] Angesichts anderer überlieferter Erklärungen für den Erfolg der muslimischen Invasion, darunter die Kollaboration der Nordafrikaner Julian, Urbanus sowie nordafrikanischer und westgotischer Juden[9], erscheint es verwunderlich, dass Ibn al-Qūṭiyya den Söhnen Witizas eine solch entscheidende Sonderrolle einräumt, zumal auch im so genannten „Pakt des Tudmir“ durch den frühen Gouverneur ʿAbd al-ʿAzīz b. Mūsā (regn. 95-97/714-16) vergleichbare Besitzbestätigungen gegeben wurden.[10] Auffällig ist auch, dass die bei Ibn al-Qūṭiyya verzeichneten Namen der Witiza-Söhne nicht mit denjenigen in anderen Quellen übereinstimmen. Die der Invasionsperiode zeitgenössische Chronik von 754 kennt keinerlei Witiza-Söhne, sondern erwähnt nur einen Kollaborateur namens Oppa, der als Sohn des Westgotenkönigs Egica und damit als Bruder Witizas identifiziert wird und mit Mūsā b. Nuṣayr gegen einige seniores nobiles uiros des Westgotenreiches vorgegangen sein soll.[11] Andere arabisch-islamische Quellen dagegen erwähnen zwar Söhne Witizas, nennen sie aber entweder Oppa (Ubbah) und Sisbert (Šišbart) oder Oppa (Wabba), Arṭabāš und Sīda.[12] Schließlich verwundert es, dass Ibn al-Qūṭiyya – anders als zahlreiche arabisch-islamische Geschichtswerke des 11. Jahrhunderts – nicht mehr über westgotische Geschichte weiß und sich sogar im Zusammenhang mit seiner Genealogie auf arabisch-islamische Autoritäten anstatt auf eine eigenständige Familientradition beruft.[13]

[§4] Für die Authentizität der Genealogie gibt es allerdings auch einige Argumente: Der die genealogische Anbindung an die Westgoten implizierende Name "Sohn der Gotin" (Ibn al-Qūṭiyya) wird von allen späteren arabisch-islamischen Gelehrten akzeptiert, die königliche Genealogie des Autors teilweise auch reproduziert.[14] Die Genealogie ist durchaus originell, verweist dabei aber auf plausible Integrationsmechanismen in die neue Herrschaftselite. Ibn al-Qūṭiyyas mangelndes Wissen über die vorislamische Geschichte von al-Andalus wiederum könnte mit einem, in der sechsten Generation geschwundenen Familiengedächtnis, seine Zitierung arabisch-islamischer Gelehrten mit der Erwartungshaltung der von ihm vertretenen Gelehrtenkultur erklärt werden.[15]

Kontextualisierung, Analyse, Interpretation

[§5] Vor diesem Hintergrund ist die Forschung zu sehr unterschiedlichen Bewertungen der Genealogie gekommen. Manche sehen in ihr nicht unbedingt Ausdruck einer bestimmten Zielsetzung des Autors, sondern ein weiteres Beispiel für die hohe Bedeutung von Genealogien im arabisch-islamischen Schrifttum.[16] Dennoch ist die Prominenz dieser Genealogie innerhalb und zu Anfang eines Geschichtswerks, nicht einer Biographiensammlung, ungewöhnlich. Folglich schreibt der Großteil der Forschung Ibn al-Qūṭiyya unterschiedliche Motivationen zu, eine königliche Abkunft zu behaupten oder – sollte sie authentisch sein – sie an so prominente Stelle zu stellen:[17] Wenig überraschend ist die Überlegung, Ibn al-Qūṭiyya habe mit der Dokumentation dieser Genealogie bewusst oder unbewusst seinen sozialen Status demonstrieren oder aufwerten wollen.[18] Bezüglich der jeweiligen Motivationen wird spekuliert, Ibn al-Qūṭiyya habe seine Abstammung von einer Königsfamilie sowie die Beziehungen seiner Vorfahren zu den Umayyaden in Szene setzen[19] oder gar behaupten wollen, seine Familie habe den Umayyaden die Herrschaft über die Iberische Halbinsel übergeben.[20] Andere sehen in der Genealogie ein soziopolitisches Manifest, das der Aufwertung der so genannten muwalladūn, also zum Islam konvertierter autochthoner Familien dienen solle, unter denen gerade im 10. Jahrhundert, also zur Entstehungszeit dieses Dokuments, vielfach Unzufriedenheit herrschte.[21] Egal wie man sich zu diesen Spekulationen positioniert: Anhand der Genealogie wird in jedem Falle deutlich, dass die Rolle, die eine Familie im Rahmen der Eroberung eingenommen hatte, für einen andalusischen Muslim zwei Jahrhunderte nach der Invasion immer noch von Bedeutung sein konnte. Sie deutet auch darauf hin, dass Familien, die an dieser Invasion in irgendeiner Weise beteiligt waren, eine gewisse Erinnerung an diese Ereignisse pflegten. Mit ihrer zunehmenden Integration dieser Familien in die muslimische Gesellschaft von al-Andalus wurde diese Erinnerung zu einen Bestandteil der muslimischen Erinnerungskultur, ging aber auch sukzessive verloren, wenn sie nicht schriftlich festgehalten wurde.[22]

Editionen & Übersetzungen

Ibn al-Qūṭiyya, Tariḫ iftitaḥ al-Andalus, ed. Ibrāhīm al-Ibyārī, Beirut / Kairo 1989, S. 29-32.

Historia de la conquista de España de Abenalcotía el cordobès, ed. Julián Ribera y Tarragó, Madrid: Tipografía de la Revista de los Archivos, 1926.

The History of Ibn al-Qūṭīya, übers. David James, London: Routledge, 2009.

Histoire de la conquête de l’Espagne par les Musulmans traduite de la chronique d’Ibn al-Kouthya, ed. Auguste Cherbonneau, Paris: Imprimerie impériale, 1857.

Zitierte & weiterführende Literatur

Barkai, Ron: El enemigo en el espejo: cristianos y musulmanes en la España medieval, Madrid: RIALP, 2007.
Bosch-Vilá, J.: Ibn al-Ḳūṭiyya, in: Encyclopaedia of Islam 2, Bd. 3, Leiden: Brill, 1986, S. 847.
Chalmeta, Pedro: Invasión e islamización. La sumisión de Hispania y la formación de al-Andalus, Jaén: Universidad de Jaén, 2003.
Christys, Ann: Christians in al-Andalus, Richmond: Curzon, 2002.
Christys, Ann: The History of Ibn Habib and Ethnogenesis in al-Andalus, in: Richard Corradini, Max Diesenberger, Helmut Reimitz (Hrsg.), The Construction of Communities in the Early Middle Ages. Texts, Resources and Artefacts, Leiden: Brill, 2003, S. 323-338.
Clarke, Nicola: The Muslim Conquest of Iberia: Medieval Arabic Narratives, London: Routledge, 2012.
Collins, Roger: Early Medieval Spain. Unity in Diversity, 400-1000, Basingstoke: MacMillan, 1983.
Dhanūn Ṭāha, ʿAbdulwāḥid: The Muslim Conquest and Settlement of North Africa and Spain, London: Routledge, 1989.
Fierro, María Isabel: La obra histórica de Ibn al-Qutiyya, in: al-Qantara 10/2 (1989), S. 485–512.
García Moreno, Luís: Spanish Gothic Consciousness, in: Alberto Ferreiro (Hrsg.): The Visigoths. Studies in Culture and Society, Leiden: Brill, 1999, S. 303-323.
König, Daniel G.: Rückbindung an die westgotische Vergangenheit. Zur Interpretation der Genealogie des Ibn al-Qūtịyya’, in: Michael Borgolte, Julia Dücker, Marcel Müllerburg, Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, Berlin: Akademie Verlag, 2011, S. 127–137.
König, Daniel G.: Arabic-Islamic Views of the Latin West. Tracing the Emergence of Medieval Europe, Oxford: OUP, 2015.
Manzano Moreno, Eduardo: Conquistadores, emires y califas. Los Omeyas y la formación de al-Andalus, Barcelona: Crítica, 2006.
Martinez-Gros, Gabriel: L’adoption de l’Occident chez les Omeyyades de Cordoue, in: Augustin Redondo (Hrsg.): Les représentations de l’Autre dans l'espace ibérique et ibéro-américain, Paris: Presses de la Sorbonne nouvelle, 1991, S. 15-22.

Zitierempfehlung

Daniel G. König, "711-745: Ibn al-Qūṭiyya zur Kooperation seiner westgotischen Vorfahren mit den muslimischen Eroberern", in: Transmediterrane Geschichte. Kommentierte Quellenanthologie, ed. Daniel G. König, Theresa Jäckh, Eric Böhme, URL: https://wiki.uni-konstanz.de/transmed-de/index.php/711-745:_Ibn_al-Qūṭiyya_zur_Kooperation_seiner_westgotischen_Vorfahren_mit_den_muslimischen_Eroberern. Letzte Änderung: 16.07.2021, Zugriff: 29.03.2024.

Schlagworte

Iberische Halbinsel, Invasion, Westgoten, Roderich, Witiza, Hišām bin ʿAbd al-Malik, Askalon, Sevilla, Córdoba, Qaḍī, Nichtaraber, Westgotenreich, Nordafrika, Kollaboration, Konfrontation


  1. Bosch-Vilà, Ibn al-Ḳūṭiyya, S. 847.
  2. Ibn al-Qūṭiyya, Tārīḫ, ed. al-Ibyārī, S. 29, 127.
  3. Ibn al-Qūṭīya, History, übers. James, S. 18; König, Rückbindung, S. 132-133.
  4. Ibn al-Qūṭīya, History, übers. James, S. 41.
  5. Vgl. König, Rückbindung, S. 130.
  6. Vgl. die noch zu behandelnde arabisch Psalterübersetzung desselben.
  7. Manzano Moreno, Conquistadores, S. 45.
  8. Martinez-Gros, Adoption, S. 19; Chalmeta, Invasión, S. 140-142.
  9. Vgl. 694: Der Vorwurf jüdischer Kollaboration in den Akten des 17. Konzils von Toledo sowie 711: Ibn ʿAbd al-Ḥakam zur Kollaboration Julians bei der muslimischen Invasion der Iberischen Halbinsel.
  10. Chalmeta, Invasión, S. 140-142. Vgl. 713: Der Vertrag von Tudmīr als Zeugnis der muslimischen Unterwerfung der Iberischen Halbinsel.
  11. Continuatio hispana, ed. Theodor Mommsen (MGH Auct. Ant., 11), Berlin: Weidmann, 1894, § 70, S. 353; bzw. Chronica muzarabica, ed. Juan Gil (Corpus Scriptorum Muzarabicorum 1), Madrid: CSIC, 1973, § 45, S. 32: "per Oppam filium Egiche regis".
  12. Vgl. König, Rückbindung, S. 130, mit Quellenangaben.
  13. Vgl. Fierro, Obra historica, S. 501; König, Rückbindung, S. 130-131; König, Arabic-Islamic Views, S. 160-169.
  14. Manzano Moreno, Conquistadores, S. 46; Ibn al-Qūṭīya, History, übers. James, S. 38; König, Rückbindung, S. 131.
  15. König, Rückbindung, S. 132.
  16. Christys, Christians, S. 168-170; Christys, History, S. 338; Ibn al-Qūṭīya, History, übers. James, S. 38.
  17. Zusammenfassend: König, Rückbindung, S. 134-136.
  18. Vgl. etwa Collins, Early Medieval Spain, S. 190.
  19. Barkai, Enemigo, S. 64-65; Manzano Moreno, Conquistadores, S. 40.
  20. Martinez-Gros, Adoption, S. 19.
  21. Fierro, La obra histórica, S. 510-511; García Moreno, Spanish Gothic Consciousness, S. 311-312; Barkai, Enemigo, S. 64-65.
  22. König, Arabic-Islamic Views, S. 160-161.