"Nement, frowe, disen cranz" (Walther von der Vogelweide)
Originaltext
I.
"Nement, frowe, disen cranz",
alsô sprach ich zeiner wol getânen maget,
"sô zieret ir den tanz
mit den schoenen bluomen, als irs ûffe traget.
Het ich vil edele gesteine,
daz mües ûf iuwer houbet,
obe ir mirs geloubet.
sênt mîne triuwe, daz ich ez meine.
II.
[] Ir sît so wol getân,
daz ich iu mîn schappel gerne geben wil,
daz [] beste, daz ich hân.
wîzer unde r1oter bluomen weiz ich vil,
Die stênt sô verre in jener heide.
dâ si schône entspringent
und die [] vogele singent,
dâ suln wir si brechen beide."
III.
Si nam, daz ich ir bôt,
einem kinde vil gelîch, daz êre hât.
ir wangen wurden rôt
same diu rôse, dâ si bî der liljen stât,
Des erschamten sich ir liehten ougen.
doch neic si mir vil schône.
daz wart mir ze lône.
wirt mirs iht mêre, daz trage ich tougen.
IV.
Mich dûhte, daz mir nie
lieber wurde, danne mir ze muote was.
die bluomen vielen ie
von den boumen bî uns nider an daz gras.
Seht, dô muoste ich von fröiden lachen,
dô ich sô wunneclîche
was in troume rîche,
dô taget ez und muose ich wachen.
V.
Mir ist von ihr geschehen,
daz ich disen sumer allen meiden muoz
vaste under diu ougen sehen.
lîhte wirt mir eine, sô ist mir sorgen buoz.
Waz obe si gêt an disem tanze?
frowe, dur iuwer güete
rucket ûf die hüete.
owê, gesaehe ichs under cranze!
Übersetzung
I.
"Nehmt, meine Dame, diesen Kranz"[1], so sprach ich zu einem anmutigen Mädchen,
"Denn Ihr werdet die Zierde des Tanzes sein,
wenn Ihr die schönen Blumen tragt.
Wenn ich viele Edelsteine hätte,
so müsstet Ihr diese unbedingt tragen,
das könnt Ihr mir glauben.
Erkennt meine Treue und seht, dass ich es ernst meine.
II.
Ihr seid so wunderschön,
dass ich Euch gerne meinen Blumenkranz geben will,
das Beste, was ich habe.
Ich weiß von einer Menge weißer und roter Blumen,
die so fern auf jener Wiese blühen.
Da, wo sie herrlich sprießen
und die Vögel singen,
mögen wie sie gemeinsam brechen."
III.
Sie nahm an, was ich ihr bot,
einem ehrenhaften jungen Mädchen gleich.
Ihre Wangen erröteten,
der Rose gleich, die neben den Lilien wächst.
Das ließ ihre leuchtenden Augen schamhaft blicken.
Und doch war sie mir sehr zugeneigt.
Das wurde mein Lohn.
Ob mir davon noch mehr zuteil wird, das bleibt mein Geheimnis.
IV.
Mich dünkte/Ich glaubte, dass es mir niemals
besser ergehen würde als in diesem Moment.
Die Blüten fielen die ganze Zeit
von den Bäumen neben uns ins Gras.
Seht, ich musste freudig lachen, als ich in meinem Traum
derart reiche Wonne erfuhr,
doch als der Tag anbrach, musste ich erwachen.
V.
Durch sie ist es mir so ergangen,
dass ich es diesen Sommer lang vermeiden muss,
den anderen Frauen zu nahe zu kommen.
Vielleicht werde ich eine kennenlernen, denn das würde meine Sorgen beseitigen.
Ob sie wohl an diesem Tanze teilnehmen wird?
Edle Damen, seid gütig
und hebt die Hüte.
Ach, würde ich es[2] doch unter einem Kranz erblicken!