Anachronismen in den Passions- und Osterspielen

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Begriff

Anachronismus (gr. anachronizein = in eine andere Zeit verlegen) ist eine „falsche zeitliche Einordnung von Vorstellungen, Sachen oder Personen“. [1] Anachronismen kommen aus verschiedenen Gründen zum Vorschein. Sie können Naivität der AutorInnen entlarven, wenn man sich keine Gedanken über den geschichtlichen Unterschied zwischen Epochen macht, oder bloß einzelne versehentliche Fehler ausmachen. Anderseits werden Anachronismen in die Narration absichtlich eingeführt, oft erzielen sie dann komische Wirkungen oder betonen die Aktualität der darstellenden Geschehnisse, was auch zur Verbesserung der Kommunikation mit den LeserInnen bzw. ZuschauerInnen. [2]

Im Bezug auf mittelalterliche Passions- und Osterspiele wird unter Anachronismen gemeint, dass Elemente der mittelalterlichen Kultur mit den Bibelgeschichten interferierten und ihre Sujets, Redensweise, Figuren, Inszenierung beeinflussten. Die höfische Kultur und bürgerliche Stadtkultur wirkten auf die evangelischen Originale sowohl durch neue geschichtliche Realien, wie z. B. Ritterschaft, als auch durch neue sprachliche und literarische bzw. performative Erscheinungen, die das Spiel als theatralisches Werk seiner Zeit bestimmten.

Historisch-kulturelle Spezifik der Anachronismen in den Passions- und Osterspielen

Die Passions- und Osterspiele, die sich aus der Liturgie entwickelt hatten, entfalteten sich vor Augen des mittelalterlichen Publikums als Schau-spiel, als Vergegenwärtigung des Lebens Christi. Diese Menschen wohnten einer Vorführung bei, und das Theaterstück appellierte an die Zuschauer nicht nur mit den ursprünglich biblischen Worten, sondern auch mit den der mittelalterlichen Gegenwart der Stadt und des Hofes, so dass Anachronismen als Folge zum Vorschein kamen. [3] Die Erlösung passiert, jedes Jahr wiederholt, heute und diese Tatsache ermöglicht drei formbestimmende Kräfte des Spiels: „die Gegenwart der Heilswirklichkeit, die im Kult begründete Gemeinschaft und die freudig-festliche Erhebung des Herzens“. [4]

Aktuelle Ereignisse als Anachronismen

Da die Realität des Publikums unmittelbar ins Spiel miteinbezogen wurde, wirkten sich die jüngsten Ereignisse auf die Handlung der Spiele aus. Als eines der Paradebeispiele dafür dient die Teufelsszene im Redentiner Osterspiel. Im Jahre 1464, als das Osterspiel niedergeschrieben wurde, vermerkte eine Lübecker Chronik eine Seuche. Darauf bezieht sich im Osterspiel die Rede von Luzifer, der sich nach dem Verlust vieler Seelen wegen des Erlösungstodes Christi ermunternd an die Teufel wendet: [5]


Gi scholen alle na mynem rade

Ju to Lubeke maken drade,

Dar wilt de lude sere sterven,

So moghe gy vele zelen vorwerven. RedO, V. 1296-99.


Es lässt sich den Regieanweisungen ergeben, dass das Redentiner Osterspiel genau in Lübeck aufgeführt wurde und dadurch wurde die Beziehung auf die Gegenwart direkt. [6] Dabei übermittelte das Spiel aber christliche Werte und belehrte ex negativo, wie man sich benehmen muss, um der Hölle zu entkommen. [7] Darüber hinaus versprach das Spiel eine geistliche Erlösung und den Sieg über den Tod, was für die von Pest bedrohte Stadt vom besonderen Belang sein konnte. Diese Erlösung wurde in Fällen verschiedener Spiele sogar abergläubisch gedeutet, als Verfahren, um „handl und wandl“ besser zu segnen, was von der Kirche erwartungsgemäß nicht unterstützt wurde. [8] Auf dieser Weise verflechteten sich Aktualität und Ordo Christianus, Heute und Immer.

Das Redentiner Osterspiel bearbeitete nicht nur unmittelbar das historische Ereignis selbst, sondern spielte auf ein anderes Kunstwerk an, das auf die derzeitige Pest rekurriert, und nämlich ist der Totentanz der Marienkirche in Lübeck von 1463 gemeint. Der Totentanz fungierte als Memento mori, „indem er vor allem auch bildlich darstellt[e], wie Angehörige aller Stände und (Alters-)Gruppen einem plötzlichen Tod anheimfallen“. [9] Die bimedialen Kunstwerke, die Bilder und Reimzeilen als Untertitel vereinten, entstanden seit dem XV. Jahrhundert. [10] Im Falle des Redentiner Osterspiels wurde die Vorstellung des Reigens von Sündern evoziert. Das Bild aller Stände, die vom Gott abwandten bzw. abwenden konnten, wurde deutlich vom Totentanz inspiriert. [11]

Höfische Kultur und deren Parodie

Höfische Kultur, mit ihrer Darstellung der Welt als hierarchisches System, die von Regeln des höfischen Zeremoniells regiert wird, beeinflusste die Passions- und Osterspiele auf verschiedenen Ebenen. Dieser Einfluss ist besonders aufmerksam im Osterspiel von Muri. In dem Fall reicht er sogar über das Durchschnittliche und Typische hinaus, was die Tatsache teilweise verursacht, dass das Osterspiel von Muri oft als Sonderfall betrachtet wird. [12]

Obwohl die Figuren keinesfalls zur Ritterschaft und zum Hof gehören und ihre Umgebung nicht stilisiert als mittelalterliche dargestellt wird, wenden sie aneinander mit höfischen Anreden wie „herre“ und „guot knecht“. Auf die hierarchischen Beziehungen basierend, zielen sie dennoch viel mehr auf die „Höflichkeit“ als auf die Widerspiegelung der sozialen Relationen, denen diese Anreden im Spiel ab und zu widersprechen. [13]

Einige Figuren sind besonders von der mittelalterlichen Realität geprägt, unter anderem Pilatus. Er wird als Fürst angeredet und er besitzt auch die Macht, Hoheitsrechte und Gerichtsbarkeit von einem. Nicht nur setzt Pilatus den Gerichtstag am Ostern, sondern er befiehlt auch, dass alle, die nicht kommen, bestraft und sogar geächtet werden müssen. Außerdem gewährleistet er die Sicherheit der Untertanen, worum ihn gerade der Krämer bittet. Der Autor bereichert die Episode mit einem sozial-kritischen Element, während der Krämer das gewährte Geleit mit 20 Mark Goldes bezahlt. In der Tat war der Schutz auf der Straße, besonders im Bezug auf die unbewaffneten reisenden Kaufleute, diese Macht missbraucht Pilatus willkürlich unverhohlen. [14]

Die Krämerszene, die ansonsten aus der Stadtkultur stammt und oft satirische Elemente einschließt, enthüllt im Osterspiel von Muri die Spuren der höfischen Kultur. Die vielfältigen Waren aus dem Angebot Krämers, wie z. B. Aphrodisiaka und köstliche Schmucksachen, gebühren den adeligen Kunden als Luxusartikel.[15] Darunter findet man die Alraune, über deren aphrodisische Wirkung die Legenden unter Adel und nicht in anderen sozialen Schichten verbreitet waren. Als roter Faden zieht sich in der Werbung die Idee der Verführung, die die Tradition des Minnesangs herabgesetzt andeutet. Diese Anspielung richtet sich folglich als Tadel, Warnung oder bloß als Spiel vor allem auf Adelige aus. [16]

Wie im Beispiel des Redentiner Osterspiels, entlehnt das Osterspiel von Muri aus dem Mittelalter nicht nur sozial-geschichtliche Elemente, sondern auch literarische. Was die Stilistik des Textes betrifft, vergleichen sie die ForscherInnen mit der der höfischen Dichtung.[17] Insbesondere weist man auf den vierhebigen Reimpaarvers hin, der für die höfische Epik kennzeichnend ist. Außerdem wird die sprachliche und architektonische Feinheit des Textes hervorgehoben, was ohne vorherige höfisch-ritterliche schöngeistige Werke undenkbar wäre. [18]

Die höfische Kultur erscheint auch in komplett parodistischem Ton in der Krämerszene im Innsbrucker Osterspiel. Der Kaufmann Mercator sucht nach einem Knecht und stellt Rubin ein. Ur-Eulenspiegel oder Ur-Hanswurst, [19] Rubin drückt seinen Eifer aus, die Aufgabe des Herrn als Held zu verrichten mit seiner „rostigen hant“ (InsO, V. 812-817). Diese Redewendung, die vermutlich der heroischen Literatur des Mittelalters entlehnt wird, erwirbt im neuen Kontext den komischen Charakter. [20] Wie andere Zeilen von Rubin, ist dieser Ausspruch auch obszön zu deuten. Rubin kündigt an, dass er für die Frauendienste zuständig ist, und er verführt kurzerhand Mercatrix. [21] Rubins liebesvolles und sittenloses Benehmen parodiert die höfische Minnetradition und stellt sie auf den Kopf. Die Satire entfaltet sich in voller Pracht, wenn Rubin für sich zwei Knechte nacheinander findet. Der erste, namens Pusterpalk, nennt sich selbst „krum Echart“, was die Parodie auf den Namen „der getruwe Eckert“ ist. [22] Eckert ist einem Helden in der Epik als Diener untertan. Wenn Pusterpalk verschwindet, stellt Rubin Lasterbalk ein, mit dessen Erscheinung die höfisch-ritterlichen Assoziationen nur verstärkt werden, weil sein Dienst als der des Ritters Knechten beschrieben wird, während Rubin parodistisch als Ritter selbst und Mercatrix als seine Geliebte auftritt: [23]


Geselle, daz wil ich dir sage:

du salt mir myn swert noch trage

vnd salt mir vff seczen myne rittirs hube

vnd salt mit dy federn uz dem hare kluben

vnd salt dinen vnvorspart

Anthonien, myner frawen czart. InsO, V. 746-751.


Wie es sich diesem Vergleich ergibt, unterscheidet sich die Perspektive auf die höfische Kultur im Osterspiel von Muri und Innsbrucker Osterspiel wesentlich. Es ist darauf zurückzuführen, dass im Innsbrucker Osterspiel die höfische Kultur vom Standpunkt der „einfacheren“ und ärmeren Schichten, vor allem der bürgerlichen Stadtbewohner kritisch und komisch übergedacht wird.

Bürgerliche Stadtkultur

Im Jahre 1231 überließ Friedrich II. den deutschen Landesherren viele von seinen Hoheitsrechten. Das war eine offizielle Bestätigung der schon existierenden Tendenz zur neuen Ordnung, bei der bürgerliche Kultur gedeiht, und Dezentralisierung. Dementsprechend übergedachte und allmählich ersetzte neue „bürgerliche“ Dichtung die höfisch-ritterliche Kultur. [Ranke 1952: 179]

Sogar hinsichtlich der Organisation der Spiele war das kein ausschließlich geistliches Ereignis, was J. O. Fichte mit der Geschichte der deutschen und englischen Passionsspiele belegt. Wenn die Konflikte zwischen Bürgertum und Klerus z. B. wegen der Ausdehnung der Aufführung entbrannte, wurden sie oft den Bürgern zugunsten gelöst. Wenn die Kleriker auch die Texte schufen, dann wurden diese Spiele von bürgerlichen Auftraggebern bestellt und auch vom niederen Klerus verfasst. Außerdem wurde der Inhalt nicht dogmatisch, sondern generell soteriologisch präsentiert, so dass die Reihe der biblischen Begebenheiten verständlich war.[24]

Eine der markantesten inhaltlichen Erweiterung, die zu den Osterspielen beigetragen wurde, war der schon erwähnte Salbenkrämer samt seiner Frau und seinem Diener. Die Figur des Krämers kam zum ersten Mal im XII. Jahrhundert zum Vorschein im Osterspiel und dabei war er die erste nichtbiblische Figur darin.[25] Diese Gestalt wurde auf der mittelalterlichen quacksalberischen Praxis basiert. Die reisenden Ärzte und gleichzeitig Kaufleute erregten die Aufmerksamkeit der Kunden mit der Werbung, die der improvisierten Aufführung glichen. In den Kontext des Markts eingebettet, wurden die Heilungswunder als komisches Pendant der Wunder Christi betrachtet. Im XI. Jahrhundert wurden die Quacksalber in Mysterienspiele aufgenommen und dann wurde im XIV. Jahrhundert die kanonische Krämerszene innerhalb des Osterspiels ausgeprägt. Weitere europäische Verbreitung der Arztspiele im weltlichen Theater wurde als spätere Entlehnung aus den geistlichen Spielen bewiesen.[26]

Besonders grell wird die Figur Rubins, des Dieners von Mercator, dargestellt. Er tritt als einen Clown auf,</ref>Vgl. Walsh 2002: 190.</ref> dem die obszöne und derbe Komik nicht fremd ist. Er bringt ins Spiel auch Sprachspiele mit, die oft makkaronisch und unsinnlich klingen:[27]


Hie lauft Gumpolt, Rumpolt, Harolt, Marolt,

Seibolt, Neidolt, Hirolt, Mirolt,

Leupolt, Deupolt, Hospolt, Rospolt,

Tibolt, Nimdolt, Enchenpolt, Fraunholt,

Isandolt, Gundolt, Ranpolt,

Und der schön Akcherpolt. ErlO, V. 57-62. [28]


Darin werden unadelige, „einfache“ Namen aufgelistet und dadurch wird die Verbindung zwischen Rubin und dem Volk unterstrichen. Rubin wird als Teil des Publikums, als der den Zuschauern Gleichgestellte gestaltet, während er in den Reihen des Publikums verschwindet und danach daraus auftaucht. [Walsh 2002: 189-190]

Durch die Krämerszene, ihre Wichtigkeit auch durch ihre Größe betont, wird das Weltliche ins Osterspiel eingesetzt. Diese Einsetzung schließt neue sowohl nichtklerikale als auch nichthöfische Figuren, den neuen Typ der Komik, neue Intonationen und die neue Kommunikationsweise mit dem Publikum ein.

Anmerkungen

  1. Müller 1990: 12
  2. Müller 1990: 12
  3. Steinbach 1970: 3-5
  4. Steinbach 1970: 50
  5. Steinbach 1970: 48-49
  6. Claußnitzer 2003: 198
  7. Claußnitzer 2003: 190
  8. Steinbach 1970: 48
  9. Claußnitzer 2003: 189
  10. Schulte 2007: 658
  11. Claußnitzer 2003: 199-201
  12. Holtorf 1975: 339-340, Bergmann 1984: 3-7
  13. Holtorf 1975: 340-341
  14. Holtorf 1975: 346
  15. Holtorf 1975: 342
  16. Holtorf 1975: 345
  17. Bergmann 1984: 3-4
  18. Holtorf 1975: 349
  19. Walsh 2002: 187-188
  20. Walsh 2002: 194-195
  21. Walsh 2002: 190
  22. Walsh 2002: 192
  23. Walsh 2002: 193
  24. Vgl. Fichte 1993: 277-278.
  25. Vgl. Katritzky 2007: 99-100
  26. Vgl. Katritzky 2007: 100-101.
  27. Vgl. Walsh 2002, 189.
  28. Arndt 1977, S. 52.


Literaturverzeichnis

  • Arndt, Wilhelm: Die Personennamen der deutschen Schauspiele des Mittelalters, Hildesheim, New York 1977.
  • Bergmann, Rolf: Überlieferung, Interpretation und literaturgeschichtliche Stellung des Osterspiels von Muri, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Vol. 9 (1984), S. 1-21.
  • Claußnitzer, Maike, Hartmut Freytag und Susanne Warda: Das Redentiner – ein Lübecker Osterspiel. Über das Redentiner Osterspiel von 1464 und den Totentanz der Marienkirche in Lübeck von 1463, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Bd. 132, H. 2 (2003), S. 189-238.
  • Fichte, Joerg O.: Die Darstellung von Jesus Christus im Passionsgeschehen der englischen Fronleichnamszyklen und der spätmittelalterlichen deutschen Passionsspiele, in: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters, hg. von Walter Haug und Burghart Wachtinger, Tübingen 1993, S. 277-296.
  • Holtorf, Arne: Höfische Theologie im Osterspiel von Muri, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 97 (1975), S. 339-364.
  • Katritzky, M. A.: Text and Performance. Medieval Religious Stage Quacks and Comedia dell’Arte, in: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Trends in Medieval Philology, 11, hg. von Ingrid Kasten and Erika Fischer-Lichte, Berlin 2007, pp. 99-126.
  • Müller, Ulrich und Günther Schweikle: Anachronismus, in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. von Günther und Irmgard Schweikle, Bd. I, Stuttgart 1990, S. 12.
  • Ranke, Friedrich: Von der ritterlichen zur bürgerlichen Dichtung. 1230-1430, in: Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Heinz Otto Burger, Stuttgart 1952, S. 179-255.
  • Schulte, Brigitte: Totentanz, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Bd. III, Berlin, New York 2007, S. 657-660.
  • Steinbach, Rolf: Die deutschen Oster- und Passionsspiele des Mittelalters. Versuch einer Darstellung und Wesensbestimmung nebst einer Bibliographie zum deutschen geistlichen Spiel des Mittelalters, Köln, Wien 1970.
  • Walsh, Martin W.: Rubin and Mercator: Grotesque Comedy in the German Easter Play, in: Comparative Drama, Vol. 36, No. 1/2 (Spring/Summer 2002), pp. 187-202.