Brandan-Legende

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Bei der Erzählung vom Heiligen Brandan und seiner Meerfahrt handelt es sich um einen literarischen Reisebericht. Was bedeutet in diesem Zusammenhang ‚literarisch‘? Es geht nicht um die Darstellung geographisch-korrekter Routendetails, die Erzählung verfolgt ein ihr eigengesetzliches Ziel. Sie enthält Elemente aus unterschiedlichsten Erzähltraditionen: Besonders hervorsticht der altirische Texttypus Immram (Plural: Immrama) – Erzählungen von See- bzw. Schiffsreisen in die dem Menschen nur unter erschwerten Bedingungen zugängliche ‚Anderwelt‘. [1] Hinzukommt der Rückgriff auf antikes, orientalisches und christliches Erzählgut. Ebenfalls auffällig ist die Nähe zu Erzählmustern christlicher Legenden- und Visionsliteratur. [Haupt 1995: S. 322]

Die Erzählung gibt vor, dass ihr Protagonist Brandan mit der historisch verbrieften Person des Abtes und Klostergründers Brendan von Irland (gest. 577 oder 583) identisch sei. Die älteste Fassung der Erzählung stammt aus dem späten 10. Jahrhundert und wurde in lateinischer Sprache unter dem Titel ‚Navigatio Sancti Brendani Abbatis‘ (dt. Schifffahrt des heiligen Abtes Brendan) verfasst. Die Erzählung entwickelte sich zu einer der beliebtesten mittelalterlichen Erzähltraditionen im europäischen Raum, sie wurde in zahlreichen Volkssprachen nicht nur übersetzt, sondern auch in diverse Versformen abgewandelt, derzeit sind mehr als 120 Handschriften-Fassungen bekannt. [Haupt 1995: S. 322]

Für den deutschsprachigen Raum ist besonders die sogenannte ‚Reise-Fassung‘ relevant. Sie liegt in drei verschiedenen Überlieferungen vor. Alle drei gehen auf ein mittelfränkisches Original zurück, das jedoch nicht erhalten geblieben ist. [Haupt 1995: S. 322]

Anmerkungen

  1. Das Altirische kennt für die Anderwelt viele Namen, u.a.
    • Tír na nÓg (Irish, ‘the land of youth’) - „In Irish mythology, the strongest and most desirable of the many manifestations of the Celtic Otherworld.“ [Lemma 'Tír na nÓg' – Brewer's Dictionary]
    • Emain Ablach (Ir. emain, brooch (?), twins (?); ablach, having apple trees) - „Paradisiacal island off the coast of Alba [Scotland], the home of Manannán mac Lir, the Irish sea-god.“ [Lemma 'Emain Ablach' – A Dictionary of Celtic Mythology]
    • Tír Tairngire (Ir. tairgire, tarngaire, prophecy, promise) - „The Land of Promise, one of several otherworldly paradises from early Irish tradition, much associated with Manannán mac Lir, although he does not rule here. The goal of many eachtrada [adventures] is to reach Tír Tairngire. St Brendan is seeking it in his Navigatio [...]“ [Lemma 'Tír Tairngire' – A Dictionary of Celtic Mythology]
    • Tír fo Thuinn (Ir. tonn, wave, i.e. Land under Wave) [Lemma 'Tír fo Thuinn' – A Dictionary of Celtic Mythology]
    • Mag Mell (Ir. mell, pleasant, delightful, e.g. pleasant plain) - „Often-cited Irish otherworldly realm frequently visited by mortal heroes. Bran in the 8th-century Imram Brain [The Voyage of Bran] passes through Mag Mell on his way to Emain Ablach; in this instance it is a part of the sea where salmon romp like calves.“ [Lemma 'Mag Mell' – A Dictionary of Celtic Mythology]


Inhaltsangabe

Navigatio Sancti Brendani Abbatis

Eine Erzählung in neunundzwanzig Kapiteln [Jacobsen 2001]

1. Kapitel

Brendan wurde als Brendan mac Findlocha mac Alti (übersetzt: Sohn von Findlocha Sohn von Alti d.h. Findlocha ist sein Vater, Alti sein Großvater) geboren. Er entstammt dem Clan der Eoganacht (historisch verbrieftes Herrschergeschlecht des irischen Provinzkönigreichs Munster zwischen dem 5. und 10 Jahrhundert). Zu Beginn der Erzählung ist er bereits ein hochgeschätzter Mann, sein Leben hat er völlig dem Dienst Gottes gewidmet, er sieht sich als Streiter Christi, er lebt in strenger Askese und vollbringt Wunderheilungen. Er ist Abt eines großen Klosters, seiner Leitung unterstehen 3000 Brüder. Sein Kloster liegt in Clonfert, auch ‚Tal der Wunder Brendans‘ genannt. Eines Tages kommt sein Neffe Barrind mac Neill zu Besuch. Er ist gerade von einer eigenen Seereise zurückgekehrt. Barrind erzählt, dass Mernoc, ein Bruder seines Klosters, vor langer Zeit ausgezogen sei, um in Abgeschiedenheit eine kleine Filiatur (= Tochterzelle des Mutterklosters) auf der Insel Inis Cain (dt. die Reizende, die Liebliche) nahe der Sliabh Liacc (bekannte Steilklippen) zu gründen. Barrind habe die Brüder besucht und alles in bester Ordnung vorgefunden. Am nächsten Tag seiner Visitation habe Mernoc ihn mit auf ein kleines Boot genommen, in der Absicht, ihm die ‚verheißene Insel der Heiligen‘ zu zeigen. Dieses Land heiße so, weil es am Ende der Zeit die Wohnstätte aller Gerechten, ein Land für die von Gott Geliebten und Auserwählten sein werde. Sie seien gen Westen abgesegelt – und prompt in eine zähe, undurchdringbare Nebelwand geraten. Erst nach einer Stunde Fahrtzeit und ungewisser Strecke, die zurückgelegt wurde, habe plötzlich gleißend helles Licht einer Klinge gleich den Nebel geteilt, vor ihnen endlich klarer Blick auf ein weites, sehr fruchtbares und grünes Land… Ein Jahr lang habe er und seine Gefährten die Insel erkundet, bis ein Engel sie zurückschickte. Barrind nimmt Abschied.


2. Kapitel

Brendan kehrt zu seinen Brüdern zurück. Er wählt 14 von ihnen aus. Sie sollen ihn auf seiner Reise begleiten.


3. Kapitel

Die Brüder begehen ein vierzigtägiges Fasten, danach brechen sie auf.


4. Kapitel

Brendan und seine Gefährten ziehen in die Nähe von Brendans Geburtsstätte, besuchen dessen Eltern jedoch nicht. Auf einer Landzunge suchen sie sich einen Strand, auf dem sie sich niederlassen. Sie errichten ein großes Zelt, das genügend Platz für ihr Vorhaben bietet: Im Schutz der Zeltplane beginnen sie mit dem Bau ihres Boots. Das Boot wird nach Art des Landes gefertigt, es ist ein leichtes Boot, bestehend aus einem leichtem Holzgerippe, das mit vernähten Rindsledern bespannt wird. Die Nähte werden auf der Außenseite mit Fett bestrichen (wasserdichte Versiegelung). Ins Innere des Bootes legen sie so viel Rindsleder, wie für die zweimalige Erneuerung der Außenhülle nötig ist. In die Mitte des Bootes setzen sie Mast und Segel. Sie beladen ihr Boot mit Proviant für vierzig Tage.


5. Kapitel

Bevor sie aufbrechen wollen, kommen drei Nachzügler aus ihrem Kloster angelaufen. Die Mitbrüder werfen sich zu Boden und flehen, dass sie mit auf Reise gehen dürfen. Brendan erlaubt es, macht aber zugleich eine Voraussage: Einem der Drei wird es unterwegs gut ergehen, den anderen beiden jedoch nicht.


6. Kapitel

Brendan und seine nun 17 Gefährten segeln zunächst nach Norden, fünfzehn Tage lang. Dann kommt Wind auf, sie verlieren die Orientierung, vierzig Tage lang irren sie auf hoher See. Ihr Proviant ist aufgebraucht. Schließlich stoßen sie auf eine Insel, doch deren Küste besteht ausschließlich aus schroff abfallenden Steilklippen, es ist unmöglich zu landen. Drei Tage lang fahren sie die Küste entlang, am dritten Tag finden sie endlich eine Schneise im Felsen, gerade breit genug für ihr Boot, sie erreichen das Ufer. Ein Hund erscheint, legt sich zu Brendans Füßen nieder. Die Brüder folgen dem Hund und kommen zu einem menschenleeren, scheinbar verlassenen Palast. Sie finden gerichtete Betten und Waschschüsseln mit frischem Wasser, um sich die Füße zu waschen. In einem Saal steht eine gedeckte Tafel, es gibt reichlich Brot und Fisch. Die Wände des Saals sind mit kostbaren Gegenständen aus allen erdenklichen (Edel)Metallen geschmückt: Allerlei Gefäße, Becher, Teller, Schüsseln, Schalen, aber auch Ketten und versilberte Trinkhörner. Nachts werden die Brüder von einem Teufel in Gestalt eines schwarzen Jungen bedroht, Brendan kann ihn jedoch mit der Kraft seines Gebetes erfolgreich abwehren. Die Brüder verbringen drei Tage auf der Insel. Gestärkt durch die guten Speisen und den sicheren Schlaf brechen sie am dritten Tag auf.


7. Kapitel

Noch beim Aufbruch warnt Brendan die Brüder, keiner solle etwas von der Insel entwenden. Die Brüder weisen den Vorwurf entsetzt von sich, doch Brendan zeigt auf den Bruder, vor dessen Bett der schwarze Junge tanzte: Er habe besagte Kette, die Brendan zuvor in den Händen des schwarzen Jungen sah, gestohlen. Der ertappte Dieb reißt sich sein Diebesgut von der Brust und fleht um Gnade. Seine Brüder sollen für ihn beten. Alle Mitbrüder werfen sich sofort zu Boden und beten inbrünstig für sein Seelenheil. Aus der Brust des Diebes steigt plötzlich der schwarze Junge, er brüllt und tobt, seit sieben Jahren nun habe er in diesem Körper gewohnt, nun sei er durch die Macht des Gebetes gezwungen, seine Wohnstatt zu verlassen. Sein Gezeter nutzt ihm nicht, er muss gehen. Brendan offenbart dem geläuterten Dieb, dass er dennoch sterben werde: Seine reine Seele werde bald den zu lange fremdbesetzten Körper verlassen. Brendan spendet dem Totgeweihten ein letztes Mal das Sakrament der Eucharistie (Abendmahl). Der Dieb stirbt – seine Seele wird im Himmel aufgenommen, die Brüder begraben seine leere Hülle.


8. Kapitel

Ein junger Mann läuft ihnen bis zum Strand nach, überreicht einen Korb mit Proviant. Sie verlassen die Insel.


9. Kapitel

Sie stechen in See. Sie stoßen wieder auf eine unbekannte Insel. Diese Insel ist von zahlreichen Quellen übersät, in deren Wasserbecken viele Fische tummeln. Die Menge der Quellwasser ist gewaltig, ihre Ströme sind sehr stark. Hier feiern sie Gründonnerstag. Sie bleiben bis zum Karsamstag. Auf der Insel gibt es unzählige Schafe, sie sind größer als Rinder. Die Brüder wählen einen jungen und starken Widder als Opfertier aus. Sie schlachten den Widder zu Gründonnerstag. Ein plötzlich auftauchender Jüngling bringt ihnen Aschebrote. Der junge Mann ist gleichzeitig ein göttlicher Bote. Er teilt den Brüdern mit, dass er bereits wisse, wie lange sie auf der Insel blieben und wohin sie ihr Weg sie noch führen werde. Bis Karsamstag würden sie bleiben, die Nachtoffizien (Stundengebete, die zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang verrichtet werden) und die anschließende Messe des Ostersonntags würden sie bereits auf der benachbarten Insel begehen.


10. Kapitel

Die Brüder brechen am Abend des Karsamstages auf. Sie erreichen die ‚Nachbarinsel‘. Das Wasser ist so seicht, dass selbst ihr kleines Boot aufläuft, mit vereinten Kräften müssen sie es an Land ziehen. Brendan weiß bereits, was seine Brüder erwartet, verrät jedoch nichts – stillschweigend bleibt er an Bord, verlässt das Boot nicht. Seine Brüder gehen an Land. Die Insel ist sehr felsig, es gibt keine Vegetation und auch keinen Sandstrand. Alle begehen ihre Messen und Gebete, die Brüder auf der Insel, Brendan im Boot. Die Brüder sammeln angeschwemmtes Treibholz und machen Feuer, sie wollen Fisch und Fleisch braten – plötzlich wogt die Insel auf und nieder wie ein lebendiger Leib. Die Brüder stürzen sich fluchtartig ins Wasser, Brendan zieht sie ins rettende Boot. Brendan klärt die Brüder auf: In einer nächtlichen Vision habe Gott ihm bereits gezeigt, dass es sich hier nicht um eine Insel, sondern um einen riesigen Fisch handelt.


11. Kapitel

Die Brüder segeln zur wirklichen Insel zurück. Sie gelangen an ihre westlichste Landzunge, an deren Ende, nur durch eine kleine Wasserstraße getrennt, eine weitere Insel liegt. Die Insel ist bedeckt von Wäldern, Wiesen und Blumen. Ein Fluss mündet ins Meer. Sie ziehen ihr Boot flussaufwärts und gelangen schließlich an seine Quelle. Brendan kündigt an, dass sie hier das Fest der Auferstehung (Ostersonntag) verbringen werden. Über der Quelle steht ein schöner Baum mit einer ausladenden Baumkrone. Darin sitzen leuchtend weiße Vögel. Die Vögel sind gestaltgewordene Geister, als himmlische Boten sprechen sie zu Brendan. Sie sagen ihm voraus, dass die Brüder bereits ein Jahr auf Reisen sind, dass ihre Reise aber noch sechs weitere Jahre andauern werde. Die Brüder würden denselben Reiseverlauf Jahr für Jahr aufs Neue durchleben, jedes liturgische Fest würde wieder am selben Ort begangen werden. Im Wechselgesang singen die Brüder und die weißen Paradiesvögel Lobhymnen Gottes. Ihr Flügelrauschen ist schön und traurig zugleich, wie eine eigene Melodie. Die Brüder bleiben bis zum achten Tag nach Pfingsten auf der Vogelinsel.


12. Kapitel

Die Brüder verlassen die Insel. Sie treiben ab, irren drei Monate lang auf hoher See, sie sehen nichts als das Wasser unter und den Himmel über sich. Dann stoßen sie wieder auf eine unbekannte Insel. Sie werden vom Wind abgetrieben, vierzig vergebliche Tage umkreisen sie die Insel, ohne anlanden zu können. Auf der Insel lebt eine brüderliche Gemeinschaft mit vierundzwanzig alten weisen Männern. Ihr Abt hat schlohweißes Haar, aus seinem Gesicht strahlen Wärme und Güte. Er ist der heilige Ailbe. Die fremden Brüder haben ein Schweigegelübde abgelegt, einzig für Speise, Gebet und Gesang öffnen sich ihre Lippen. Die Brüder leben bereits seit acht Jahrzehnten auf der Insel. Sie müssen nicht arbeiten, göttliche Dienstgeschöpfe bringen ihnen tägliche Nahrung. Auf der Insel gibt es eine Kirche, die außen und innen komplett aus Kristall besteht. Auch alle Gegenstände, die zur Messe gebraucht werden, sind aus Kristall. Die Kirche hat einen quadratischen Grundriss. In ihrem Inneren befinden sich sieben Leuchter, deren Licht nicht von menschlicher Hand entzündet und nicht gelöscht werden muss: Ein blitzartiger Pfeil schießt durchs Fenster, entzündet die Lichter und verschwindet wieder. Die Lichter brennen die ganze Nacht, spenden den Brüdern bei ihren Nachtoffizien Licht und erlöschen im Morgengrauen wieder. Die Dochte der Lichter rußen nicht. Die Lichter verbrauchen kein Brennmaterial. Das geistige Feuer verzehrt sie nicht (vgl. die biblische Erzählung zu Mose und dem brennenden Dornbusch). Die Brüder verbringen auf dieser Insel die Weihnachtsfeiertage. Sie bleiben noch bis zum achten Tag nach Epiphanias (von altgriechisch epipháneïa, latinisiert epiphanīa ‚Erscheinung‘ – besser bekannt als Festtag ‚Heilige Drei Könige‘).


13. Kapitel

Die Brüder brechen auf. Sie erreichen eine Insel, in deren Mitte eine kristallklare Quelle sprudelt. In dem Quellbecken schwimmen viele Fische. Am Wasserrand wachsen viele essbare Kräuter, Pflanzen und Gemüse. Die Brüder speisen gut, begehen aber den Fehler, das Wasser zu trinken: Wer einen Becher getrunken hat, schläft einen Tag lang, wer zwei Becher getrunken hat, schläft zwei Tage lang und wer drei Becher getrunken hat, schläft drei Tage lang. Der Schlaf an sich ist ungefährlich, keiner kommt zu Schaden. Sie verlassen die Insel gen Norden.


14. Kapitel

Im hohen Norden ist das Meer plötzlich geronnen (schwimmendes Eis?). Das Boot treibt zwanzig Tage lang umher. Westwind kommt auf.


15. Kapitel

Sie erreichen wieder die allererste Insel ihrer Reise, die erste Station ihrer zyklischen Route. Die Brüder bleiben dort, wie schon im letzten Jahr, von Gründonnerstag bis Karsamstag. Die Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag verbringen sie wieder auf dem Rücken des Riesenfisches Iasconius. Dieser ist durch eine göttliche Fessel zum Stillhalten gezwungen, er kann nicht davonschwimmen. Den Ostersonntag begehen sie feierlich auf der eigentlichen Insel, die nahe bei Iasconius liegt (Insel mit den Riesenschafen). Danach gehen sie weiter zur Vogelinsel und feiern Pfingsten. Dann geht es zum Abt Ailbe und seinen Brüdern, die Weihnachtsfeiertage ziehen vorbei.


16. Kapitel

Sie stechen in See, sie fahren vierzig Tage lang. Plötzlich taucht hinter ihnen ein Seeungeheuer auf, die Brüder geraten in Panik. Brendan bleibt nachsichtig, dass seine Brüder so wenig Gottesvertrauen an den Tag legen. Er betet – prompt erscheint ein zweites Seeungeheuer, dieses verwickelt ersteres in einen wilden Kampf. Das kleine Boot mit den Mönchen scheint vergessen. De Brüder sind gerettet. Das zweite Ungeheuer tötet das erste. Später finden die Brüder den angespülten Kadaver am Strand, sie zerlegen ihn fröhlich, das Fleisch reicht für mehrere Monate.


17. Kapitel

Sie erreichen erneut eine ihnen unbekannte Insel. Drei Gruppen von Männern unterschiedlichen Alters leben dort: Sehr junge Männer, Männer mittleren Alters und alte Männer. Sie gehen auf und ab, singen dabei Psalmen und Loblieder. Die erste Gruppe trägt weiße Dalmatiken (lat. vestis dalmatica „aus Dalmatien stammendes Gewand“ = liturgisches Gewand, ähnlich einer langärmeligen und bis übers Knie fallenden Tunika), die zweite Gruppe trägt blaue Dalmatiken und die dritte Gruppe trägt rote Dalmatiken. Die Insel ist merkwürdig flach, sie ragt kaum über das Meeresniveau hinaus. Es wachsen keine Bäume, dafür sehr zahlreiche seltsame runde Früchte mit sehr viel Saft und weißem oder pinkem Fruchtfleisch (Melonen?). Einer der Brüder, die Brendan zu Beginn der Reise nachgelaufen kam, bleibt auf der Insel. Er wird von der dortigen Bruderschaft in Ehren aufgenommen.


18. Kapitel

Auf hoher See kommt ein riesiger Vogel angeflogen, in seinem Schnabel trägt er eine Weintraube, deren Beeren groß wie Äpfel sind. Die Brüder freuen sich, sie haben wieder Nahrung. Die Beeren reichen für 12 Tage. Drei Tage lang müssen sie fasten. Nach fünfzehn Tagen erreichen sie schließlich die Insel, auf der die ungewöhnlich großen Reben wachsen. Sie können sich selbst bedienen. Auf der ganzen Insel weht ein zarter Duft wie von Granatäpfeln. Brendan entdeckt sechs Quellen, auch für Frischwasser ist gesorgt. Sie bleiben vierzig Tage auf der Insel. Dann brechen sie wieder auf.


19. Kapitel

Auf offenem Wasser kommt plötzlich ein Greif geflogen. Die Brüder schreien panisch, der Greif sei gekommen, um sie alle aufzufressen. Der Greif krümmt die Krallen, streckt sich gierig nach den Leibern, er streckt bereits die Krallen nach ihnen aus, da kommt der Vogel, der ihnen zuvor die Rebe brachte, geflogen und stürzt sich auf den Greif. Ein Kampf entbrennt. Der Vogel tötet den Greif. Die Brüder sind gerettet.


20. Kapitel

Sie erreichen die Insel von Abt Ailbes. Sie feiern Weihnachten.


21. Kapitel

Die Brüder sind wieder an Bord. Sie begehen gerade das Fest des heiligen Apostels Petrus (ein sogenanntes ‚Hochfest‘ im Kirchenjahr, auch bekannt als ‚Peter und Paul‘, seit dem 6. Jh. am 29. Juni gefeiert). Plötzlich wird das Meer glasklar, sodass die Brüder bis auf den tiefsten Grund blicken können. Tief unten im Sand liegen die verschiedensten Ungeheuer. Sie fühlen sich von Brendans Messgesang angezogen und kommen an die Wasseroberfläche. Wie gebannt lauschen sie seiner Stimme, verhalten sich völlig friedlich. Nachdem wieder Stille eingetreten ist, verschwinden sie.


22. Kapitel

Die Brüder sind wieder auf hoher See unterwegs. Eines Tages sehen sie eine riesige Säule, die mitten im Meer steht. Die Säule erscheint ganz nah – doch die Wahrnehmung täuscht, sie brauchen drei weitere Tage, um die Säule zu erreichen. Die Säule ist so hoch, dass man vom Boot aus unmöglich ihre Spitze ausmachen kann, die Säule reicht bis in die Wolkenkrone des Himmels. Die Säule selbst besteht aus glasigem Kristall, sie ist von einem silberschimmernden Netz umgeben, der Zwischenraum zwischen Netz und Säule beläuft sich auf etwa eine Meile. Die Mönche können nicht feststellen, aus welchem Material das Netz besteht, es ist ihnen völlig unbekannt, sie staunen jedoch sehr über seine ungewöhnliche Härte, es ist so hart wie Marmor, besitzt also keinerlei Ähnlichkeiten mit Seilen oder Tauen. Die Maschen des Netzes sind so weit, dass ihr kleines Boot hindurchfahren kann. Brendan befiehlt den Brüdern, alle Ruder, Segel und Mast einzuholen. Sie legen sie flach ins Boot. Stattdessen greift nun ein jeder beherzt ins Netz, Masche für Masche ziehen sie sich daran vorwärts. Das Meer im Zwischenraum ist gläsern, klar und vollkommen durchsichtig. Erstaunt bewundern sie die Säule, wie sie sich unter der Wasseroberfläche fortsetzt, auch das umgebende Netz läuft unter Wasser weiter. Sie blicken bis auf den Meeresgrund, betrachten den Sockel der Säule. In Brendan erwacht der Forschergeist: Er nimmt Maß. Zunächst bei der kleinsten Einheit, der Masche, ihre quadratische Öffnung misst von Knotenpunkt zu Knotenpunkt vier Ellen. Danach arbeiten sie sich stundenlang weiter, Brendan zählt Masche um Masche, sie brauchen insgesamt vier Tage. Brendan kommt zu dem Ergebnis, dass die Säule vierseitig ist und das jede Seite exakt tausendvierhundert Ellen misst. Auf der letzten Seite stoßen sie auf eine kleine Nische, die in die vierkantige Säule eingelassen ist: darin befinden sich ein Kelch und eine Schale, beide Objekte sind aus demselben silbrig-marmorharten Material wie das Netz. Brendan erkennt, diese Geschenke stammen von Gott. Dankbar nimmt er sie an sich, er wird sie zukünftig als Beweisstücke für ihre wundersame Reise vorzeigen können. Sie schlängeln sich zurück durchs Netz und sind wieder auf offenem Meer unterwegs.


23. Kapitel

Nach acht Tagen erblicken sie von Weitem eine Insel, deren Anblick Brendan größte Sorge bereitet, er weiß bereits, dass ihnen Übles bevorsteht, doch der Wind steht ungünstig, gegen ihren Willen treiben sie darauf zu. Die Insel ist kahl, trostlos, besteht aus nacktem Gestein und ist von einer seltsamen Schlackeschicht bedeckt. Über allem schallt ein dumpf-hohles Dröhnen, ein rhythmisches Schlagen und Pochen, Hämmern und Klopfen… Plötzlich werden sie von einem der Inselbewohner entdeckt, der zurückläuft in seine Behausung und wiederkehrt mit weiteren Genossen. Sie werfen glühende Brocken, die sie mit Zangen aus ihren Schmiedefeuern geholt haben, ins Wasser, verfehlen nur knapp das Boot. Ringsum beginnt das Wasser zu kochen. Die Brüder entkommen nur mit Mühe und Not.


24. Kapitel

Am nächsten Tag taucht im Norden ein hoher kegelförmiger Berg auf, er steht mitten im Meerwasser, seine gerundeten Bergflanken sind pechschwarz und ragen wie senkrecht-glatte Wände empor, seine Spitze entschwindet weit oben in den Wolken, das Ende ist kaum auszumachen. Wie aus einem Schlot quillt Rauch und heißer Dampf. Die Beschreibung lässt auf einen Vulkan schließen. Ein schrecklicher Wind kommt auf, in rasender Geschwindigkeit treibt er das Boot auf die Insel zu, die Brüder sind absolut machtlos, können nichts dagegen tun. Ihr Boot läuft im flachen Sand auf. Einer der Brüder, die ehedem Brendan nachgelaufen kamen, geht an Land. Er wird von einer Meute Dämonen gepackt und verschleppt, den restlichen Brüder gelingt die Flucht.


25. Kapitel

Die Brüder fahren sieben Tage lang strikt gen Süden. Da entdecken sie eine Gestalt auf einem Felsen ähnlich einem sitzenden Menschen. Sie kommen näher, stellen fest, dass es sich tatsächlich um einen Menschen handelt. Der Mann ist schrecklich hässlich und ungepflegt. Er sitzt auf dem sturmumtosten Felsen, die Wellen stürzen mit Brachialgewalt auf ihn ein, ziehen sich zurück, brechen wiederholt an seinem Körper. Der Mann gibt sich als Judas zu erkennen. Die Brüder sind entsetzt, er müsse doch schreckliche Schmerzen erleiden. Der Mann wiegelt ab, dass hier sei die Erholung von der eigentlichen Strafe. Normalerweise schmorrt er im Höllenfeuer, an Festtagen wird ihm jedoch die Abkühlung im Meer gestattet, so wie heute, es ist Sonntag. Judas fürchtet sich schrecklich vor den Qualen, die ihn am kommenden Sonnabend wieder erwarten – er fleht Brendan um Hilfe an. Brendan soll im Gebet für ihn einstehen und um eine Nacht Aufschub bitten, erst im Morgengrauen sollen ihn die Schergen zurückfordern dürfen. Brendan und die Brüder beten, alles geschieht so wie sie es erbeten haben, die Dämonen sind fuchsteufelswild, dürfen Judas aber in dieser Nacht nicht anrühren.


26. Kapitel

Die Brüder rudern weiter nach Süden. Sie stoßen auf eine kleine, kreisrunde und flache Insel. Dort begegnen sie dem Eremiten Paulus, der bereits neunzig Jahren auf dieser Insel lebt. In den ersten dreißig Jahren brachte ihm noch ein von Gott beauftragtes Tier (ein Otter!) Fische und Brennholz, in den letzten sechzig Jahren lebte er bereits völlig ohne Nahrung, er trinkt ausschließlich Wasser aus einer heiligen Quelle. Der Eremit trägt keine Kleidung, dennoch ist sein Körper vollkommen bedeckt – mit Haar! Schlohweißes Haar bedeckt jeden Zentimeter seiner Haut, nur sein Gesicht ist noch zu erkennen. Vor seiner Ankunft auf der Insel lebte er bereits fünfzig Jahre lang im Kloster seines Abtes Sankt Patrick. Der Eremit ist also bereits hundertvierzig Jahre alt.


27. Kapitel

Die vierzigtätige Fastenzeit vor Ostern ist angebrochen, den gesamten Zeitraum über fahren die Brüder gen Süden. Die Brüder sind nun seit sieben Jahren unterwegs, auch im siebten Jahr verbringen sie wieder Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, Ostersonntag und die Zeitspanne bis acht Tage nach Pfingsten an den gewohnten Stationen (u.a. auf dem Rücken des Riesenfisches Jasconius, die Vogelinsel usw.)


28. Kapitel

Die Brüder begegnen ihrem Fürsorger, so nennen sie seit sieben Jahren den Mann, der auf der Gründonnerstagsinsel lebt und sie alljährlich mit Proviant versorgt. Dieser Fürsorger erklärt ihnen, dass er sie nun leiten werde, ohne seine Führung würden sie das Versprochene Land der Heiligen nicht finden können. Der Fürsorger fährt voraus, die Brüder folgen. Vierzig Tage lang fahren sie gen Osten. Eines Abends, als die Dämmerung bereits hereinbricht, senkt sich plötzlich ein dichter, zäher Nebel – er ist undurchdringbar wie eine Wand, die Brüder können einander kaum noch erkennen, und das obwohl sie nebeneinander im selben Boot sitzen. Der Fürsorger beruhigt die Brüder, er erklärt, dass diese Nebelwand die gesuchte Insel verbirgt, nach der sie bereits sieben Jahre gesucht haben. Eine Stunde lang harren sie im Nebel aus. Plötzlich durchbricht gleißendes Licht den Nebel, hebt die Schleier… vor ihnen liegt ein weites grünes Land. Die Brüder gehen an Land, laufen begeistert umher. Auf der Insel gibt es keine Nacht, es wird nie dunkel. Die Insel ist wie ein einziger Obstgarten: Überall stehen Obstbäume in voller Frucht – sie sind grünbelaubt, frisch und zart wie im Frühsommer und doch tragen sie üppige gereifte Früchte wie im Herbst. Vierzig Tage lang durchstreifen die Brüder das Land, finden aber kein Ende. Sie stoßen auf einen Fluss, der die Insel mittig durchteilt. Ein junger Mann kommt ihnen entgegen. Ihnen sei nicht gestattet weiter zu gehen, ihre Reise finde an dieser Stelle ihr Ende. Sie sollen nicht traurig sein, denn das Land, das dahinter liegt, sei von Gott vorbereitet worden für die Christen, die nach ihnen kommen werden. Es werde eine Zeit geben, in der die von Gott Geheiligten hier Zuflucht finden werden. Nun aber müsse Brendan zurückkehren, da seine Lebenszeit auf Erden fast verstrichen sei. Er werde schon bald bei seinen Vorvätern schlafen d.h. Brendan wird sterben und an ihrer Seite begraben werden. Brendan und seine Brüder dürfen von der Insel reichlich Früchte und kostbare Edelsteine für den Rückweg mitnehmen.


29. Kapitel

Brendan kehrt zurück in sein Heimatkloster. Die Brüder empfangen ihn jubelnd. Brendan erzählt von all den Wundern, denen sie begegnet sind. Er zeigt auch die Geschenke, die sie zum Beweis mitgebracht haben. Brendan trifft letzte Vorkehrungen für sein Hinscheiden, er regelt den Fortbestand des Klosters, tritt geordnet den Rückzug an – und stirbt friedlich.


Vergleich: Navigatio Sancti Brendani Abbatis vs. Reise-Fassung

lat. Navigatio Sancti Brendani Abbatis mhd. Reise-Fassung
Reise-Motivation Mündlicher Reisebericht von Barinthus (Neffe von Brendan): Barinthus erzählt seinem Onkel Brendan, dass sein Mitbruder Mernoc ihm eine Insel namens ‚Das Land der Verheißung der Heiligen‘ gezeigt hat. Brendan ist sofort Feuer und Flamme, er will besagte Insel mit eigenen Augen sehen. Brandan verbrennt mutwillig ein Buch, dessen Inhalt er für unglaubwürdig hält.

Gott tadelt ihn für sein vorschnelles Handeln: Das Buch habe nichts als die Wahrheit berichtet.

Zur Sühne muss Brandan auf Reisen gehen, all die (nur gelesenen) Abenteuer selbst erleben und das Buch ähnlich einem fortlaufenden Reisetagebuch neu schreiben.

Anzahl der Reisenden Brendan
+ 14 Mitbrüder (2x7)
+ 3 Nachzügler
Brandan
+ 12 Mitbrüder
Bauart des Schiffes leichtes Holzkonstrukt, mit (butter)gefettetem Leder überzogen = Irisches Curragh? ein großes Schiff, dessen Holzkorpus mit eisernen Bändern umgürtet wird (Wortlaut der Erzählung: „nach der Art von Noahs Arche“ [Hahn; Fasbender 2002: S.115])

sogar eine Kapelle findet Platz

im Reisegepäck befinden sich allerhand Reliquien

Dauer der Reise 7 Jahre 9 Jahre
Struktur des Reiseverlaufs Feiertage im Kirchenjahr legen die Zwischenstationen an bestimmten Orten fest = zyklisch

Auffällige Parallelen zur Gattung der peregrinatio / Legende

willkürliche Aneinanderreihung abenteuerlicher Episoden = linear

Auffällige Parallelen zur Gattung der âventiure / höfischer Roman (vgl. auch Alexanderroman)

Zweck der Reise konkretes (lokalisierbares?) Ziel:

‚Die verheißene Insel der Heiligen‘ /
Wortlaut im lateinischen Original: terra repromissionis sanctorum

„symbolische Lebensfahrt zur himmlischen Heimat“ [Haupt 1995: S.323]

Der Weg ist das Ziel

Brandan soll die Wunder Gottes mit eigenen Augen sehen und begreifen lernen = Erkenntnis der Größe Gottes

Die Wunder Gottes sind unbegrenzt in ihrer Anzahl

Die Reise könnte stetig fortgesetzt werden

„Weltoffenheit“ [Haupt 1995: S.323]
unbegrenzte Neugier
Walter Haug: „Hinwendung zur Welt“ [Haupt 1995: S.324]


Begegnung mit dem Monströsen

Welche (potentiellen) Monster tauchen auf?

Navigatio Sancti Brendani Abbatis

Teufel in Jungengestalt
Im 6. Kapitel legen sich die Brüder erschöpft in die Betten, die sie vorgefunden haben. Alle bis auf Brendan schlafen ein. Da sieht Brendan plötzlich einen dunkelhäutigen Jungen vor dem Bett des Bruders auf und ab hüpfen, dem Brendan zuvor ein übles Schicksal vorausgesagt hatte. Brendan erkennt sofort: Die kindsgroße Gestalt sieht zwar menschlich aus, ist aber teuflischer Natur. In Händen schwenkt der schwarze Junge triumphierend eine Kette. Brendan springt aus seinem Bett, fällt auf die Knie und betet inbrünstig um Schutz für seine Brüder. Die ganze Nacht hält er betend Wache.


Riesenschafe
Im 9. Kapitel begegnen die Brüder staunend einer Schafrasse, die eine erstaunliche Größe erreicht: Die Tiere werden größer als Rinder. Sie wundern sich, fragen nach Erklärungen. Ein göttlicher Bote löst das Rätsel: Die Schafe würden nicht gemolken, außerdem sei der Winter so mild, dass die Tiere Tag und Nacht auf den Weiden bleiben könnten, sie könnten ihr Futter also ungestört in Wachstum verwandeln. Die Schafe sind in ihrer Größe zwar ungewöhnlich, aber nicht gefährlich: Sie sind in ihrer Natur sogar sehr rein und schön, sodass Brendan eines von ihnen als Opfertier auswählt.


Riesenfisch ‚Jasconius / Iasconius‘
Im 10. Kapitel verbringen die Brüder die Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag auf einer vermeintlichen Insel. Bereits die Anladung gestaltet sich schwierig, weil das Wasser sehr schnell flach wird und sogar ihr kleines Boot mit kaum Tiefgang aufläuft. Am Ufer gibt es keinen Sand. Auf der gesamten Insel wächst nichts, die Brüder müssen sich mit Treibholz für ihr Lagerfeuer behelfen. Überhaupt ist die vegetationslose Oberfläche karg, rau und sehr felsig. Das Rätsel löst sich, als die ‚Insel‘ sich wellenförmig auf und ab wölbt, wie von brennendem Schmerz gezwickt: Die Brüder stehen auf dem Rücken eines gigantischen Fisches, das Feuer hat seine Haut verbrannt. Brendan erklärt ihnen später, dass dieser Fisch ständig versuche, Kopf und Schwanzflosse zusammenzubringen, es aber nicht schaffe. Daraus ergibt sich wohl eine ringförmige Struktur, die an ein Inselatoll gemahnt, aber keines ist. Der Fisch wird jedoch nicht als gefährlich beschrieben, nach ihrem ersten Schrecken erholen sich die Brüder rasch und sind neugierig, mit was sie es da zu tun hatten. Der Fisch versucht nicht, die Brüder zu verschlingen (vgl. dazu die biblische Erzählung von Jonah im Wal). Die Brüder sitzen sicher in ihrem Boot und schauen dem Riesenfisch nach, der friedlich davonschwimmt. Das Feuer auf seinem Rücken wird zu einem immer kleineren Lichtpunkt, ist aber noch lange zu sehen.
Etymologisch leitet sich der Name des Fisches vom altirischen Substantiv íasc ‚Fisch‘ ab. [Lemma 'íasc']


Geistervögel
Im 11. Kapitel begegnen die Brüder Vögeln mit schneeweißem Gefieder. Sie sitzen dicht an dicht in einer ausladenden Baumkrone, man sieht kaum das Grün der Blätter, vielmehr wirkt es, als wäre der Baum vor lauter rauschendem Gefieder weiß belaubt. Einer der Vögel wird von Gott als Sprecher autorisiert, er kann mit menschlicher Stimme zu Brendan sprechen. Er erklärt, woher sie kommen, wer sie sind und warum sie hier sitzen. Ursprünglich waren sie himmlische Engel. Doch bei Luzifers Fall ergriffen sie für keine Seite Partei: Weder verteidigten sie Gott, noch schlugen sie sich auf die Seite des Teufels. Sie waren nicht Teil der Rebellion, stellten sich aber auch nicht dagegen. Ihr Zaudern, ihre Unentschlossenheit wurde von Gott nicht akzeptiert. Sie wurden mit dem Schmähbegriff ‚neutrale Engel‘ belegt, neutral, weil sie sich in einer nichtssagenden Mitte positionierten, obwohl ihnen Neutralität in einer solchen Grundsatzfrage überhaupt nicht zustand. Zur Strafe mussten sie den Himmel ebenfalls verlassen. Weil ihr Vergehen jedoch nicht dem Luzifers und seiner Anhänger gleichkam, wurden sie vor Höllenpein verschont, und durften in irdischen Kreisen verweilen. Seitdem wandeln sie nun als schützende Geister auf Erden. Sie ziehen durch die Lüfte und das Firmament, sie schweben wachend über allen Ländern. Nur zu Sonn- und Feiertagen wird ihnen gestattet, die Gestalt von weißen Vögeln anzunehmen. Dann können sie wieder dem nachgehen, was ihrer eigentlichen Engelnatur entspricht: Loblieder für ihren Schöpfer singen.


Kampf zweier Seeungeheuer
Im 16. Kapitel befinden sich die Brüder auf hoher See, plötzlich taucht hinter ihrem kleinen Boot ein gigantisches Seeungeheuer auf. Aus seinen Nasenlöchern bläst es schäumende Gischt, es durchschneidet die Wellen in rasender Geschwindigkeit, es macht eindeutig Jagd auf das Boot und seine Insassen. Die Brüder geraten in Panik, in ihrer Hilflosigkeit rufen sie zu Gott. Brendan beruhigt sie, betet. Brendans Gebet wird sofort erhört: Ein zweites Seeungeheuer taucht auf, stürzt sich auf das erste. Ein wilder Kampf entbrennt. Das zweite Seeungeheuer speit Feuer aus seinem Schlund. Brendan erklärt, dass die beiden Tiere anstandslos dem Willen ihres Schöpfers Folge leisten. Gott allein habe sie geschickt, er kenne bereits den Ausgang des Kampfes. Das erste Tier, das Jagd auf das Boot machen wollte, unterliegt. Es wird von seinem Gegner getötet und in drei Teile zerrissen. Das zweite Tier kehrt dorthin zurück, woher es kam. Das erste Tier kämpfet mit der Kraft des Wassers, das zweite Tier mit Feuer.


Riesenvogel
Im 18. Kapitel sind die Brüder wieder auf hoher See unterwegs. Plötzlich kommt ein riesiger Vogel angeflogen. Er will ihnen jedoch nichts Böses, er wurde geschickt, um sie mit dringend benötigter Nahrung zu versorgen. Der Vogel trägt im Schnabel eine Weintraube, deren Beeren groß wie Äpfel sind. Man kann sich vorstellen, wie groß die gesamte Rebe sein muss – und wie groß erst der Vogel, der sie trägt.


Kampf zwischen Greif und Riesenvogel
Im 19. Kapitel schippert das Boot auf offener See, da kommt ein Greif geflogen. Die Erzählung schweigt sich aus, sie geht nicht näher auf äußere Attribute des Greifs ein. Aus anderen Erzählungen lassen sich jedoch Rückschlüsse ziehen: Der Greif ist für gewöhnlich ein mythisches Mischwesen, das Körperteile verschiedener Tierarten in sich vereint. Er hat den Rumpf und Hinterleib eines Löwen, Kopf und Schnabel eines Raubvogels, ebenso die Flügel eines Vogels, während die hinteren Gliedmaßen, dem Löwenleib zugehörig, Löwenpranken sind, so sind die vorderen Gliedmaßen bereits raubvogelartige Klauen. Der Riesenvogel, der zuvor nur als Überringer göttlicher Speisen fungierte, wird plötzlich zum göttlich beauftragten Retter in Not: Er stürzt sich in den Kampf, hackt dem Greif die Augen aus und tötet ihn schließlich. Der tote Greif stürzt unweit vom Boot ins Meer. Der Riesenvogel kehrt dorthin zurück, woher er gekommen war.


Tiefseeungeheuer
Im 21. Kapitel feiern die Brüder das Hochfest ‚Peter und Paul‘ (29. Juni) in ihrem kleinen Boot auf offener See. Plötzlich wird das Meer glasklar, es ist tatsächlich so klar und makellos durchsichtig wie Glas, sodass die Brüder ungehindert bis auf den Meeresgrund blicken können. Unten im Sand liegen zahlreiche Ungeheuer. Die Ungeheuer liegen im Kreis, jedes hat den Kopf am Hinterleib des Vordermanns. Die Brüder kriegen Angst. Sie bitten Brendan, er möge die Messe still abhalten, um die Ungeheuer in der Tiefe nicht aufzuschrecken. Doch Brendan lacht, wüssten sie mittlerweile nicht genug über Gottes schützende Hand, die stets auf ihnen ruhe, sei ihnen im Verlauf der Reise je etwas zugestoßen? Brendan singt bewusst noch lauter. Die Ungeheuer fühlen sich von seiner Singstimme angezogen, schwimmen nach oben und verharren schwebend knapp unter der Wasseroberfläche. Wie gebannt lauschen sie der Messe. Sie kommen dem Boot nicht zu nahe, bedrohen die Brüder nicht. Als Brendan die Messe beendet hat, bricht der Bann: Die Ungeheuer stoben erschrocken auseinander und verschwinden wieder in der Tiefe.


Insel der Höllenschmieden
Im 23. Kapitel taucht vor den Brüdern eine Insel im Meer auf, die nichts Gutes verheißt: Brendan wird unruhig, Gott hat ihn bereits vorgewarnt. Hier haust das Übel. Brendan will sich der Insel auf keinen Fall nähern, doch der Wind steht ungünstig, unnachgiebig treibt er das kleine Boot gen Ufer. Bangend beäugen die Brüder das unbekannte Land. Die Insel ist karg und trostlos, nichts wächst, kein Baum, kein Strauch, nichts als nacktes Gestein. Die Oberfläche ist mit einer rätselhaften Schlackeschicht (Schlacke = poröse, schwammartige Gesteinsmasse, die beim Schmelzen von metallhaltigen Erzen als Abfallprodukt zurückbleibt) überzogen. Ein letztes Indiz gibt endgültig Aufschluss: Die unerträglich laute Geräuschkulisse verrät sich, schon von weitem hören sie den gierigen Sog der Blasebälger, ihr schlundartiges Ansaugen der Luft, ihr donnerdröhnendes Auspressen, die Luft schwirrt vor Vibration, Hammerschläge prasseln in wütendem Stakkato auf Ambossblöcke nieder, die gesamte Insel ist ein gewachsenes Gewirr aus Schmieden. Brendan schlägt das Kreuzzeichen gen alle vier Himmelsrichtungen, er rät auch den Brüdern sich zu wappnen. Einer der Schmiede tritt ins Freie und erspäht argwöhnisch das kleine Boot, das dem Ufer bereits auf eine Entfernung von einem Steinwurf nahegerückt ist. Das Wesen ist menschenähnlich, gleicht einem Mann, ist jedoch sehr stark behaart und am ganzen Körper von Feuer und Ruß geschwärzt. Der Wilde dreht um, geht in die Schmiede, kommt zurück – er hat mit einer Zange ein großes Stück glühende Schlacke aus den Kohlen geholt. Er schleudert den Klumpen ins Meer, zielt auf das Boot, er verfehlt sie nur knapp. Der heißglühende Brocken fällt ins Meer, sofort beginnt das Wasser im kreisrunden Loch zu kochen. Eine heiße Dampfsäule kräuselt sich über der Abwurfstelle empor. Die Brüder geraten in Panik, versuchen entsetzt zu entkommen. Nach und nach kommen die anderen Inselbewohner an den Strand und schließen sich ihrem Vorreiter an: Mit Zangen holen sie glühende Schlackestücke aus den Öfen und werfen sie ins Meer. Sie laufen hin und her, holen stetig Nachschub, sie heizen die Öfen nach, um noch heißere Glut zu erhalten. Die ganze Insel glüht und dampft letztlich wie ein einziger Ofen, das Meer ist durchrissen von kochenden Sprudellöchern. Einen Tag lang peinigen sie die Brüder, treffen aber nie das kleine Boot, Gott hält seine schützende Hand über sie. Die Brüder entkommen schließlich, der beißende Gestank der Insel hängt ihnen noch lange nach.

Die Einordnung dieser Episode gestaltet sich schwierig, es werden verschiedene Deutungsspuren ausgelegt. Die Inselbewohner sind böse, so viel steht fest. Aber worin besteht ihre eigentliche Natur? Welchen Ursprung haben sie? Annäherung ist im ersteren Schritt möglich über die Aussagen, die der Erzähler über die Inselbewohner trifft. In zweiter Linie aber auch über das explizit Ungesagte. Sie werden auf den ersten Blick von den Brüdern als Bewohner der Insel identifiziert, eine Beschreibung, die den Rückschluss erlaubt, dass es sich um stark menschenähnliche (anthropomorphe) Wesen handeln muss. Sie haben Gang und Gestalt eines Menschen. Sie tragen wohl wenig oder keine Kleidung, denn nur so können die Brüder erkennen, dass ihr Leib stark beharrt und von Kohle und Rauch geschwärzt ist. Mit dieser Attribuierung werden sie erstmals negativiert. Es folgt die deutliche Bezeichnung ‚Wilde‘. Ihre Mordabsichten gegenüber fremden Ankömmlingen verdüstert das gezeichnete Bild zunehmend. Die Wilden sind Herr über das Feuer, sie können es mäßigen und aufheizen. Sie durchwühlen das Erdreich nach metallhaltigen Erzen. Sie machen sich das dunkle, unter der Oberfläche liegende Erdreich untertan. Sie sind schlau, der Prozess der Eisenverhüttung erfordert Geschick und Erfahrung. Bis zu diesem Punkt könnte man sie für einen bösen und durchtriebenen Menschschlag halten, doch dann gibt Brendan Auskunft, dass sich er und seine Brüder bereits auf Gebieten des Höllischen befänden – sind die Inselbewohner also doch nicht nur ‚Wilde‘? Sind sie der übersinnlichen Welt zuzuordnen? Sind sie dämonischen Ursprungs? Über ihre Natur kann spekuliert, aber nicht eindeutig geurteilt werden. Fakt bleibt, dass sie wohl als Handlanger des Bösen fungieren, sie arbeiten in den Schmieden der Hölle(n), sie haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.


Vulkaninsel und Dämonen
Im 24. Kapitel stoßen die Brüder auf eine abermals seltsame Insel mitten im Meer: Ein kegelrunder Berg mit pechschwarzen, senkrecht aufragenden Bergflanken, glatt wie Wände, unmöglich zu erklimmen. Die Bergspitze ist eingehüllt in dunkle Wolken, schwarzrußenden Rauch und heißgiftige Dämpfe. Der moderne Leser wird in der Beschreibung einen Vulkan erkennen, die Brüder jedoch erkennen dies nicht, die Erscheinung ist ihnen völlig fremdartig. Das dieser Ort vom Bösen heimgesucht wird, wird noch deutlicher, als ein grausiger Wind wie aus dem Nichts aufkommt: Er reißt das Boot an sich, treibt es in rasender Geschwindigkeit auf die Insel zu, die Brüder sind völlig hilflos, sie haben dieser Gewalt nichts entgegenzusetzen. Sie wären an den Steilklippen zerschellt, wäre nicht doch ein schwer erkennbarer Sandstrand rings um die Insel, nur knapp unter der Wasseroberfläche gewesen: das kleine Boot läuft auf. Nur einer verlässt das Boot, es ist einer der drei Brüder, die zu Beginn der Reise nachgelaufen kamen und als Nachzügler um Mitnahme ersuchten. Er geht im Sand umher, kommt bis ans Ufer. Plötzlich schreit er, ruft panisch um Hilfe, er werde (von unsichtbaren Kräften?) fortgerissen, er könne sich nicht dagegen wehren. Die prompte Reaktion der Brüder macht stutzig: Keiner von ihnen vergeudet auch nur einen einzigen Gedanken daran, den Bruder in Not zu retten. Sie springen panisch ins Wasser, schieben das festgefahrene Boot mit vereinten Kräften zurück in tiefere Gefilde, sie versuchen ihre eigene Haut zu retten. Brendan schreitet nicht ein, er weiß, warum der gefallene Bruder auf der Insel bleiben muss. Vom Boot aus beobachten sie, was geschieht: Plötzlich können auch sie die üblen Wesen sehen, die den Bruder am Strand gepackt haben, eine ganze Meute übler Dämonen ist gierig über ihn hergefallen, sie schleppen ihn fort zur Folter. Erst jetzt erklärt sich Brendan, bricht sein Schweigen: Er könne dem Bruder nicht helfen, denn der Bruder ernte, was er gesät habe. Sein Herz und seine Taten seien bereits schon länger dem Bösen verfallen, sein Weg sei schon vor Reiseanbruch vorgezeichnet gewesen. Nun kommt es, wie es kommen musste: Sein schreckliches Ende sei seinem Leben und seinen Taten würdig. Die Brüder blicken ein letztes Mal zurück: Der Rauch um die Bergspitze hat sich aufgelöst, die Luft hat sich geklärt, die Sicht ist nicht länger getrübt. Der Berg spuckt rotglühende Feuer bis in die obersten Sphären des Himmels, die Feuer fallen zurück auf den Berg, bis hinunter ins Meer, der ganze Berg ächzt und glüht und stöhnt wie ein knackender Scheiterhaufen.


Judas auf dem Felsen – in den Fängen von Leviathan und seinen Dämonen
Im 25. Kapitel sehen die Brüder zu, dass sie großen Abstand zur Vulkaninsel und deren Dämonen gewinnen: Sie fahren sieben Tage lang strikt gen Süden. Ihr Trick funktioniert nicht, sie geraten abermals in dämonische Gefilde. Auf einem Felsen mitten im Meer sitzt eine menschenähnliche Gestalt. Vor dem Felsen steckt eine Eisengabel, in deren Mitte ein hässlicher Stofffetzen flattert. Die Brüder kommen näher, stellen fest, dass es sich tatsächlich um einen Mann handelt. Der Man wird als schrecklich hässlich und ungepflegt beschrieben – ein entsprechendes Bild muss sich der Leser selbstredend rekonstruieren, in mittelalterlicher Literatur fungieren die beiden Adjektive jedoch meist als eindeutige Signalwörter, sie umschreiben verhärmte, abgemagert-gekrümmte Körper, Haupt- und Barthaar ungeschnitten, daher viel zu lang, zottelig bis völlig verfilzt, ungeschnittene Fuß- und Fingernägel, kaum bis überhaupt nicht bekleidet, die Haut aufgrund fehlender Kleidung wund und schorfig… (vgl. 'Gregorius') Das Meer ist eine einzige aufgepeitschte Masse, mit der Brachialgewalt von Mauerwerk stürzt es auf den gebrochenen Körper des Mannes nieder. Mit jeder neuen Welle schlägt ihm der nasse Fetzen ins Gesicht, weht zurück, prallt auf… Der Mann muss unglaubliche Schmerzen ertragen, so jedenfalls sehen es die Brüder. Sie haben Mitleid. Der Mann gibt sich als Judas zu erkennen – der Jünger, der einst Jesus im Garten Gethsemane durch einen Kuss an seine Häscher verriet. Diese Information wendet das Blatt, allen Beteiligten wird schlagartig bewusst, dass dieser Mann Strafe verdient hat. Aber so eine? Judas gibt weiter Auskunft. Eigentlich schmorrt er im Höllenfeuer, er ist Gefangener von Leviathan und seinen dämonischen Genossen, er wird von ihnen täglich gefoltert. Sein Schicksal teilt er mit Herodes Antipas (Auftragsgeber für den Kindsmord in Betlehem und den Mord an Johannes dem Täufer), Pontius Pilatus (er verurteilte Jesus letztgültig zum Kreuzestod) sowie Hannas und Kaiphas (Hohe Priester, die den Mordkomplott gegen Jesus schürten). Die Erzählung bietet hier gewissermaßen eine ‚Best-of‘-Liste biblischer Bösewichte. Die schlimmsten Verbrecher werden in die Gewalt Leviathans gegeben. Wer ist Leviathan?

Der Name Leviathan ist etymologisch herleitbar von hebräisch liwjatan, ‚das Gewundene‘. Die Figur Leviathan wird universalisiert gebraucht, sie bezeichnet ein Ungeheuer des Wassers, meist sogar das Urmonster schlechthin, je nach Quelle haust es in salzigem Meerwasser, oder aber auch in Süßgewässern. Sein Körper ist lang und gewunden, je nach Quelle treten weitere Merkmale hinzu, die unterschiedlich Akzentuierungen setzen: Mal ist es eine Schlange, an anderer Stelle dem Drachen oder Krokodil ähnlicher. Seinen mythologischen Ursprung nimmt die Figur im altorientalisch-mesopotamischen Schöpfungsmythos: Am Anfang der Welt steht das entfesselte Chaos, verkörpert durch das weibliche Meeresungeheuer Tiamat. Sie ist rachedurstig, giert nach Blut und Vergeltung, sie erschafft elf Dämonen, die sie in den Krieg gegen ihre eigenen Kindeskinder hetzt, alles will sie verschlingen, gnadenlos wühlt sie die Salzwasser auf, sie stiftet Chaos und Verwüstung. Das Chaos muss überwunden werden, Tiamat muss sterben! Ihr Tod versinnbildlicht die erste Etablierung von Ordnung. Ihr toter Leib wird entzweigebrochen, aus je einer Hälfte werden Himmel und Erde geschaffen. Auch der biblische Leviathan ist nach diesem Muster gestrickt: Er verkörpert das Chaos – und Chaos ist der ärgste Urfeind Gottes. Diese Urschlange ist „eine latente Bedrohung der Weltordnung […] da sie jederzeit durch einen Fluch (das »Aufwecken«) virulent werden kann.“ [Polke 2005: S. 331]

Judas Strafe sieht folgendermaßen aus: Tag und Nacht muss er in einem Topf wie ein flüssiger Klumpen Blei kochen. Nur an Sonn- und Feiertagen darf er auf dem Felsen im Meer sitzen und sich von der Brandung abkühlen lassen. Judas erklärt, dass der verlorene Bruder, der von Dämonen auf der Vulkaninsel verschleppt wurde, zu Leviathan gebracht wurde. Judas habe selbst mitansehen müssen, wie der Bruder von Leviathan verschlungen worden sei. Immer wenn Leviathan die Seelen der Unglückseligen verschlinge, spucke der Berg glühende Feuer, das sei das untrügliche Zeichen.


Literarische Funktion des Monströsen

Navigatio Sancti Brendani Abbatis

In der Begegnung mit dem Monströsen erweist sich Brendan wiederholt als absolut gottvertrauend: Er hat keine Angst, fürchtet weder Tod noch Teufel, er vertraut auf Gott, er weiß sich sicher in Gottes Hand. Dieses unerschütterliche Vertrauen trägt Brendan schon vor dem eigentlichen Reiseaufbruch in sich: Als die erste Gefahr auftaucht, bleibt Brendan ruhig, spricht beruhigende Worte für seine Mitbrüder, macht ihnen Mut, er ist ihr Fels in der Brandung. Brendan braucht nicht erst den kontinuierlichen Lernprozess, die stetige Konfrontation mit der Bedrohung, um (selbst)sicherer zu werden – Brendan schöpft von Anfang an aus der Kraft Gottes. Seinen Mitbrüdern gelingt dies jedoch nicht. Immer wieder verzweifeln sie aufs Neue, bei jeder neuen Gefahr geraten sie erneut in kopflose Panik. Auch hier beweist Brendan Größe: Er verurteilt seine Brüder nicht, er zeigt Verständnis, bleibt geduldig, erklärt ihnen immer und immer wieder, dass sie sich auf Gott verlassen dürfen, dass sie nur Mut haben sollen, Gott rückhaltlos zu vertrauen. Brendan verhält sich vorbildlich, er verkörpert das absolute Ideal eines Abtes, der mit seiner eigenen Stärke im Glauben die Schwäche der anderen mitträgt, der seine Brüder hindurchträgt und sie Schritt für Schritt im eigenen Glauben stärkt. Brendan ist durch und durch Vater im Geiste. Die Begegnung mit dem Monströsen fungiert als Marker für Brendans geistliche Reinheit, für seine Größe im Glauben, die unerschütterlich ist und bleibt.


mhd. Reise-Fassung

Während die frühmittelalterliche Navigatio ein klar geordnetes Weltbild voraussetzt, dieses auch selbst abbildet und dadurch erneut rekursiv festigt, ist der Erzählraum der hochmittelalterlicheren Reise-Fassung bereits ein gewandelter: Brandan ist nicht mehr der unfehlbare Abt, geistlicher Vater, Heiliger, ein Mann der in der Stärke seines Glaubens ruht – Brandan ist zum Zweifelnden geworden. Er ist getrieben von ungestillter Neugier, vom Druck offengebliebener Fragen, auf die er keine Antwort weiß. Die Absolutheit, die Zielstrebigkeit der Erzählung wird plötzlich aufgebrochen, plötzlich präsentiert sie sich im Gewand einer abenteuerlichen Wahrheitssuche. Diese Wahrheitssuche beginnt zunächst so, wie es das mittelalterliche Publikum von einem erschöpfend ausgebildeten Intellektuellen erwartet: Brandan wendet sich an die Bücher, stürzt sich in die ihm altbekannte Welt, er hofft zu finden, was er sucht, die Bücher haben schon immer Antwort auf sämtliche Fragen gegeben. Doch was Brandan dort zu lesen findet, empört ihn. Er kann nicht glauben, was da geschrieben steht, diese Monstrositäten kann es auf dieser Erde nicht geben. Das muss ein Irrtum sein! In seiner Wut verbrennt er das Buch, dessen Inhalt er für absolut lügnerisch und unglaubwürdig hält. Haupt sieht in diesem Motiv einen medialen Schlüsselmoment: Zunächst geht Brandan vor, wie man schon immer vorgegangen ist, er widmet sich der Welt der Bücher, im Buchwissen erhofft er sich Klarheit und Vernunft, er findet aber das genaue (vermeintliche?) Gegenteil. Das tradierte Wissen mutet unglaubwürdig an, Brandan wird skeptisch, meldet (berechtigt?) Zweifel an. Haupt sieht hierin bereits erste Indizien für den aufkommenden Rationalismus des 12. Jahrhunderts: Überliefertes Wissen wird nicht mehr allein durch sein Alter geschützt, es gibt gewissermaßen keine altersbedingte Sperrklausel mehr, plötzlich darf alles hinterfragt und neu aufgerollt werden. Während seiner Reise begegnet Brandan den sonderbaren Phänomenen aus den Büchern persönlich und muss feststellen, dass die Bücher die Wahrheit gesprochen haben. Das Buchwissen wird (zu seinem eigenen Erstaunen) in seinem Wahrheitsgehalt außerordentlich bekräftigt. [Haupt 1995: S. 324] Laut Haupt zeigt sich eine klare Positionierung im Spannungsfeld zwischen Literalität und Oralität: Das zunächst unsicher erscheinende Schrift-Wissen wird durch erlebtes Wissen, das unter Zuhilfenahme der menschlichen Sinnesorgane (Sehen, Hören, Sprechen/ Erzählen/ Weitersagen) gewonnen wurde, bestätigt. [Haupt 1995: S. 329]

Brandan wird vollumfänglich seiner Schranken verwiesen: In der Begegnung mit dem Monströsen muss Brandan feststellen, dass Hochmut vor dem Fall kommt. Ihm steht es nicht zu, zu urteilen, welches Wissen als glaubwürdig oder unglaubwürdig zu gelten hat. Brandan ist nicht allwissend, allein Gott weiß alles. Gott schickt ihn zur Läuterung auf Reise und auch dann begegnet Brandan nur den Monstern, die Gott zu ihm schickt. Eins um andere reiht sich Begegnung an Begegnung, aber es ist stets Gott, der Brandan sehen und staunen lässt. Die Begegnungen mit Monstern, die sich in kleinen Episoden abspielen, könnten endlos fortgesetzt werden – auch hier zeigt sich Gottes Größe, die Anzahl seiner Wunder ist unbegrenzt, kein Mensch, auch Brandan nicht, hätte genug an Lebenszeit um sie alle zu schauen (vgl. Alexanderroman).


Topologie: Verortung im Raum

Die Insel als jenseitiger Zwischenraum

Eine Erzählung durchläuft unterschiedliche Räume. Räume, durch die sich die Figuren nach bestimmten Mustern bewegen. Aber nicht nur Bewegungsabläufe folgen bestimmten Regeln, auch die Anordnung der Räume untereinander ist strukturiert. Eine der wichtigsten Distinktionen mittelalterlichen Erzählens ist die Unterscheidung in Räume der Immanenz und Räume der Transzendenz. Der Bereich des Immanenten ist die Welt des Menschen. Sie ist ihm uneingeschränkt zugänglich, nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit dem Verstand. Der Mensch kann sich die immanente Welt begreiflich machen. Er durchdringt sie. Er beherrscht sie. Der Bereich des Transzendenten hingehen zeichnet sich gerade durch seine Unzulänglichkeit aus. Er entzieht sich, ist unbegreiflich, dem Menschen unzugänglich. Transzendenz und Immanenz sind jedoch nicht unüberbrückbar voneinander getrennt – dazwischen liegen zahlreiche Räume des Übergangs, Räume der Begegnung, der beidseitigen Annäherung, sogenannte ‚Zwischenräume‘, die nur bei bestimmten Konstellationen (passgenaues Ineinandergreifen von Raum und Zeit) und nur von bestimmten Figuren betreten werden können. Auch in der Brendan-Erzählung gibt es diese Art des Zwischenraums, hier manifestiert er sich in Form einer Insel bzw. mehrere Inseln fungieren als Zwischenräume. Jede dieser Inseln hat ihre ganz eigenen Regulationsmechanismen, durch die das narratologische Geschehen beeinflusst wird. [Weidner 2020]

Pluralisierung von Himmel, Hölle und Paradies

Strijbosch konzentriert sich in ihrer Analyse auf die mhd. ‚Reise‘-Fassung des Brandan – ein „mutmaßlich um 1150 im Rheinland“ [Strijbosch 1999: S. 50] entstandener Text. Dieser ursprüngliche Text des 12. Jahrhunderts ist verlorengegangen. Erhalten geblieben ist die Erzählung „in zwei späteren mnd. gereimten Fassungen, C und H, zwei gereimten dt. Fassungen M und N und der deutschen Prosa-Fassung P.“ [Strijbosch 1999: S. 51]

Als Grundlage dient die genaue Ausdifferenzierung der topologischen Größe ‚Jenseitsraum‘: Im mittelalterlichen Denken endet nicht alles mit dem Tod, der mittelalterliche Mensch lebt im christlichen Urvertrauen auf ein Weiterleben nach dem Tod, ein ewiges Leben in Verdammnis oder göttlicher Nähe. Die beiden potentiellen Orte, die auf den Menschen nach seinem Ableben warten, sind Himmel (für die Glaubenden bzw. Erretteten) und Hölle (für die Sünder). Das Paradies stellt im strengen Sinne also keinen Jenseitsort dar, es ist kein Ort, der für das Nachleben irdisch Verstorbener bestimmt ist. Der Paradiesgarten ist der biblische Ursprung der Menschheit, hier nimmt alles seinen Anfang – im jenseitigen Raum wartet das Ende. Das Paradies bleibt jedoch ein ambivalenter Raum: War es zu Beginn dem Menschen noch zugänglich, wird es nach dem Sündenfall der immanenten Welt entrückt. Der Zugang ist versperrt, er wird von Engeln bewacht. Der irdische Garten ist nicht länger irdisch, er wird zum transzendenten Raum, den der Mensch nicht mehr betreten darf. Vor diesem Hintergrund muss auch das Paradies als potentieller Jenseitsraum verhandelt werden. [Strijbosch 1999: S. 50-51]

Die Reise-Fassung setzt sich zusammen aus einer Rahmenhandlung, der Exposition, und einer Binnenerzählung. In der Exposition erfahren wir, dass Brandan beim Durchstöbern alter Bücher auf ein besonders kurioses Exemplar stößt, er ist gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen, das, was er liest, klingt so unglaubwürdig, dass er das Buch entsetzt verbrennt. Was hat Brandan da nur gelesen? In dem Buch hat er Erzählungen von ‚zwei Paradiesen‘ und ‚drei Himmeln‘ vorgefunden. Es folgt die eigentliche Binnenerzählung: Brandan wird von Gott losgeschickt, reumütig soll er auf Reise gehen und die Wunder des Buches, das er verbrannt hat, mit eigenen Augen sehen. Doch die anschließende Binnenerzählung hat die Forschung vor große Herausforderungen gestellt – wo nur stecken sie also, diese ‚zwei Paradiese‘ und ‚drei Himmel‘? Eine sichere Zuordnung schien nicht nur erschwert, sondern nahezu unmöglich. Es wurde eine deutliche Diskrepanz zwischen Exposition und Binnenerzählung attestiert. Dem Erzähler sei hier eine Weiterführung in logischer Konsequenz offensichtlich misslungen. Die Binnenerzählung halte nicht, was die Exposition versprochen habe. Strijbosch hält nun ihre eigene Analyse dagegen und meint, dass durchaus eine Kongruenz von Exposition und Binnenerzählung zu erkennen sei. [Strijbosch 1999: S. 51-52]


Ihre Zuordnung sieht folgendermaßen aus:


Erstes Paradies / 2 Paradiesburgen
Das Erste Paradies befindet sich auf der ‚lichtlosen Insel‘ und splittet sich in zwei Burgen, denen jeweils eine eigene Episode gewidmet ist.

In der ersten Episode kommen Brandan und seine Gefährten auf eine Insel, die so finster und lichtlos ist, dass sie weder den Himmel sehen, noch die Himmelsrichtungen identifizieren können. Orientierung ist auf dieser Insel nicht möglich. Der Boden der Insel ist reines Gold und grün, in seinen Tiefen glitzern blaue, weiße und andersfarbige Edelsteine. Sie irren auf der Insel herum, bis sie einen Saal erreichen. Die Saalwände sind aus Gold, die Säulen aus rotem Karfunkel, das Dach aus Pfauenfedern. Der Saal ist lichtdurchflutet, die einzige Lichtquelle auf der Insel. Vor dem Saal entspringt ein Brunnen mit vier Abflüssen: Aus ihnen fließen Wein, Milch, Öl und Honig. Aus diesem Saal stielt einer der Brüder ein kupferbeschlagenes Pferdezaumzeug. Die Darstellung dieser Episode deckt sich mit der biblischen Beschreibung des Garten Eden im Buch Genesis (Gen. 2,8-12)[Strijbosch 1999: S. 53] – die vier Brunnen-Abflüsse entsprechen den vier Paradiesflüssen Pischon, Gihon, Eufrat und Tigris. Im Mittelalter glaubten viele (u.a. der Kirchvater Augustinus), dass dieser Garten nicht ausschließlich im übertragenen Sinn zu verstehen sei, sondern tatsächlich existiert haben musste. Es entbrannte die Diskussion, ob der Garten von der Sintflut zerstört worden war oder nicht. Die meisten Gelehrten war sich jedoch einig, dass der Garten überlebt hatte. Man vermutete, dass er sich auf einem hohen Berg irgendwo im Osten befand und daher von der Sintflut unbehelligt die Zeit überdauerte. In logischer Konsequenz war der mittelalterliche Mensch überzeugt, dass es möglich sei, dieses irdische Paradies wiederzuentdecken. [Strijbosch 1999: S. 54]

In der zweiten Episode ziehen die Gefährten auf der lichtlosen Insel weiter und stoßen auf eine zweite, noch viel feinere und schönere Burg als die Vorherige. Auch diese Burg strahlt lichtdurchflutet, ihr Inneres kennt keine Heimsuchung durch die Jahreszeiten, hier herrscht immer sonnenwarmer Frühling, nie gibt es Frost, Schnee, Hagel oder Sturm. Vor ihren Toren sitzen Enoch und Elias und ein junger Mann mit einem flammenden Schwert - sie kontrollieren Ein- und Ausgang, sie halten Wache. Die Stadtmauern sind undenkbar hoch und für einen Menschen nicht zu überwinden. Die Darstellung dieser Episode deckt sich mit der biblischen Darstellung des himmlischen Jerusalem. In der Offenbarung (Off. 21,11-27) [Strijbosch 1999: S. 54] heißt es, dass Gott ein neues Jerusalem schaffen wird, darin wird er jedem Glaubenden ein Haus bereiten, in dem er auf alle Zeit wohnen darf.

Das himmlische Jerusalem der Offenbarung weist aber auch zahlreiche Eigenschaften auf, die mehr auf die erste Burg der lichtlosen Insel zutreffen:

10 Da entrückte er mich im Geist auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, 11 erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis. 12 Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. 13 Im Osten hat die Stadt drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore. 14 Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. 15 Und der Engel, der zu mir sprach, hatte einen goldenen Messstab, um die Stadt, ihre Tore und ihre Mauer zu messen. 16 Die Stadt war viereckig angelegt und ebenso lang wie breit. Er maß die Stadt mit dem Messstab; ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich: zwölftausend Stadien. 17 Und er maß ihre Mauer; sie ist hundertvierundvierzig Ellen hoch nach Menschenmaß, das der Engel benutzt hatte. 18 Ihre Mauer ist aus Jaspis gebaut und die Stadt ist aus reinem Gold, wie aus reinem Glas. 19 Die Grundsteine der Stadtmauer sind mit edlen Steinen aller Art geschmückt; der erste Grundstein ist ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon, der vierte ein Smaragd, 20 der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sardion, der siebte ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyazinth, der zwölfte ein Amethyst. 21 Die zwölf Tore sind zwölf Perlen; jedes der Tore besteht aus einer einzigen Perle. Die Straße der Stadt ist aus reinem Gold, wie aus klarem Glas. 22 Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm. 23 Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. 24 Die Völker werden in diesem Licht einhergehen und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen. 25 Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen - Nacht wird es dort nicht mehr geben. 26 Und man wird die Pracht und die Kostbarkeiten der Völker in die Stadt bringen. 27 Aber nichts Unreines wird hineinkommen, keiner, der Gräuel verübt und lügt. Nur die im Lebensbuch des Lammes eingetragen sind, werden eingelassen. [Einheitsübersetzung 2016]


Zweites Paradies / Engelparadies
Im weiteren Verlauf der Erzählung kommt es auf einer anderen Insel zu einem Aufeinandertreffen der Brüder und sonderbaren „Mischwesen mit Schweinsköpfen, Hundepfoten, Kranichhälsen, gekleidet in seidene Gewänder.“ [Strijbosch 1999: S. 58] Bei den auf den ersten Blick doch furchteinflößenden Gestalten handelt es sich um sogenannte ‚neutrale‘ Engel. Das Wort ‚neutral‘ wird dabei keineswegs neutral gebraucht, es ist als deutliche Schmähung zu verstehen. Die neutralen Engel sind zutiefst negativiert. Ihr Ursprung hängt mit Luzifers Sturz zusammen: Den neutralen Engeln erschien es unmöglich Partei zu ergreifen, sie blieben gleichgültig, sie schlugen sich weder auf die Seite Gottes noch auf die Seite Luzifers. Als Zaudernde, Unentschlossene, gar völlig Teilnahmslose verurteilte Gott sie ebenfalls, denn es gilt der Grundsatz ‚Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich‘ (Matthäus 12, 30). Die Engel stürzten mit Luzifer in die Tiefe. Sie mussten den Himmel verlassen. Da ihr Vergehen jedoch nicht gleichsam schwer wog wie das Luzifers und seiner Anhänger, mussten sie nicht noch tiefer absteigen. Die neutralen Engel durften auf der Zwischenstation Erde verweilen, die Hölle blieb ihnen erspart. In der Erzählung besitzen auch die neutralen Engel eine herrliche Burg. Die Burg besteht aus Kristall. In die Mauern sind Edelsteine, Gold, Kupfer, Erze und Erde eingearbeitet. Die Mauern sind eine optische Täuschung: Ihr Material ist derart kunstvoll-plastisch modelliert, dass es den Anschein macht, als würden lebende Tiere und Menschen daraus entspringen. In der kristallenen Burg gibt es 700 Türen und zahllose Säle, in denen herrliche Betten gerichtet sind.


drei Himmel
Bei den ‚drei Himmeln‘ liegen wortbedingte Unsicherheiten vor: Was genau hat der Autor gemeint? In der Bibel gibt es nur einen einzigen möglichen Hinweis: Paulus schreibt in seinem zweiten Brief an die Korinther von einem tercium celum, also einem dritten Himmel, den er in einer Vision schauen durfte. [Strijbosch 1999: S. 56] Mehr sagt die Bibel dazu nicht. Aristoteles entwirft ein astronomisches Modell, in dem er sieben Gewölbe des Himmels beschreibt. Auch der apokryphe (d.h. nicht dem biblischen Kanon zugehörige) Text ‚Testament der 12 Patriarchen‘ spricht von sieben Himmeln: Im Testament Levis, 3. Kapitel schildert Levi zwei Träume, in denen er die sieben Himmel durchwandert. Es bleibt also unklar, ob der ‚Reise‘-Autor den paulinischen tercium celum mit ‚drei Himmel‘ übersetzte – oder ob er sich auf andere Stufenmodelle des Himmels, auf weitere Himmelssphären bezog.

In der Binnenerzählung identifiziert Strijbosch Brandans Vision der Engelschöre in der unzerstörbaren Kirche als Manifestation der ‚drei Himmel‘. Brandan erlebt den Ort nur in einer Art Traumgesicht, das ihm von Gott geschenkt wird. Er darf diesen Ort also nicht mit dem eigenen Körper betreten. [Strijbosch 1999: S. 55-56]


Erste Hölle / Höllensee
Die Erste Hölle ist der sogenannte ‚Höllensee‘. Seelen wandeln auf dem See, sie wirken wie umherlaufende Menschen. Es ist schrecklich heiß. Durch ihr stetiges, zielloses Umherirren werden sie unerträglich durstig, dürfen das Wasser unter ihnen jedoch nicht trinken. Es sind die Seelen derer, die im Leben kein Mitleid mit Armen kannten. Doch Brandan zeigt Größe, sein Mitgefühl erstreckt sich auch auf diese Sünder. Er wendet sich im Gebet an Gott, hält mitleidend Fürbitte. Gott gewährt Nachsicht: Jede der gequälten Seelen darf einen Schluck Wasser nehmen und sich mit der hohlen Hand einmalig den Kopf mit Wasser übergießen. Bei dem Höllensee handelt es sich um eine ‚Obere Hölle‘ d.h. ein auf der Erdoberfläche befindlicher Höllenort. [Strijbosch 1999: S. 62]


Zweite Hölle
Die zweite Hölle ist das Innere eines nebelverhüllten feurig-glühenden Berges. Hier werden die Seelen ungerechter Richter gequält. Für sie gibt es jedoch keine Gnade. Kein Gebet könnte ihnen Erleichterung verschaffen. Die Erzählung nennt den Ort explizit ‚Fegefeuer‘. Bei diesem Ort handelt es sich um eine ‚Untere Hölle‘ d.h. ein unter der Erdoberfläche befindlicher Höllenort. [Strijbosch 1999: S. 63]


Bibliographie (eine Auswahl)

  • Bockmann, Jörn: Judas und St. Brandan. Der Sünder, der Heilige und die Sabbatruhe von den Höllenqualen, in: Das Böse, der Teufel und Dämonen, hg. von Jan Dochhorn, Susanne Rudnig-Zelt und Benjamin Wold, Tübingen 2016 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. Reihe 2 / 412), S. 207-241.
  • Ebermeier, Verena: Die Insel als Kosmos und Anthropos. Dimensionen literarischer Rauminszenierungen am Beispiel des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg und der Heiligenlegende Navigatio Sancti Brendani Abbatis, Berlin 2019.
  • Friedrich, Udo: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung, hg. von. Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft, Berlin 2013, S. 267ff.
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  • Holtzhauer, Sebastian: Naufragentes in hoc mari. Zur Symbolik des Wassers in Berichten über die Seereise des Hl. Brandan, in: Wasser in der mittelalterlichen Kultur, Gebrauch - Wahrnehmung – Symbolik, hg. von Gerlinde Huber-Rebenich, Christian Rohr und Michael Stolz, Berlin 2017 (Das Mittelalter, Beihefte 4), S. 406-418.
  • Holtzhauer, Sebastian: Retextualisation through Contextualisation. The German 'Reise' ('Voyage of St Brendan') and the 'Purgatory Narrative' in the Codex Palatinus Germanicus 60 of the University Library Heidelberg, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 78 (2018) S. 46-74.
  • Holtzhauer, Sebastian: Neue Ansätze zur Untersuchung des Brandan-Corpus, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte 2 Heft 1 (2019) S. 6-11.
  • Holtzhauer, Sebastian: Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum. Untersuchungen ausgewählter Retextualisierungen des Brandan-Corpus von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert, mit einer Edition der Münchener Prosafassung der Reise des hl. Brandan (Pm), Göttingen 2019.
  • Strijbosch, Clara: Himmel, Höllen und Paradiese in Brandans Reise, in: Zeitschrift für deutsche Philologie / ZfdPh 118 Heft 1 (1999), S. 50-68.
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  • Strijbosch, Clara: Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 Heft 4 (2004), S. 524-529.
  • Strijbosch, Clara: Between Angel and Beast: Brendan, Herzog Ernst and the World of the Twelfth Century, in: The Brendan Legend. Texts and Versions, hg. von Glyn Sheridan Burgess und Clara Strijbosch, Leiden/Boston 2006, S. 265-280.
  • Strijbosch, Clara; Burgess, Glyn Sheridan: The Brendan Legend. Texts and Versions, Leiden/Boston 2006.
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  • Trînca, Beatrice: Brandans Buch der Welt – eine konkretisierte Metapher, in: Spatial Metaphors. Ancient Texts and Transformations, hg. von Fabian Horn und Cilliers Breytenbach, Berlin 2016 (Berlin Studies of the Ancient World 39), S. 205-219.

Lexika-Einträge:

  • Fasbender, Christoph: Art. Sankt Brandans Reise, Deutsches Literatur-Lexikon – Das Mittelalter 3, Berlin 2012, S. 190-193.


Literaturverzeichnis

Textausgaben und Quellen

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  • [*Jacobsen 2001] Jacobsen, Peter Christian: Navigatio Sancti Brendani, 9./10. Jahrhundert, Übersetzung nach der Edition von Carl Selmer 1959, zweite Auflage, Neustadt an der Aisch 2001.

Forschungsliteratur

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  • [*Einheitsübersetzung 2016] Bibel, Einheitsübersetzung 2016, https://www.bibleserver.com/EU/Offenbarung21%2C11-27, abgerufen am 05.04.2021.
  • [*Weidner 2020] Weidner, Katja: Erzählen im Zwischenraum. Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 99 / Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 333), Berlin/Boston 2020.