Die Urinepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)

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Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst zeugt von großer Bedeutung, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Wie der Titel dieses Artikels zeigt, verrichtet jemand in der Episode seine Notdurft auf Ulrich[1]. Die Folgen sind, über die Erniedrigung hinaus, für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend. Aus der Urinepisode resultiert durch Ulrichs Ablegen von Kleidung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, der Verlust seiner Identität. Die Episode und ihre anschließenden Folgen werden kurz in den Zusammenhang der histoire eingeordnet und anschließend interpretiert.

Einordnung in den Gesamtzusammenhang

Vorgeschichte

Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker verkleidet zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden (FD, 1114). Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken, um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich der Burg am Tag nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame gezogen werden (FD, 1184f.).

Die Urinepisode

Die Episode besteht aus den Versen 1188-1190:

Mittelhochdeutscher Text[2]

Neuhochdeutsche Übersetzung[3]

1188 Als tet ouch der geselle min,
wir muosten da vil stille sin.
do wir verholn lagen hie,
der husschaffer selbe sibent gie
umbe die burc her und dar;
er nam vil vliziclichen war,
ob iemen dar waer verholn chomen,
des wart von im wol war genomen.

So tat es auch mein lieber Freund,
wir mußten nun sehr stille sein.
Als wir versteckt so lagen dort,
da ging der Hausverwalter und
sechs Männer um die Burg herum;
er hatte eifrig nachzuseh'n,
ob jemand heimlich kommen wär'.
das nahm er dann auch sicher wahr.

1189 Do er ez hier und dort gesach,
nu horet, waz mir dort geschach:
ez gie der ungemuote man
von sinen gesellen zuo mir stan
und tet sin unzuht da uf mich,
so daz da von gar naz wart ich;
des getorst ich im geweren niht,
daz was ein wunderlich geschiht.

Als er so hin- und hergespäht,
nun hört, was mir nun dort geschah:
Es kam der wiederwärtige Mann,
er stand gerade über mir
und schlug auf mich sein Wasser ab,
und ich war danach ganz durchnäßt;
ich traute mich nicht wehren dort,
die Sache war recht seltsam doch.

1190 Da mit er in die burc sa gie.
so saz ich also nazzer hie,
daz was mir leit und ungemach;
uz der lin daz lieht ich sach
liuhten: do stuont ich zehant
uf und zoch abe min gewant,
daz boese, daz ich durch heln truoc,
daz barg ich snellich genuoc.

Dann ging er in die Burg hinein.
So saß ich nun ganz naß herum,
ganz elend war's und unbequem;
ich sah das Licht im Fenster bald:
Da stand ich auf so schnell ich konnt'
und zog die Bettlerkleider aus,
das ich zur Täuschung hier nun trug,
und ich versteckte sie sofort.

Anschließende Ereignisse

Nach einigen Schwierigkeiten gelangen Ulrich und seine Begleitung in die Räumlichkeiten der Dame, wo ihm zunächst neue Kleidung gereicht wird. Es kommt zu einer Unterhaltung zwischen Ulrich und der Dame, allerdings nicht in einer intimen Atmosphäre, sondern immer umgeben von anderen Frauen. Die Dame macht zudem alle Hoffnungen Ulrichs auf körperliche Nähe zunichte. Als verheiratete Frau will sie ihr Ansehen und ihre Ehre schützen und schließt deshalb ein körperliches Verhältnis zu Ulrich kategorisch aus (FD, 1210f.). Obwohl sie ihm versichert, dass bereits seine bloße Anwesenheit in ihrem Gemach ein Ausdruck ihrer Wertschätzung sei, ist Ulrich sehr enttäuscht von diesem Zusammentreffen und wird im Anschluss von Selbstmordgedanken heimgesucht. Der Besuch Ulrichs in der Burg endet mit seinem Absturz aus dem Fenster, da er die Hand der Herrin loslässt, um sie zu küssen. (FD, 1269)

Interpretation

Erniedrigung im Moment

Es lassen sich drei verschiedene Formen von Erniedrigung feststellen: Zum einen ist es die Tatsache, dass Ulrich durch die Exkremente eines anderen beschmutzt wird, was wohl eine der höchsten Formen von Erniedrigung ist. Da der Leser sich die Szene imaginativ vorstellen kann und da es sich um die Erniedrigung eines konkreten Subjekts - nämlich Ulrich handelt, soll diese erste Form der Erniedrigung als imaginativ-figurativ bezeichnet werden. Desweiteren ist die räumliche Distanz ausschlaggebend, denn der "husschaffer" befindet sich über Ulrich. Eine räumliche Oben-Unten-Beziehung, die sich auch semantisch in der sozialen Hierarchie widerspiegelt: Während Ulrich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft den Ritterstand repräsentiert, gehört der Hausmeister einer niedrigeren Schicht an. Dennoch steht er durch das Wasserlassen auf Ulrich in dieser Episode (räumlich wie sozial) über dem Ritter; d.h. der rühmliche Ritter wird in seiner ständischen Position herabgewürdigt. Daher trägt diese Form der Erniedrigung das Attribut räumlich-sozial. Die letzte Art der Erniedrigung ist das Ablegen der Kleidung. Während die bildlich-emotionale und die räumlich-soziale Erniedrigung leicht nachzuvollziehen sind, ist die Erniedrigung durch Nacktheit durchaus komplexer. Sie geht in der Tradition der höfischen Minnelyrik einher mit einem Identitätsverlust. Wie genau sich dieser konstituiert, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

"Identitätsverlust"

Um den Identitätsverlust genauer analysieren zu können, muss zunächst einmal geklärt werden, was der begriff Identität überhaupt bedeutet. Identität ist von seiner Extension her weit ausgeprägt. Viele Eigenschaften, Bedingungen, Erfahrungen, Interaktionen etc. beeinflussen die Identität eines Subjekts. Persönliche sowie fremdgesteuerte psychische Gedankengänge spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Auf jeden identitätsstiftenden Faktor einzugehen ist quasi unmöglich. Unter Rückgriff auf Kartschoke & Ackermann und Kraß & Assmann soll eine zusammenfassende Arbeitsdefinition von Identität erarbeitet werden, auf die sich die daran anschließenden Ausführungen beziehen.

Definition von Identität

Kartschoke & Ackermann: Identität über Soziale Interaktion

Identität kommt dadurch zustande, dass ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld interagiert. Aus der Diskrepanz oder Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung generiert sich dann Identität. [Kartschoke 2001: 63] Wenn ein Individuum seine Identität verliert, bedeutet das folglich, dass der genannte soziale Prozess rückgängig gemacht wird. Das Ich kann sich dann nicht mehr über Abgrenzung zu oder Übereinstimmung mit anderen definieren und wird auch von anderen nicht mehr auf diese Weise gesehen. So betrachtet ist der Identitätsverlust gleichbedeutend mit sozialer Unsichtbarkeit. Gleichzeitig steht Identität in Verbindung mit Subjektivität, denn auch diese entsteht durch ein Ich "in Auseinandersetzung mit der Welt" [Ackermann 2009: 1]. Geht also die Identität verloren, hat dies auch einen Einfluss auf die Subjektivität des Betroffenen. Zwar nimmt er sich immer noch als ein "seiner selbst bewusstes Individuum" [Kartschoke 2001: 63] wahr, aber die von außen zugeschriebene Subjektivität kann ohne Identität nicht aufrecht erhalten werden.

Kraß & Assmann: Identitätsstiftende Kleidung

In der sozialen Gesellschaft definieren sich die Anhänger eines Standes, in diesem Fall des höfischen Standes, vor allem durch ihren höfischen Habitus[Kraß 2006: 22]. Der Habitus besteht aus Elementen, deren Summierung die Identität ergibt. "Wenngleich Kleidung nur ein einzelnes Kriterium darstellt, so ist es doch in besonderer Weise und vielleicht in höherem Grade als alle anderen Merkmale prädestiniert, Identität zu symbolisieren [...]."[Kraß 2006: 23]. Um den Argumentationskreis zu schließen, muss noch erwähnt werden, dass die höfische Identität weniger als individuelle, sondern vielmehr als "kollektive Identität" [Assmann 2007: 132][4] aufgefasst werden muss. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Kleidung als Teil des höfischen Habitus notwendigerweise zur Generierung von Identität beiträgt.

Arbeitsdefinition Identität

Identität bezeichnet im Folgenden die Identifikation eines Individuums mit seinem sozialen Umfeld, was hauptsächlich auf der Basis der beschriebenen Kleidung stattfindet. Die Identifikation kann selbst- oder fremd wahrgenommen werden.

Das Ablegen der Kleidung

In der Urinepisode erfährt Ulrich insofern einen Identitätsverlust, als er sich entkleiden muss (vgl. FD 1190). Im 13. Jahrhundert und auch in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst wird die kostbare adlige Kleidung detailliert beschrieben, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich der Adel bereits über seine Kleidung von anderen, weniger wohlhabenderen Schichten abgrenzte[Blaschitz 1999: 374f.]. Unter Rückgriff auf die Arbeitsdefinition, lässt sich also sagen, dass die Art der Kleidung zu Ulrichs von Liechtenstein Zeiten identitätsstiftende Funktion hat. Fällt diese nun weg, geht dies im Umkehrschluss mit einem Identitätsverlust einher. Ulrich erfährt in der entsprechenden Episode ohnehin schon eine Erniedrigung, weil er als Bettler verkleidet ist (gewant, daz boese, (FD 1190)). Obwohl alle relevanten Beteiligten wissen, dass das Bettlergewand nur den Status eines Kostüms hat und nicht Ulrichs normaler Kleidung entspricht, bedeutet der Verlust dieser Maskerade trotzdem einen Identitätsverlust: "Wer nackt ist, ist sozial nackt, hat seine höfische Identität verloren."[Kraß 2006: 220] Zudem wird Ulrich durch den Urin soweit erniedrigt, dass er nicht einmal mehr die Kleidung eines Bettlers tragen kann, sondern sich entblößen muss und damit nicht nur seine Identität als Ministerialer Ulrich von Liechtenstein sondern auch seine fingierte Identität als leprakranker Bettler ablegen muss.

Das Anlegen neuer Kleidung

Nachdem Ulrich die Bettlerkleider ausgezogen hat, wird er nach einigen anderen Strapazen endlich in die Burg seiner Herrin hinaufgezogen und bekommt von seiner niftel Kleidung gereicht:

"ein suckenie gab si mir an, / diu was von einem paltekin, / die legt mir an diu niftel min." (FD, 1197).

Ein "suckenie" ist ein "Kleidungsstück für Frauen und Männer, das über dem Rock und unter dem Mantel getragen wurde"[Lexer 1992: 217], ein "paltekin" ist ein "kostbarer aus Seide und Goldfäden moiréartig gewobener Stoff aus Baldac (Bagdad), dann auch Seidenstoff geringerer Art; Traghimmel"[Lexer 1992: 9][5]. Was ist an diesen neuen Kleidungsstücken besonders? Der "suckenie" ist ein Unterrock, der geschlechterunabhängig angezogen werden konnte. Dieser Aspekt ist sehr interessant: Ulrich wechselt im Frauendienst bereits einmal sein Geschlecht durch Kleidung, indem er sich als Königin Venus verkleidet. Dieser Akt der Travestie ist nicht nur Verkleidung, sondern gleichzetig auch das Spiel mit der eigenen geschlechtlichen Identität[Kraß 2006: 25]. So weit darf man bei der "suckenie" natürlich nicht gehen, dennoch zeigt die Verkleidung als König Venus, dass wir es bei Ulrich offenbar nicht mit einem beständigen Individuum zu tun haben. Gerade die Geschlechterspezifität schafft zumindest erst einmal Beständigkeit in der Identitätsfindung. Durch die "suckenie" haben wir es aber weder mit einem Kleidungsstück für Männer noch für Frauen zu tun. Bereits durch diese Lücke kann dem nackten Ulrich keine geschlechtliche Identität zugeschrieben werden. Der "paltekin" ist nach Lexers Definition noch unpräziser. "Stoff" bedeutet nicht automatisch auch Kleidungsstück. Vielmehr denkt man bei der Definition an eine Art Leintuch. "Traghimmel" charakterisiert diese Verknüpfung noch besser und zeigt des Weiteren, wie undefinierbar dieses Stoffstück ist. Aufgrund der mangelnden präzisen Definition, kann "paltekin" nicht als identitässtiftende Kleidung angesehen werden. Stellt nach Kraß die "Investitur"[6] also die Konstitution von Identität dar[Kraß 2006: 25], so liegt in der Ursinepisode des Frauendienstes doch gerade das Gegenteil vor. Ulrich wird zwar neue Kleidung angelegt, trotzdem wird ihm nur mangelhaft bis gar keine Identität dadurch zugeschrieben.

Nullidentität

Über die Nacktheit verliert Ulrich seine höfische Identität, die ihm weder durch "suckenie" noch durch "paltekin" wiedergegeben werden. In was für einer sozialen Position befindet sich Ulrich jetzt? Wird ihm narrativ eine Identität zugeschrieben? Diese Fragen lassen sich nicht einfach beantworten. Außerdem hängen beide Fragen zusammen, denn durch die Identitätszuschreibung kann Ulrich erst seine soziale Position finden. Hat Ulrich in der Situation kurz vor dem Treffen mit seiner Herrin die Identität des Minnedieners Ulrichs, wie wir ihn z.B. vom Friesacher Turnier kennen? Gibt es überhaupt nur eine einzige Identität, die der Minnediener Ulrich im Frauendienst "annimmt"? Diesen Fragen kann im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden - siehe vielmehr [1].

Aufgrund der Tatsachen, dass Ulrich weder nackt ist, noch ritterliche Kleidung trägt, soll von einer nicht genauer definierten Identität ausgegangen werden, die im Folgenden als "Null-Identität" bezeichnet wird. Dieser Begriff beinhaltet nicht, dass Ulrich keine Identität in diesem Moment zugeschrieben bekommen würde, sondern vielmehr, dass es sich um eine Art der Identität handelt, die vorher im Frauendienst noch nicht aufgetreten ist und mit der sich Ulrich nicht mit anderen Mitgliedern des ritterlichen oder adligen Stades identifizieren kann. Hier greift die Arbeitsdefinition von Identität vor allem auf den Aspekt der "kollektiven Identität" von Assmann.
Diese Nullidentität ist wichtig, da ein identitätsloser Ulrich wohl kaum mit seiner Herrin sprechen kann. Wenn doch, würde die Frage aufkommen, ob eine Person bzw. ein Subjek überhaupt identitätslos sein kann oder gemacht werden. Um diesem Problem aus dem Weg zu gehen, wird Ulrich die Nullidentität zugeschrieben. Im Folgenden trifft er nämlich tatsächlich auf seine Herrin:

Abgrenzung von seiner Herrin

Ulrich begrüßt in dieser Szene seine Herrin mit den Worten "gnade, vrowe min!" (FD, 1198) und anschließend beginnt er, die Kleidung der Herrin zu beschreiben:

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
1199 Ich sage iu, wie si was gechleit:
ez het diu guote an sich geleit
ein hemde wiz, daz was vil chlein;
diu hochgemuote, schone, rein
eine suckenie het dar obe
von scharlach, diu ze hohem lobe
was gefurrit wiz härmin,
diu veder niht bezzer chunde sin.

Ich sag', wie sie gekleidet war:
Die Edle hatte angelegt
ein weißes Hemd, das war sehr kurz;
darüber trug die Schöne noch
ein Scharlachkleid, das bestens noch
gefüttert war mit Hermelin,
es war sehr kostbar, sag ich euch,
das Weiß konnte nicht schöner sein.

1200 Ir mandel grüen als ein gras,
ein vehiu chürsen drunder was,
diu chürsen het ein überval,
ze mazen breit, ze mazen smal;
ir het diu reine, wol gemuot
gebunden in ein risen guot.
sus saz vor mir diu wandels vri,
ir stuonden da aht vorwn bi, [...]

Ihr Mantel war so grün wie Gras,
mit Pelz war er gefüttert auch
und Pelz hatte er überall,
bald war er breit, bald war er schmal;
die Edle, Hochgemute war
mit einem Kopfschmuck schön geziert.
So saß sie da ganz makellos,
acht Damen standen noch dabei, [...]


Durch die präzise Beschreibung der Kleidung seiner Herrin grenzt sich Ulrich stark von ihr ab. Seine Kleidung, die ihm eine Nullidentität verleiht, steht im Gegensatz zu der höfisch-adligen Kleidung, die die Dame als Teil der höfischen Gesellschaft repräsentiert. Dementsprechend steht ein nicht mehr dem Ritterstand angehörender Ulrich seiner dem Adel angehörigen Herrin gegenüber. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Dame die Lobpreisung Ulrichs unweigerlich ablehnt:

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
"ir sult des han deheinen muot,
daz ich iuch zuo mir lege hie iht,
des sült ir an mich muoten niht,
ir sült der bet vil gar gedagen.
ich wil iu uf min triwe sagen,
daz ir sin sit nu ungewert
ze dirre zit, swie ir sin gert.
(FD, 1207)
"Ihr sollt fürwahr nicht glauben doch,
daß ihr euch zu mir legen könnt,
ihr sollt das von mir nicht begehr'n,
ihr sollt die Bitte ganz verschweigen.
Ich sage euch auf meiner Treu'
man läßt euch hier nicht so gewähr'n
zu dieser Zeit, wie ihr es wollt.


Sturz aus der Burg

Mit dem Sturz aus der Burg endet die Episode und ihre unmittelbaren Folgen. Ulrich verlässt das Gemach der Dame, nachdem diese ihm damit gedroht hat, dass er "vliset gar / die hulde min" (FD, 1213). Er redet noch einmal mit seiner niftel über das Treffen und erwägt sogar kurzzeitig, gewalttätig zu werden. Doch statt auf körperliche Stärke zu setzen, beschließt er "ich ergriffe sie niht an / wieder ir willen" (FD, 1218) und auf Raten der niftel noch einmal zu ihr zu gehen um mit "ritters munt" (FD, 1220) zu seiner Herrin zu sprechen. Die zweite Huldigung in dieser Szene erstreckt sich über sieben Strophen (vgl. FD 1221-1227) - und dennoch lehnt die Dame sein Gesuch ohne Umschweife ab:

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
Do sprach diu reine hochgemuot:
"iu ist diu bet ze niht guot;
[...]"
(FD, 1228)
Da sprach die Edle hochgemut:
"Für euch ist diese Bitte nichts;
[...]"


Auch durch ritterliches, höfisches Sprechen kann es Ulrich nicht gelingen, seine Herrin zu überzeugen. Das Gegenteil ist der Fall: Ulrich wird sogar ein weiteres Mal gedemütigt. Durch eine Art Intrige schafft es die Dame sich von Ulrich zu befreien: Sie verspricht ihm einen Kuss unter der Voraussetzung, dass Ulrich ihr vertrauen solle (vgl. FD 1238-1268). Auch die niftel bestärkt ihm zum Vertrauen. Ulrich ist zu Beginn skeptisch (vgl. FD, 1262), willigt aber schließlich ein. Zu seinem Nachteil, denn überrascht darüber, von seiner Herrin geküsst zu werden, lässt er ihre Hand los und fällt schließlich aus dem Fenster, durch das er zuvor in die Burg gelangt ist. Bei seinem Aufprall, den er überlebt, ziehen die Damen das Leintuch wieder hoch. Ulrich reagiert bestürzt, verärgert, wütend - in gewisserweise nimmt er diese erneute Demütigung wahr und will sich ertränken. Durch gutes Zureden seines Knechts lässt Ulrich dennoch davon ab und kehrt nach Liechtenstein zurück (vgl. FD, 1292).
Dieser Sturz stellt, ähnlich wie die Beschmutzung durch den Urin, eine imaginativ-figurative und räumlich-soziale Demütigung dar. Räumlich fällt Ulrich von der Ebene seiner adligen Herrin in die Tiefe. In der sozialen Ordnung war Ulrich durch die Nullidentität schon gar nicht im ritterlichen Stand und wird durch den Sturz auch in der sozialen Hierarchie noch einmal weiter herabgewürdigt. Die Herrin behandelt Ulrich in dieser Szene wie eine Art Spielball, der zur Belustigung dient. Sie nimmt Ulrich als Menschen gar nicht wahr, beziehungsweise sie erkennt die Identität Ulrichs nicht.

Fazit

Ulrich hat im Laufe der Urinepisode seine Identität durch diverse Formen der Erniedrigung verloren. Es beginnt mit dem Verlust der Identität durch das Ausziehen der Kleidung. Das Anlegen neuer Kleidung gilt durch die erwähnten Kleidungsstücke nicht als Konstitution einer neuen Identität. Mit dieser Nullidentität trifft Ulrich nun auf seine Herrin, die ihn, trotz identitätsstiftender Kleidung, weder als Ministerialen noch als Angehöriger des Ritterstandes identifizieren kann. Denn, wie in der Arbeitsdefinition erwähnt, wird Identität sowohl selbst- als auch fremd wahrgenommen. Daher kann Ulrich zwar die Stilistik seiner Sprache ändern, dennoch kann er immer noch nicht als ebenwürdige Identität neben der seiner Herrin erfasst werden. Die Urinepisode gipfelt am Ende noch einmal in einer weiteren Demütigung, welche die imaginativ-figurative und räumlich-soziale Erniedrigung verdoppelt: Die Episode beginnt und endet mit einem Sturz - nur ändert sich die Rolle Ulrichs: Er wird vom Opfer bzw. Objekt des Sturzes des Wassers zum Subjekt seines eigenen Sturzes. Auch in dieser Rollenverschiebung lässt sich eine Steigerung erkennen, die die Situation abermals dramatisiert.
Kraß vergleicht in seiner Abhandlung über geschriebene Kleidung Devestitur und Investitur mit "karnevalesken Spielmustern"[Kraß 2006: 25]. Nach den Ausführungen Bachtins müssen karnevaleske Formen nicht per so komisch sein, sie werden erst durch groteske, übertriebene und wirklichkeitsverzerrende Elemente komisch. Die Belustigung ist demzufolge sowohl Folge der Karnevalskultur, als auch Mittel zum Zweck[Bachtin 1985: 28f.]. Da die Karnevalskultur erst zu Zeiten der Renaissance ihren Höhepunkt fand, ist es schwierig in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst solche Elemente bewusst nachweisen zu wollen. Dennoch lässt sich zusammenfassend sagen, dass auch in dieser Urinepisode die Belustigung nicht im Vordergrund steht. Ähnlich wie karnevaleske Formen, die die Furcht vor dem Bösen vertreiben sollen[Bachtin 1985: 26ff.], dient die belustigende Szene hier auch einem höherem Zweck: Ulrich inszeniert sich hier selbst - und sogar noch mehr: Er erniedrigt sich selber. Und eine Erniedrigung scheint nicht ausreichend zu sein, er verdoppelt die darin festegestellten Formen: Die figurativ-imaginative Erniedrigung und die räumlich-soziale werden durch zwei Stürze inszeniert, die Erniedrigung durch Nacktheit und der damit einhergehende Identitäsverlust werden durch das Ablegen identitässtiftender und das Anlegen identitäsloser Kleidung inszeniert. Außerdem trifft er zweimal seine Herrin und wird zweimal von ihr abgewiesen. Die Verdopplung des Leides spielt demzufolge eine ausschlaggebende Rolle in der Urinepisode. Das Leid geht einher mit Identitätsverlusten und Identitätskonstiutuierungen. Denn das Leid beginnt bereits damit, dass Ulrich aufgefordert wird, sich als Leprakranker zu verkleiden und damit gezwungen wird, seine ritterliche Identität abzulegen. Von daher ist die Urinepisode ein sehr gutes Exempel um die große Bedeutung von Kleidung im Frauendienst zu zeigen. An dieser einzelnen Szene lassen sich Identitätsbildung und Identitätsverlust durch Kleidung ablesen und gleichzeitig, welchen Einfluss beide Prozesse für die individuelle Identitätsbildung haben.
Im Allgemeinen spielt der Identitätsbegriff im Fraundienst eine große Rolle. In der Frage, ob es sich nun tatsächlich um eine reale Autobiographie handelt oder doch nur um eine fiktive, oder vielleicht um eine Vermengung aus beiden Extrema, muss der Identitätsbegriff berücksichtigt werden. Dazu geben die Artikel Identität und Individuum (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst), Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) und Autobiografische Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) weitere Auskunft. Auch die Identitätskonstruktion durch Kleidung wird in den Artikeln Kleidung und Verkleidung (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) und Venus- und Artusfahrt im Frauendienst (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) behandelt.


Literaturangaben

Primärliteratur

Der zitierte mittelhochdeutsche Text stammt aus:

  • Franz Viktor Spechtler (Hrsg.) (1987): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen: Kümmerle.

Die dazugehörigen hochdeutschen Übersetzungen sind folgendem Werk entnommen:

  • Liechtenstein, Ulrich von (2000): Frauendienst. Roman, Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec: Wieser.

Forschungsliteratur

  • [*Ackermann 2009] Ackermann, Christiane (2009): Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, o.A.: Köln/Weimar/Wien.
  • [*Assmann 2007]: Assmann, Jan (62007): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Beck: München.
  • [*Bachtin 1985] Bachtin, Michail (1985): Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München: Carl Hanser Verlag.
  • [*Blaschitz 1999] Blaschitz, Gertrud (1999): "'...gechleidet wol nach ritters siten'. Beschreibungen von Kleidung und Rüstung im 'Frauendienst'". In: Spechtler, Franz Viktor & Maier, Barbara (Hgg.):Ich - Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt: Wieser Verlag, 371-410.
  • [*Kartschoke 2001] Kartschoke, Dieter (2001): "Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur". In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: o.A., 61-78.
  • [*Kraß 2006] Kraß, Andreas (2006): Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel: Francke.
  • [*Lexer 1992]Lexer, Matthias (381992): Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, Stuttgart: Hirzel.

Anmerkungen

  1. Im weiteren Verlauf des Artikels bezeichnet Ulrich ohne weitere Kennzeichung generell die literarische Figur. Wenn von Ulrich als Autor gesprochen wird, wird explizit, z.B. durch das Attribut "Autor" oder durch die Nutzung seines kompletten Namens, darauf hingewiesen.
  2. Zitiert wird aus der unter der Primärliteratur genannten Ausgabe. Im Folgenden werden solche Textpassagen mit der Sigle FD gekennzeichnet.
  3. Hier wird aus der unter der Primärliteratur genannten Übersetzung zitiert.
  4. In Assmann 2007 heißt es weiter: "Unter einer kollektiven Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen." (S.137)
  5. Zu finden unter "baldekîn". Groß- und Kleinscheibung wurde angepasst.
  6. Das Anlegen von Kleidung