Die göttlich geleitete Disputation: Neuinterpretation des "Gregorius" ausgehend vom Abtgespräch (nach Anja Becker)

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Neuinterpretation des Gregorius

In ihrer Neuinterpretation des „Gregorius“ von Hartmann von Aue stellt Anja Becker die These auf, das gesamte Werk sei in der Form eines disputativen Streitgesprächs gestaltet. Den Ausgangspunkt ihrer Argumentation stellt dabei der Dialog zwischen Gregorius und dem Abt dar, welchen sie als Schlüsselszene der Geschichte versteht. Ihre erklärte Absicht ist es, „mithilfe einer neuen Beschreibungssprache überhaupt wieder einen Zugang zu diesem toten Klassiker zu eröffnen“[1], ohne sich auf die im Zentrum vieler Interpretationen stehende Schuldfrage zu beschränken, in deren Beantwortung sich die Diskussion um das Werk häufig verläuft.

Charakteristika der Disputation

Die Disputatio in forma, die allgemein als Streitgespräch mit festgelegtem Ablauf und Regeln definiert werden kann, etablierte sich im 12. Jahrhundert nicht nur als Lehrmethode neben der Lectio an Universitäten, sondern prägte das gesamte intellektuelle Leben des Mittelalters. Vor allem die Ausführungen Aristoteles zu diesem Thema im 8.Buch seiner „Topik“ bilden die Grundlage für Beckers These.


Charakteristisch für ein dialektisches Streitgespräch ist demnach die Argumentation mit anerkannten Meinungen, die an Stelle der bloßen Belehrung tritt. Die Ausgangslage des Gesprächs bildet eine Entscheidungsfrage, die quaestio, welche der Leiter der Disputation, auch Präses genannt, stellt. In der Rolle des Respondenten bezieht nun ein Teilnehmer Stellung zu dem Problem, während sein Gegner, der als Opponent die entgegengesetzte Meinung vertritt, ihn zu widerlegen versucht.

Die rhetorischen und dialektischen Fähigkeiten der Gegner kommen, so Aristoteles, auf verschiedene Weisen zum Einsatz. Bei der von ihm empfohlenen deduktiven Methode sei es wichtig „die gegnerischen Prämissen erfassen, verschiedene Bedeutungen unterscheiden, Unterschiede und Ähnlichkeiten auffinden zu können.“[2] Als distinctio wird hierbei die Methode bezeichnet, ein Argument durch das Einführen von Unterscheidungen zu stärken oder zu schwächen. Ein weiteres Verfahren besteht darin, die eigentliche Absicht der eigenen Argumentation zu verschleiern oder zurückzuhalten. In der mittelalterlichen Logik wird dies als Krypsis bezeichnet. Auch das Einbringen von Selbsteinwänden sowie die Absicherung durch allgemeingültige Meinungen können sich laut Aristoteles in der Disputation als nützlich erweisen.


Nachdem das Duell beendet und ein Gewinner gefunden ist, fasst der Präses die vorgebrachten Argumente zusammen und bringt eine mögliche Lösung des Problems, die solutio, vor. Dieser Vorgang wird als determinatio bezeichnet. Ziel der Disputation ist schließlich die Feststellung der Wahrheit und die damit verbundene Wahl des Richtigen.

Disputativer Aufbau des ersten Abtgesprächs

Am Anfang des Gesprächs zwischen Gregorius und dem Abt steht, wie in Aristoteles Ausführungen zur disputatio in forma beschrieben, die quaestio: Ist Mönch die richtige Lebensform für Gregorius? Während Gregorius als Respondent die Frage verneint, vertritt der Abt in der Rolle des Opponenten die befürwortende Seite.

Im Aufbau ihrer Argumentation bedienen sich beide Teilnehmer der von Aristoteles beschriebenen Techniken. So scheint beispielsweise Gregorius die Schande über seine gesellschaftliche Stellung als treibende Kraft zu betrachten, welche ihn aus dem Land und somit auch aus dem Kloster treibt. Erst später erwähnt er seine Hoffnung, „daz [er] wol werden mähte ritter“[3] Mithilfe der Krypsis verschleiert er somit seine eigentliche Motivation.

In seiner Argumentation macht sich der Abt wiederholt die distinctio zunutze. Als Erwiderung auf Gregorius Argument der Schande führt er beispielsweise die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Schande ein. Während er Letztere als eher von geringer Bedeutung verwirft, führt er seinem Schützling die eigene Verantwortung vor Augen, was Letztere betrifft. Die Wahl zwischen „genesen oder verderben“[4] verbindet er mit der zwischen dem Klosterleben und der Abkehr von diesem.

Aus dem Gespräch geht Gregorius schließlich als Sieger hervor. Becker zieht aus ihrer Analyse den Schluss, „dass das Gespräch zwischen Gregorius und dem Abt in der Form einer regulären Disputatio gestaltet ist“, bei welcher beide sich als „ebenbürtige Gegner [erweisen], die alle Finessen der Rhetorik und Dialektik beherrschen“[5].

Veränderung der Argumentation im zweiten und dritten Gespräch

Anders verhält es sich, so Becker, bei den beiden darauffolgenden, kürzeren Gesprächen zwischen Gregorius und dem Abt. Auch hier versucht der Abt, den Jungen von seinen Plänen abzuhalten. Da seine Argumente jedoch auf Scheingründen basieren und eher egoistischen Zwecken dienen, sind diese beiden Gespräche nicht als dialektisch, sondern als eristisch einzustufen.

Gregorius als göttlich geleitete Disputation

Ausgehend von diesen Ergebnissen stellt Becker die These auf, das gesamte Werk sei in der Form einer Disputation angelegt. Die quaestio nach der richtigen Lebensform für Gregorius bleibt ebenso erhalten wie die Rollen der beiden Teilnehmer. So tritt Gregorius als Opponent und als Befürworter der Ritterlebens auf, während der Abt für das geistliche Leben im Kloster plädiert. Als Präses dieses Streitgesprächs, so Becker, tritt Gott auf. Die von ihm festgelegte quaestio und determinatio werden allerdings „nicht theoretisch formuliert, sondern narrativ ausgefaltet“[6]. Am deutlichsten tritt seine Präsenz somit bei den beiden zentralen Seefahrten des Protagonisten zutage, bei denen er Gott die Führung überlässt, welcher ihn einmal auf die Klosterinsel und schließlich ans Land seiner Mutter lenkt. Es ist somit erst „Gottes Eingreifen in seine Vita, welche ihm zwei verschiedene Lebensformen als Optionen eröffnet.“[7] Betrachtet man die Tatsache, dass Gregorius Fähigkeiten ihn sowohl für das Ritterleben als auch für das eines Geistlichen prädisponieren, scheint es auffällig, dass er in beiden Lebensformen scheitert und somit die aus der menschlichen Disputation hervorgegangene solutio widerlegt. Dadurch wird auch gezeigt, dass nur Gott allein die Antwort auf die quaestio bereitstellen kann, was durch seine Auserwählung des Gregorius zum Papst geschieht. Anstatt jedoch die bevorzugten Lebensformen der beiden Disputanten zu ignorieren, integriert es sie in seiner solutio: Als Papst kommen Gregorius sowohl seine geistlichen Fähigkeiten als auch seine weltlichen Talente als Herrscher zugute.

Bibliographie

  1. Becker, Anja: "Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns >Gregorius< ausgehend vom Abtgespräch", in "Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmotivs universärer Wissenskultur", hrsg. von Marion Gindhard,2010, Berlin, S.334
  2. Becker, Anja: "Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns >Gregorius< ausgehend vom Abtgespräch", in "Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmotivs universärer Wissenskultur", hrsg. von Marion Gindhard,2010, Berlin, S.336
  3. Von Aue, Hartmann: Gregorius, V. 1498f
  4. Von Aue, Hartmann: Gregorius, V. 1448
  5. Becker, Anja: "Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns >Gregorius< ausgehend vom Abtgespräch", in "Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmotivs universärer Wissenskultur", hrsg. von Marion Gindhard,2010, Berlin, S.347f
  6. Becker, Anja: "Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns >Gregorius< ausgehend vom Abtgespräch", in "Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmotivs universärer Wissenskultur", hrsg. von Marion Gindhard,2010, Berlin, S.352
  7. Becker, Anja: "Die göttlich geleitete Disputation. Versuch einer Neuinterpretation von Hartmanns >Gregorius< ausgehend vom Abtgespräch", in "Disputatio 1200-1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmotivs universärer Wissenskultur", hrsg. von Marion Gindhard,2010, Berlin, S.355