Große und kleine Tiere - Rollenverteilung und Hierarchie (Reinhart Fuchs)

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Dieser Artikel stellt die Rollenverteilung und Hierarchie zwischen großen und kleinen Tieren in Heinrichs des Glîchezâren Reinhart Fuchs dar. Hierzu werden insbesondere Siege und Niederlagen des Protagonisten Reinharts über körperlich über- bzw. unterlegene Tiere verglichen, Regelmäßigkeiten beleuchtet und die Gründe hierfür erörtert.

Die kleinen Tiere

Die kleinen Tiere sind die klaren Gewinner des Textes. In fast allen Textstellen, in denen zwei Tiere einander anfeinden, siegt der körperlich Unterlegene. Es sind die kleinen Tiere, mit denen sowohl Erzähler, als auch Rezipient sympathisieren, nicht zuletzt, weil sie schlauer wirken, Situationen durchschauen und in der amoralischen Handlungswelt nicht den Kopf verlieren. Die kleinen Tiere sind nicht wahllos tyrannisch, wie viele der großen Tiere. Sie versuchen nur ihr eigenes Leben zu retten oder rächen sich an Vergehen, die physisch Überlegene an ihnen begangen haben. Es ist das menschenähnlich kluge und kontrollierte Verhalten, welches beim Leser eine Vorliebe für die kleineren Geschöpfe hervorruft. So ist es natürlich der Rabe, der mit seinem Ausspruch als einziger das Verhalten der wilden Tierwelt vernünftig zu reflektieren scheint: „daz ein gebvr dem andern tvt, kvmet dicke lon“ (Was ein Bauer dem anderen antut, bringt oft entsprechenden Lohn) (RF Vers 298 f.) Sie nutzen die Laster ihrer großen Gegner aus, um sich aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien oder sich zu rächen. Wie ihnen dies gelingt und warum die kleinen Tiere zusätzlich die Rolle des Lehrers einnehmen, wird im Folgenden gezeigt.

Körperliche Schwäche - intellektuelle Überlegenheit

Diese Episode, die am Anfang des Epos verortet ist, stellt das Aufeinandertreffen des Fuchses mit der ersten Tierart dar, auf die noch viele weitere folgen sollen. Die Hühner des Bauern, darunter auch Scantecler, sind eine beliebte Beute des Fuchses. Nachdem Reinhart den Hahn Scantecler durch eine List gefangen hat, läuft er siegessicher, mit dem Hahn im Maul, vor dem bestohlenen Bauern davon.

Übersetzung: Reinhart Fuchs (141-152)

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Scantecler sprach ze Reinharte: Scantecler fragte Reinhart:
,war gahet ir svst harte? "Wohin lauft ihr so schnell?
wes lazet ir iz evch disen gebvr beschelten? Weshalb lasst ihr euch von diesem Bauern beschimpfen?
mvgt ir iz im niht vergelten?' Könnt ihr es ihm nicht vergelten?"
,ia ich, sam mir!', sprach Reinhart, "Bei meinem Gott!", schrie Reinhart,
[] ,ir gat ein vppige vart.' "Ihr geht einen unnötigen Weg."
Scantecler was vngerne do. Scantecler war unfreiwillig dort.
als er im entweich, da want er sam vro Als er ihm entwich, da wand er fröhlich
den hals vz Reinhartes mvnde. den Hals aus Reinharts Maul.
er vlovc zv der stvnde Er flog im selben Augenblick
vf einen bovm, do er genas. auf einen Baum, wo er verschont blieb.

Doch der kleinere, körperlich unterlegene Hahn ist nicht weniger schlau als der Fuchs und nutzt seinen Hochmut aus, um sich aus dessen Maul zu befreien. Reinhart, der sonst mit Situationsklugheit glänzt, fällt hier prompt auf die Provokation von Scantecler herein. Daher veranschaulicht dieser Ausschnitt sowohl die Gerissenheit des Hahnes, der sich in einer Situation physischer Gefangenschafft mit Worten zu befreien weiß, als auch die Unachtsamkeit Reinharts in dieser Situation. Dem sonst klugen Fuchs steht hier seine Eitelkeit im Weg, ein Laster, das dem schwächeren Tier das Leben rettet.

Reinhart als großer Gegenspieler

Diese Niederlagen des Fuchses gegenüber den Kleineren und Schwächeren ziehen sich stringent durch den ersten Teil des Textes. Ruh spricht von einem „Unglückstag Reinharts, obschon er seine kundigkeit mannigfach unter Beweis stellt“. [Ruh 1980:18] Der Protagonist ist eine Figur der Mitte, welche im ersten Handlungsabschnitt als verhältnismäßig großes und körperlich überlegenes Tier gegen die kleinen Tiere und deren Situationsklugheit nicht ankommt. Reinhart Fuchs schließt aufgrund seiner körperlichen Vorteile auf einen sicheren Sieg, wird aber schnell eines besseren belehrt. Obwohl die „kvndigkeit“ Reinharts immer wieder vom Erzähler betont wird, scheint dieser sie nicht zu nutzen. Dimpel sieht in diesen ersten Begegnungen des Fuchses mit intelligenten kleinen Tieren gerade den Auslöser für Reinharts „kvndigkeit“ in der Haupthandlung. Erst der Sieg des Hahns, Raben, Katers, bzw. der Meise führen zu der Erkenntnis, dass List und Gerissenheit in der Tierwelt mehr Wert sind als physische Stärke. Vgl.[Dimpel 2013] Schlussendlich ist es also Unvorsichtigkeit, die ihn als großes Tier verlieren lässt. Die kleinen Tiere haben das verstanden und gehen daher als Gewinner hervor. Sie lehren ihn, seinen Verstand im Kampf gegen Größere zu nutzen.

Die großen Tiere

Den Großteil der Handlung bestimmen allerdings Auseinandersetzungen des Protagonisten mit den ihm körperlich überlegenen Tieren des Waldes. Als große Tiere werden im Folgenden also jene Geschöpfe betrachtet, die sich in Relation zu Reinhart durch einen Vorteil in Statur und Körperkraft auszeichnen. Im völligen Gegensatz zu den kleinen Tieren, wächst mit der körperlichen Stärke auch die Antipathie, die nicht nur der Erzähler, sondern auch der Rezipient gegenüber diesen Tieren empfindet. Die großen Tiere weisen deutlich weniger menschliche Sitte auf. Sie sind die Verlierer der Erzählung und scheitern an ihren eigenen Lastern. Hübner beschreibt sie als „die Dummen [die] an ihrer Habgier, ihrem Hochmut, ihrem Begehren oder ihrer Einfalt im Sinn von Unvorsichtigkeit und Leichtgläubigkeit scheitern“ [Hübner 2016:86] Die triebgesteuerten großen Tiere zeichnen sich u.a. durch ihre unersättliche Gier aus, der sie es nicht schaffen, zu widerstehen. Dies verdeutlicht beispielhaft folgende Episode, in der Brun dem Bären seine Gier zum Verhängnis wird. Der König hatte seinem Hofkaplan befohlen Reinhart aufzusuchen, um ihm von seiner Anklage vor Gericht zu berichten und ihn zu bitten, sich dort zu verantworten. Der Bär denkt kurz darüber nach den Befehl zu verweigern, aus Furcht vor dem listigen Fuchs. Letztendlich trifft er ihn in seiner Höhle an.

Übersetzung: Reinhart Fuchs (1537-1552)

Mittelhochdeutsch Übersetzung
,Einen bvom waiz ich wol, "Einen Baum kenne ich gut,
der ist guotis honiges vol.' der voll von edlem Honig ist."
,nu wol hin, des gerte ih ie.' "Nur auf, darauf war ich schon immer scharf!"
her Bruon mit Reinharte gie. Herr Brun ging mit Reinhart los.
er wistin, da ein vilan Der führte ihn zu einer Stelle, wo ein Bauer
einen wecke hate getan einen Keil
in ein bloch sere geslagin. tief in einen Stamm geschlagen hatte.
der tievil hate in dar getragin. Der Teufel hatte ihn dorthingebracht.
,her capilan, lieber friunt min, "Herr Kaplan, mein lieber Freund,
nu svln ir gemeine sin das wird jetzt uns gehören;
unde werbint mit sinnen, doch nehmt euch in acht,
hie sint vil binen innen' denn hier sind viele Bienen drin."
Umbe die binen er doch niht enliez, Aber trotz den Bienen konnte er es nicht lassen,
daz huobet er in daz bluoch stiez. seinen Kopf in den Stamm zu zwängen.
Reinhart den wecke zucte, Da zog Reinhart den Keil weg,
daz bloch zesamene ructe. und der Stamm klemmte zu.

Die Gier nach Honig fällt dem Bären zur Last. Reinhart weiß von der Unersättlichkeit der großen Tiere und schafft es, diese ans Licht zu bringen und gegen sie zu verwenden. Obwohl der Hofkaplan über den Intellekt verfügt, sich für dem Betrüger zu fürchten, siegt der Hunger nach Honig. Brun der Bär, der allein bei der Chance auf Honig jegliche Vernunft über Bord wirft, findet sich am Ende dieses Ausschnitts eingeklemmt im Stamm. Seine Befreiung kostet ihn sowohl seine Kopfhaut als auch seine Ohren. Diese Szene verdeutlicht also, dass die großen Tiere letztlich wie wilde Tiere handeln, deren (menschliche) Fassade bröckelt, sobald das Objekt der Begierde in Aussicht ist. Dies zeigt sich auch im sexuellen Begehren der Wölfin und am Beispiel des machtgierigen Löwen.

Physische Stärke - geistige Unterlegenheit

Im Besonderen sollen hier der Wolf Isengrin und der Löwe Vrewel als große Gegenspieler hervorgehoben werden, die durch ihre Leichtgläubigkeit immer wieder auf Reinharts Listen hereinfallen. Ihre Dummheit wird von Hübner dadurch definiert, dass sie „mit der Tugendhaftigkeit der Co-Akteure rechnen“. [Hübner 2016:86] Der Wolf Isengrin fällt unzählige Male auf die Listen des Fuchses herein – eine Reflexion über sein Verhalten sowie das des Gegners scheint nicht stattzufinden. Vgl. [Mecklenburg 2017:95] Dementsprechend lernt der Wolf nicht aus seiner Naivität und es findet auch keine Verhaltensänderung statt, sodass Reinhart ihn immer wieder mit den gleichen Mittel schlagen kann. Auch der Löwe Vrewel erweist sich als äußerst blauäugig und unvorsichtig. In ein besonders negatives Licht wird der König der Tiere aber durch seine tyrannische Gewaltbereitschaft gerückt. Der Herrscher agiert nur aus Eigennutz und scherrt sich nicht um Gerechtigkeit in der Tierwelt. Diese Charaktereigenschaften verstärkt Heinrich durch die Namensgebung. „Vrewel“ kann nach Dietl „Gewaltfähigkeit“ bedeuten. Vgl. [Dietl 2010:51]

Der nachfolgende Ausschnitt steht am Ende des Gerichtsprozesses gegen Reinhart und somit am Schluss des Epos. Da der Fuchs den Löwen und sein rein dem Eigennutz nach ausgerichtetes Streben durchschaut hat, gelingt es ihm, den Herrscher der Tiere regelrecht zu instrumentalisieren. Reinharts „ärztlichem“ Rat, die Schädigung anderer Tiere würde dem Wohl des Löwen dienen, geht der Herrscher ohne zu zögern nach und rächt sich somit, unwissend, an den Gegnern des Fuchses. Reinhart Fuchs kommt wie so oft ohne eigene Gewaltanwendung zum Ziel. Nun, da alle seine Feinde bezwungen worden sind, widmet sich der Protagonist dem Löwenkönig Vrewel.

Übersetzung: Reinhart Fuchs (32168-2176)

Mittelhochdeutsch Übersetzung
er sprach: ,herre, ich wil ev geben einen tranc, Er sagte: "Herr, ich will euch einen Trank geben,
so sit ir ze hant genesen.' dann seid ihr solgleich genesen."
der kvnic sprach: ,daz sol wesen.' Der König antwortete: "Das soll geschehen."
do brov er des kvniges tot. Da braute er des Königs Tod.
Reinhart was vbele vnde rot, Reinhart war übel und rot,
daz tet er da vil wol schin: Das machte er jetzt vollends sichtbar:
er vergab dem herren sin. Er vergiftete seinen Herrn.
daz sol niman clagen harte; Darüber soll niemand schlimm Klage führen.
waz want er han an Reinharte? Was glaubte er auch an Reinhart zu besitzen?

Den König der Tiere zu bezwingen gelingt dem Fuchs allzu einfach. Freiwillig und ohne jegliche Überlegung trinkt der Löwe das Gift des Betrügers, vor dessen Hinterlistigkeit er oft genug gewarnt worden war. Es folgt ein nahezu spöttischer Kommentar des Erzählers, dem die Leichtgläubigkeit Vrewels ein Rätsel zu sein scheint. Daraufhin findet Vrewel den Tod durch Vergiftung. Der Fuchs hat das stärkste aller Tiere besiegt.

Reinhart als kleiner Gegenspieler

In der Haupthandlung begegnet der Protagonist als Fuchs nun vielen Waldtieren, die ihm physisch überlegen sind. Und er scheint aus seinen Begegnungen mit den kleinen Tieren etwas gelernt zu haben. Sie benutzen ihren Verstand um sich gegen die großen Raubtiere zu behaupten. Oft genug erlebt Reinhart dies im ersten Handlungsabschnitt am eigenen Leib, ist aber auch Beobachter einer Zuspitzung dieses Sachverhalts: Das kleinste aller Geschöpfe, die Ameise, rächt sich am Löwen Vrewel, in dem es sich in seinen Kopf begibt, um dort für Schmerzen zu sorgen. Diese Beobachtung dient dem Protagonisten im weiteren Handlungsverlauf als Vorblid: Für die Treulosigkeit des fressgierigen Wolfes, der den von Reinhart besorgten Schinken nicht mit ihm teilt, rächt er sich auf brutalste, aber auch raffinierteste Weise. Auch die Beleidigung der Wölfin "so werest dv mir doch zv swach" (so wärst du mir doch zu schwach) (RF, Vers. 433) rächt er auf sowohl listige, wie auch unschöne Art. Als kleinerer Gegenspieler ist der Fuchs besonders gefährlich, denn im Gegensatz zu den offensichtlich vorteilhaften körperlichen Voraussetzungen seiner Gegenspieler, ist seine Fähigkeit zur Gewaltausübung äußerlich nicht erkennbar. Reinhart Fuchs bedient sich Klugheit und List zur Ausübung von Gewalt und siegt ausnahmslos über die großen Tiere, meist sogar „ohne den Einsatz des eigenen Körpers“ [Mecklenburg 2017:96]

Der Mensch als "großes Tier"

Auch wenn sowohl die moderne, als auch die mittelalterliche Gesellschaft im allgemeinen die Auffassung vertritt, Mensch- und Tierwelt seinen klar voneinander zu trennen, bestehen genügend Impulse, sich einer etwas anderen Sichtweise anzunehmen und sich die Frage zu stellen, ob nicht auch der Mensch als „großes Tier“ angesehen werden kann. Zweifellos handelt es sich um einen Tierepos. Der Protagonist des Textes ist ein Fuchs, Handlungsraum der Wald. Dennoch spielen sowohl Bauern, als auch Jäger und Mönche immer wieder mit in der Tierwelt und scheinen demnach eine nicht allzu unwichtige Rolle einzunehmen.

Kompatscher und Gufler setzen sich ausführlich mit der Fragestellung auseinander, wo und warum eine Grenze zwischen Mensch- und Tier gezogen wird und kommen zu dem Schluss, dass diese Grenzziehung ein menschliches Konstrukt ist, welches in der modernen Forschung keinen besonderen Halt findet. Vgl.[Kompatscher, Gufler 2017: 45] Unterschiede zwischen verschiedenen Tierarten seien nicht kleiner als der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Vgl.[Kompatscher, Gufler 2017: 41]

Unter diesen Gesichtspunkten lässt sich nun die Rolle des Menschen im Reinhart Fuchs genauer untersuchen, der, wie alle großen Tiere, in keinem besonders wohlwollenden Licht repräsentiert ist. Meist durch Ungeschicklichkeit oder sogar intellektuelle Unterlegenheit verliert der Mensch oft vor allem gegen die kleinen Tiere.

Die folgende Episode aus dem Reinhart Fuchs steht im Kontext des Aufeinandertreffens des Fuchses mit dem Kater Dieprecht, welcher ihn durch eine List in die Falle eines Jägers gelockt hat. Reinhart, welcher hilflos mit einem Fuß in der Falle verweilt, sieht nun den Bauern - den Besitzer der Falle - auf ihn zu kommen.

Übersetzung: Reinhart Fuchs (364-376)

Mittelhochdeutsch Übersetzung
do bedurfte er wol kvndikeit: Da bedurfte es wohl Verschlagenheit:
daz hovbet er vf di drvch hieng. Er senkte den Kopf auf die Falle.
der gebvr lief balde vnde gieng. Der Bauer eilte schnell herbei.
die kele was im wiz als ein sne: Die Kele war weiß wie Schnee.
vumf schillinge oder me Fünf Schillinge oder mehr
want er vil gewis han. glaubte er ganz sicher zu bekommen.
die axs er vfheben began Er began die Axt aufzuheben
vnde slvc, swaz er mochte erziehen. und schlug zu, so fest es ging
Reinhart mochte niht gevliehen, Reinhart konnte nicht entfliehen.
mit dem hovbte wanckt er hin baz, Den Kopf zog er genau
an der zit tet er daz. zur rechten Zeit weg.
der gebvr slvc, daz die drvhe brach, Der Bauer schlug, sodass die Falle zerbrach.
Reinharte nie liber geschach: Reinhart war nie etwas Besseres passiert.

Diese Textstelle ist also ein gutes Beispiel dafür, wie der kleine Fuchs „die mechanische Falle [des Menschen] mit einer intellektuellen Falle […] beantwortet“. [Dietl 2010: 48]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass hier auch Menschen nicht mehr sind, als große Tiere, welche sich auf ihre Waffen und Fallen verlassen, anstatt die kleinen Tiere als ebenbürtige Gegner zu akzeptieren und ihnen auch mit geistlicher Stärke entgegenzuwirken. Der Mensch wirkt oft nicht einmal selbst als Akteur gegen die Tiere, es sind lediglich seine Instrumente (z.B. Tierfallen), die kurzweilig siegen. Doch selbst diese haben die meisten kleinen Tiere so gut durchschaut, dass sie sich jene zunutze machen können. So sind, auch für die Hauptfigur Reinhart Fuchs, Menschen ein nutzbares Hilfsmittel im Kampf der Tiere untereinander. Vgl. [Bertau 1983:21]

Die Hierarchie der Tierwelt

Oberflächlich scheint die Hierarchie im Reinhart Fuchs klar geordnet zu sein. Eines der größten und stärksten aller Tiere herrscht über den Wald. Die physisch Unterlegenen müssen sich dem fügen. Doch der höchste Punkt dieser Rangordnung, der Löwe Vrewel, wirkt auffallend willkürlich aggressiv, sorgt sich nicht um seine Untertanen und strebt allein nach seinem eigenen Nutzen. Dietl nennt diese „verblendete Zornperspektive des Heros“ [Dietl 2010:52] als Grund für die Nichtpassung Vrewels in die Rolle des Herrschers. Auf den ersten Blick bildet also allein der Löwenherrscher die Spitze der Hierarchie – ihm zugunsten werden die anderen Tiere verstümmelt. Auch am Hof bekleiden größere Tiere die höheren Ämter. Um sich schert der Herrscher als Hofkaplan Brun den Bären, dazu den Elefanten, den Hirsch Randolt, das Kamel und weitere große Tiere. Es scheint außerdem so, als würden die Tiere selbst eine Einteilung in groß und klein vornehmen und sich einer der beiden Gruppen zugehörig fühlen. So sind am Hoftag alle großen Tiere auf der Seite des Wolfes: „swelch tier hat grozen lip hat, daz was mit Ysengrine da“. (alle großen Tiere waren mit Isengrin) (RF, Vers 1110-1111) Wirft man aber einen genaueren Blick auf die Handlung, fällt auf, dass vor allem das Verhalten des Löwenkönigs von kleinen Tieren wie der Ameise und letztlich des Fuchses gelenkt wird, ohne, dass Vrewel davon Kenntnis nimmt. Während die Ameise im Kopf des Löwen Schmerzen verursacht, bessert dieser sein Verhalten gegenüber seinen Untertanen. Die kleinen Tiere ordnen sich in dieser Hierarchie also nicht unter, sondern zerstören sie von innen. Die augenscheinliche Hierarchie, an deren Spitze das körperlich stärkste Tier, der Löwenkönig, steht, wird spätestens am Ende des Textes von Reinhart aufgelöst. Eines der kleineren Tiere setzt sich durch seinen Intellekt gegen alle großen Tiere durch. An der Spitze der Rangfolge steht also nicht der körperliche, sondern der geistige Vorteil.

Fazit

„Die selbsterhaltende Schlauheit [ist] aus der Not körperlicher Unterlegenheit geboren“ [Hübner 2016:87] Dies zeigt der erste Abschnitt des Textes, in welchem Reinhart als großer Co-Akteur von den kleinen Tieren lernt, dass Intellekt über Körperkraft siegt. Nicht nur gelingt es den kleinen Tieren, sich zu befreien. Das Beispiel der Ameise zeigt außerdem, dass es sogar den aller kleinsten Geschöpfen möglich ist, den großen Tieren Gewalt anzutun bzw. ihnen große Schmerzen zuzufügen. Deswegen nehmen die kleinen Tiere die Sieger-Rolle ein, was die großen Tiere dementsprechend zu Verlieren macht. Doch warum diese systematische Gegenüberstellung zwischen dummen großen und schlauen kleinen Wesen? Hübner begründet die Rollenzuschreibung der dümmlich-leichtgläubigen großen Tiere mit der Plausibilisierung des Handlungserfolgs des kleinen Fuchses. Es brauche „Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit des Co-Akteurs“ [Hübner 2016:88 f.] um den Sieg der physisch Benachteiligten überhaupt glaubhaft zu machen.

Nennenswert in Bezug auf die Rolle der kleinen Tiere ist auch die Tatsache, dass sie die wahre Natur der großen Raubtiere entlarven. Letzten Endes können die großen Tiere ihre animalischen Triebe nicht unterdrücken und ungezähmte Wilde.

Außerdem kann den körperlich Unterlegenen die Rolle der Sympathieträger zugeschrieben werden. Sie handeln zwar keineswegs gewaltfrei, jedoch kontrolliert und willentlich anstatt wahllos-triebgesteuert. „Durch die tugendethische Schlechtigkeit der Co-Akteure“ [Hübner 2016:81] und deren Laster, wird das ebenfalls unmoralische, aber intelligente Handeln der kleinen Tiere entschuldigt. Vgl. [Hübner 2016:81] In einer dargestellten Welt, in der sich ohnehin fast alle Figuren amoralisch verhalten, sympathisiert sowohl der Erzähler, als auch der Rezipient, mit denen, die zwar gewissenlos, aber schlau agieren. Vgl. [Hübner 2016:95] Die großen Tiere dagegen handeln unmoralisch und noch dazu unintelligent. Ebenfalls gilt es hier anzumerken, dass die Intention der gewaltvollen Aktion bei den kleinen Tieren oftmals nur die der Sicherung des Überlebens ist. Auch der Protagonist handelt als kleiner Gegenspieler oft aus Rache für Untaten, die ihm zuerst von Größeren angetan werden. Nach Mecklenburg entsteht Sympathie für die kleinen Geschöpfe auch, wenn diese sich, wie so oft, durch "menschliche Eigenschaften" auszeichnen. Dies lässt natürlich eine gewisse Identifikation zu, wohingegen der unkontrollierte "appetitus des Raubtiers" [Mecklenburg 2017:81] die großen Tiere weit vom Selbstbild des mittelalterlichen, aber auch gegenwärtigen Lesers entfernt.

Nicht unpopulär auch die Interpretation, der einfache Gegensatz der Tierwelt - groß gegen klein - dient als einfache Metapher für die weitaus komplexeren Ungleichheiten in der Gesellschaft. Dass in Heinrichs Fabelliteratur die kleineren Tiere gewinnen, lässt also eine sehr positiv-motivierende Sichtweise auf die Verhältnisse zu. Mecklenburg ist sich jedenfalls sicher, zumindest die Rolle die der Fuchs einnimmt ist die eines „Paradebeispiel[s] für die Möglichkeit der Selbstermächtigung eines Mannes, der nicht dem Normativ körperlich gewaltfähiger Maskulinität entspricht“. [Mecklenburg 2017:96] Allgemeiner gesprochen gibt Heinrich ein Beispiel dafür, dass Schläue über Körperlichkeit siegen kann, welches sich metaphorisch auf andere Ebenen der gesellschaftlichen Gegensätze bzw. Ungleichheiten heben ließe.

Literaturverzeichnis

  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S.18
  • [*Dimpel 2013] Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit. des weste Reinharte niman danc, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Bd. 135), Tübingen 2013, S.
  • [*Kompatscher, Gufler 2017] Kompatscher, Gufler: Human-animal studies: eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende, 2017S.41-45
  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 48-52
  • [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S.81-95
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S.81-95
  • [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S.21


[1]

  1. Alle Versangaben sowie Originaltexte der Übersetzungen stammen aus: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, Hg. Karl-Heinz Göttert, Reclam, Stuttgart 1976.