Hübner 2016: Schläue und Urteil (Reinhart Fuchs)
Dieser Artikel stellt leitende Thesen, Argumente und Schlussfolgerungen zur Interpretation zusammmen, die Gert Hübner zum "Handlungswissen im Reinhart Fuchs" [1] formuliert.
Hauptthesen
(12) Dem Autor des Reinhart Fuchs geht es um die Darstellung des Erfolgs schlechten aber schlauen Handelns (gegenüber schlechtem unschlauen Handeln) in einer schlechten Welt. (vgl. 95)
(1) da Reinhart auf die karnivorische Ernährung angewiesen ist; daher kann bspw. der Mord am Huhn nicht als moralisch verwerflich angesehen werden, da dieser unter das Naturrecht der Selbsterhaltung fällt; denn füchsisches Hühnerfressen ist nicht mit menschlichem Mord gleichzusetzen (vgl S. 90)
(3) Handlungsziele wie Rache, ehebrecherisches Begehren und Machtgewinn lassen Reinharts Verhalten amoralisch werden (vgl. S.92)
(4) Im Reinhart Fuchs werden Tiere als "Modelle menschlichen Handelns" betrachtet, weshalb die Figuren theoretisch über Handlungswissen verfügen (vgl. S.79). Nicht alle Handlungen sind somit auf Naturinstinkte zurückzuführen.
(7) Reinharts Klugheit liegt vor allem in der Deutung der Handlungssituation und der damit verbundenen Situationskontrolle. Diese erlangt er durch die Instrumentalisierung der Ordnungskonzepte. Seine Schwäche liegt in seiner, der Schlauheit zugrunde liegenden, Eitelkeit. (S. 88 f.)
(11) Im Reinhart Fuchs wird zunächst versucht, beim Rezipienten Sympathie für den Fuchs zu erwecken, um dessen schlechte Eigenschaften im folgenden Handlungsverlauf nur noch extremer wirken zu lassen (vgl. S.85).
(2) Die selbsterhaltene Schlauheit ist aus der Not der körperlichen Unterlegenheit geboren (vgl. S.87)
(5) Handeln ohne Moral in einer Welt voller Gefahren, kann entschuldigt werden mit dem Argument der Selbsterhaltung, was einer der ersten Naturrechte ist. (vgl. S. 78)
(6) Das Handeln der Tiere in Reinhart Fuchs begründet sich in ihrer Natur und nicht ihres freien Willens (vgl. S. 79).
(8) Die Tiererzählung 'Reinhart Fuchs' demonstriert, dass der Mensch gefährlicher ist als die Tiere (vgl. S.93).
(9) Im Reinhart Fuchs wird dargestellt, dass in einer amoralischen Welt nur Schlauheit Handlungserfolg verspricht, gegensätzlich führt das Laster der Torheit zum Verhängnis.
(10) Jemand der sich behaupten möchte, muss dazu gewillt sein schlecht zu handeln, denn die meisten Menschen handeln schlecht, jemand der unentwegt Gutes tut würde folglich zugrunde gehen (vgl. S. 78).
(13) Reinhart nutzt mittels seiner Manipulationskünste die Naivität und Unachtsamkeit seiner unterliegenden Co-Akteure aus (vgl. S. 87).
Argumente (mit Belegen)
- "Heinrichs Erzählung bietet mit ihren Beispielen für das Arrangieren und Deuten von Handlungssituationen, den Kalkülen auf das Handeln von Co-Akteuren und dessen Instrumentalisierung für das eigene Handeln geradezu eine Spielwiese für handlungstheoretische Analysen [...]" => dies ist kein tierisches Handeln, daher kann man nicht von Naturinstinkten sprechen, auf dessen Basis Handlungen vollzogen werden. (S.89)
- "Die amoralische Schlauheit des Akteurs muss erstens als vernunftkontrolliert dargestellt und zweitens durch die tugendethische Schlechtigkeit der Co-Akteure, also durch ihre Lasterhaftigkeit, gerechtfertigt werden." (S. 81) --> das Verhalten Reinhart's wird durch die Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit seitens der Tiere, die ihm zum Opfer fallen, gerechtfertigt, denn diese Charaktereigenschaften gelten als Lasterhaft, da die Kardinaltugend "prudentia" nicht ausreichend stark ausgeprägt ist
- Handlungsziele wie Rache oder ehebrecherisches Verhalten fallen "[...] nicht unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung [...]" (S.92), d.h. dieses Verhalten ist für Reinhart nicht überlebensnotwendig, sondern hat vielmehr triebgesteuerte oder egoistische Hintergründe.
- "Wenn Reinhart der physisch Stärkere ist, wie in den Anfangsepisoden mit den schwächeren Tieren (V. 13–384), reicht seine Schlauheit nicht für den Handlungserfolg." (S.83) ---> eine Bewertung der amoralischen Schlauheit ist somit auch immer von dem anderen Akteur abhängig (Reinhart-Diepreth verhält sich anders als Reinhart-Isnegrin)
- "Nur Menschen können nach Gesetzen handeln, weil die im Unterschied zu Tieren einen freien Willen haben, der es erlaubt, Gesetze zu machen und zu befolgen oder zu brechen." (S. 79) ---> König Vrevel wird ebenfalls Gesetze erschaffen haben.
- “nicht nur die Gewalt des Löwen, sondern ebenso die Schlauheit des Fuchses ist kein Produkt des vernunftgeleiteten freien Willens, sondern der Tiernatur." (S. 79) ---> "die Abhängigkeit der Schlauheit vom Intellekt und damit vom freien Willen auch unter den Voraussetzungen vormoderner Seelenlehren schwer aufheben lässt." (S. 79)
- "Indem der Fuchs gar nicht mehr wie ein Tier, sondern nur noch wie ein Mensch agiert [Motiv der Rache], übertrifft sein menschlischliches Handeln das teirische an Bestialität." (S.93f.)
- "Schlauheit besteht demnach zunächst in der aktionalen Kontrolle über die Deutung der Handlungssituation. [...] Die [...] nützliche Situationsbedeutung muss deshalb entweder im Vorhinein mit dem kulturellen Wahrscheinlichkeitswissen übereinstimmen oder dem Co-Akteur im Rekurs auf Wahrscheinlichkeitswissen glaubhaft gemacht werden." (S.88) --> Rheinharts Schlauheit (die Situationsdeutung) beruht auf dem Prinzip der Abschätzung und Annäherung des Wahrscheinlichen und des Glaubhaft-Machens.
- "Die Laster determinieren stets die Handlungsziele der jeweiligen Co-Akteure und plausibilisieren im Rekurs auf den Topos der Erkenntnistrübung durch die Affekte, dass die affektgetriebenen Betrugsopfer das Handlungsziel des Schlauen nicht erkennen. Der Bär beispielsweise fürchtet Reinhart (V 1513), vergisst jedoch wegen des in Aussicht gestellten Honigs jede Vorsicht."(S.93)
- "Das Handlungsziel der Tiere kann nicht immer moralisch bewertet werden" (vgl. S. 87) "Werden die Ziele auf die menschliche Ebene übertragen, dann fallen die Ziele unter die Selbsterhaltung" (vgl. S. 87). Reinhart kann aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit nur durch List für seine eigene Selbsterhaltung sorgen. "Damit Reinharts Schlauheit nicht nur in ihren Handlungsmitteln, sondern auch in ihren Handlungszielen als amoralisch ausgewiesen werden kann, braucht es außer der Ernährung noch Ziele wie Rache, ehebrecherisches Begehren und Machtgewinn, die nicht unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung fallen" (S. 92). Allerdings handelt Reinhart oft aus Rache etc.
- "»Sympathiesteuerungsverfahren« wären demnach – unter der Voraussetzung einer in den Anfangsepisoden demonstrierten Welt ohne »Gerechtigkeit« und (tugendethischen) »TunErgehen-Zusammenhang« – das »Empathiepotential« von Reinharts »Klugheit«, Raumfilter, Innenweltdarstellung, Protagonistenbonus, Recht auf Selbsterhaltung, körperliche Überlegenheit sowie Schlechtigkeit und Dummheit des Wolfs, zudem generell »die Bindung von negativen Figureninformationen an Reinharts Gegner«. In einem Kontrast dazu stünden negative Erzählerbewertungen Reinharts nur in den Anfangsepisoden mit den kleineren Tieren; danach dienten alle Rezeptionssteuerungsverfahren einem »Versuch, den Rezipienten auf die Fuchsperspektive festzulegen, sie drängen den Rezipienten zu einer positiven Bewertung der Fuchshandlung«. Angesichts der zum Ende hin immer deutlicheren Schlechtigkeit Reinharts [...]" (S.85)
- "Der Hahn hält Vorsicht für unnötig, weil der Bauer wegen der Beschwerden der Bäuerin über Hühnerverlüste gerade einen Zaun um den Hof gebaut hat." --> Sorglosigkeit Scanteclers "Reinharts Handlungsmittel, das den Hahn vom Ast herunterbringen soll, ist die Etablierung einer Situationsbedeutung, die eine Bewertung von Scanteclers Handeln enthält." --> Geschicklichkeit Reinharts im Bezug auf seine Machenschaften (S.87-88)
Schlussfolgerungen zur Interpretation
- Ist der Tod des Königs gerechtfertigt?
- Wird der Wolf zu Recht verstümmelt?
- Geschieht die Vergewaltigung der Wölfin zu Unrecht?
- Ist das Todesurteil über Reinhart gerechtfertigt?
- ↑ Alle Seitenagaben beziehen sich auf Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96.