Negationspartikelentwicklung in der Textgeschichte

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Die Negationspartikel im Deutschen haben einen Wandel im Laufe der Textgeschichte durchlaufen. Das zugrundeliegende Phänomen in dieser Entwicklung ist in der Sprachgeschichte als "Jespersen Zyklus" bekannt. In diesem Artikel wird die Entwicklung der Negationspartikel mit Hilfe des Jespersen Zyklus beschrieben. Im Anschluss erfolgt eine syntaktische Analyse der Negation mit Hilfe von Baumstrukturen.


Der Jespersen Zyklus

Abb.1: Jespersen Zyklus
"Jespersen's Cycle - the repeated pattern of successive weakening and restrengthing of the negative marker." [Horn 1998:446]

Wie Horn (1998) in dem Zitat prägnant zusammenfasst, beschreibt der Jespersen Zyklus ein sich wiederholendes Muster der Schwächung und Verstärkung des negativen Markers. Jespersen (1917) beschreibt dieses Phänomen als zyklisch und unterteilt es in mehrere Schritte (s. Abb.1). Im ersten Schritt wird die Negation durch einen einzigen Partikel ausgedrückt. In der Entwicklung zum zweiten Schritt wird der Negationspartikel zu einem Klitikon[1]. Zusätzlich tritt eine Verstärkung durch einen grammatikalisierten Minimierer oder einen Indefiniten. Daraus resultiert in Stufe zwei eine Negation bestehend aus zwei Teilen, dem Klitikon und einem verstärkendes Morphem. Das Klitikon wird im nächsten Schritt fakultativ und verschwindet letztendlich ganz. Dadurch besteht die Negation in der dritten Stufe nur noch aus dem ursprünglich verstärkendem Morphem. Anschließend schließt sich der Kreis wieder und es das freie Morphem entwickelt sich wieder in ein Klitikon, dass den Zyklus erneut durchlaufen wird. [Jespersen 1917] Das Muster des Jespersen Zyklus lässt sich in vielen Sprachen erkennen, wie zum Beispiel Englisch, Französisch oder Niederländisch. [Lenz 2018:184] In den nächsten Abschnitten wird die Entwicklung des Negationspartikel im Deutschen näher betrachtet.

Althochdeutsch

Das Althochdeutsche wird ca. zwischen 750 und 1050 datiert. [Jäger 2005:227] Wie an den Beispielen aus [Otfrid] zu erkennen ist, wird die Negation aus dem Partikel ni gebildet. Dieser stammt aus dem Protogermanischen.

  1. Thaz síe ni wesen éino
dass sie NEG sind allein
"dass sie nicht alleine sind"
(O Ι. 1,115)[2]
  1. ni mohta inbéran sin
sie NEG konnte entbehren ihn
"sie konnte ihn nicht entbehren"
(O Ι. 8, 3)
  1. sie ni múasun gan so fram
sie NEG müssen gehen so weit
"sie müssen nicht so weit gehen"
(O ΙV. 20, 4)

Zum Ende der Periode des Althochdeutschen wurde der Partikel ni phonologisch zu ne oder en abgeschwächt.

Mittelhochdeutsch

Die Periode des Mittelhochdeutschen (1050 - 1350) ist durch eine zweiteilige Negation geprägt.[Jäger 2005:228] Beispielhaft dafür sind die folgenden Sätze aus der Handschrift D (ca.1260) des Parzivals:

  1. er enmac es vor jâmer niht enthaben
er NEG kann es vor Sehnsucht NEG zurückhalten
"er kann es vor Sehnsucht nicht zurückhalten"
(P 180, 1)[3]
  1. Ich enbin z niht
Ich NEG bin es NEG
"Ich bin es nicht"
(P 476, 24)
  1. daz enschadete in an den ougen niht
dass NEG schadete ihn an den Augen NEG
"dass schadete seinen Augen nicht"
(P 487, 3)

Hier besteht die Negation aus den beiden Teilen en und niht. Alternativ gab es auch die Variante ne und niht in Kombination. Beides stellt die vom Jespersen Zyklus vorhergesagte zweiteilige Negation im zweiten Schritt da, die die ursprüngliche Variante verstärkt. Dabei ist außerdem wichtig, dass bei beiden Fällen nur der erste Teil ein Klitikon ist und sich mit dem Verb bewegt. Wichtig an dieser Stelle zu beachten, ist dass sich die verschiedenen Abschnitte überschneiden und auch bereits in der Periode des Mittelhochdeutschen Negationen mit dem Negationspartikel niht auftreten.

Frühneuhochdeutsch

Zu Beginn der Frühneuhochdeutschen Periode (1350 - 1650) geht der enklitische Partikel verloren. [Jäger 2005:229] Als Resultat bleibt nur noch das freie Morphem niht/nicht erhalten und bildet somit alleine die Negation. Die Bespiele aus [Ereck] stammen aus den Handschriften K und A. Hier ist erstens die neue Form der Negation erkennbar und zweitens die Entwicklung des Partikels niht in der Handschrift K (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) zu nicht in der Handschrift A (1504-1516/17):

  1. Ob iuch des niht bedruzet (Hs. K)
ob euch es nicht verdreust (Hs. A)
Wenn euch das NEG stört
"Wenn es euch nicht stört"
(E 8572)[4]
  1. Vindet ir sin denne niht (Hs. K)
vindet Ir des dann nicht(Hs. A)
Findet ihr ihn dort NEG
"Findet ihr diesen aber nicht"
(E 8601)
  1. und enleiste niht, daz er gehiez: (Hs. K)
und laiste Ir nicht, des er gehiess: (Hs. A)
und NEG einlöste, was er versprach:
"und nicht einlöste, was er versprochen hatte:"
(E 8542)

Das dritte Bespiel zeigt noch einmal die Unterschiede zwischen der mittelhochdeutschen und der frühneuhochdeutschen Negation am selben Satz aus [Ereck]. Auch heute noch wird diese Variante der Negation benutzt. Anders als im Englischen[5] hat das Deutsche die zyklische Bewegung zu Stufe 1 zurück, wie es der Jespersen Zyklus beschreibt, noch nicht durchlaufen. [Jäger 2005:241]

Syntaktische Analyse

Abb.2: Syntaxbaum der Negation

Die Syntax beschäftigt sich mit der Bildung von Sätzen und somit auch mit der Position der Negation im Satz. Als Veranschaulichung der Satzstruktur werden Strukturbäume verwendet. In diesem Abschnitt wird es um die Position der Negationen in diesen Strukturbäumen gehen und wie sich die Position in verschiedenen Theorien entwickelt hat.

Theorieentwicklung

Zu Beginn wurde die Negation als adverbiales Adjunkt oder als Kopf-Adjunkt zu V gesehen. [Jäger 2005:230] Nach Grewendorf (1990) ist die Negation eine rechtsstehendes adverbiales Adjunkt zu VP, aber keine funktionale Projektion die VP dominiert.[Grewendorf 1990] Diese Theorie kann jedoch durch die Betrachtung von den früheren Negationspartikeln widerlegt werden. Da ni und en/ne proklitisch[6] sind, ist diese Stellung nicht möglich. Da eine syntaktische Struktur für den gesamten Verlauf der Geschichte gültig sein muss.[Jäger 2005:235] Weiß (1998) setzte die Negation als Kopf-Adjunktion auf die linke Seite der VP.[Weiß 1998] Da jedoch im Mittelhochdeutschen die Negation aus zwei Teilen besteht, die das Verb umschließen können, ist auch diese Theorie nicht gültig.

Negation als funktionale Projektion

Die oben genannten Theorien machen alle den Fehler, die Negation nicht als eigene funktionale Projektion NegP anzusehen. Jäger 2005 überging diesen Fehler und gab der Negation in der Struktur eine eigene funktionale Projektion in Komplementposition[7] zu T und VP dominierend (s. Abb.2). Diese Vorgehensweise kann auch auf alle Negationspartikel im Laufe der Geschichte angewendet werden:

Im Althochdeutschen steht die Negation ni in Kopfposition und c-kommandiert[8] somit das Verb. In dieser Position kann es durch seine proklitischen Eigenschaften sich auch mit dem Verb bewegen. Anschließend bleibt der erste Teil der Negation ne/en im Mittelhochdeutschen in Kopfposition wie ihr Vorgänger. Der zweite Teil niht steht in Spezifiziererposition von NegP. Dies ist möglich da es kein Klitikon ist und sich nicht mit dem Verb bewegt. Die Negation nicht von heute steht an der selben Position wie ihr Vorgänger. Der Unterschied zum Mittelhochdeutschen ist, dass die Kopfposition leer steht und es keinen Negationspartikel gibt, der sich mit dem Verb bewegt. Spinnt man dieses Gerüst weiter, so wie es der Jespersen-Zyklus vorhersagt, dann wandert der Negationspartikel im nächsten Schritt wieder an Kopfposition von NegP und bildet ein Klitikon zum Verb.[Jäger 2005:237]


Fazit

Mit Hilfe von den Textbespielen [Otfrid], [Parzival] und [Ereck] aus der deutschen Geschichte wurde in diesem Artikel die Entwicklung der Negation aufgezeigt. Dabei veränderte sich der Negationspartikel von ni zu en/ne ... niht zu nicht der heutigen Zeit. Diese Entwicklung entspricht dem Konzept des Jespersen Zyklus, der ein dreistufiges System der Schwächung und Verstärkung der Negation beschreibt (s. Abb.1). Jäger (2005) wandelte dies dann in eine syntaktische Baumstruktur um (s. Abb.2) und fand damit eine Lösung für ein lange diskutiertes Problem der Darstellung von Negation in Baumstrukturen. In diesem Ansatz ist die Negation eine eigne funktionale Projektion die VP dominiert. Die enklitischen Partikel stehen darin in Kopfposition und die freien Morpheme an Spezifiziererposition der funktionalen Projektion NegP.


Anmerkungen

  1. Ein Klitikon ist ein Wort, dass sich an ein benachbartes betontes Wort anlehnen muss.
  2. Im Folgenden steht die Abkürzung "O" immer für folgende Ausgabe des Evangelienbuches: [Otfrid].
  3. Im Folgenden steht die Abkürzung "P" immer für folgende Parzival Ausgabe: [Parzival].
  4. Im Folgenden steht die Abkürzung "E" immer für folgende Ereck Ausgabe: [Ereck].
  5. Entwicklung der Negation nach dem Jespersen Zyklus im Englischen: 1. ic ne secge, 2. I ne seye not, 3. I say not, 4. I do not say, 5. I don't say.[Lenz 2018:184]
  6. Proklitisch ist eine Form von Klitikon, dass sich an ein nachfolgendes betontes Wort anlehnt. Das Antonyme dazu wäre enklitisch.
  7. Die Komplementposition ist die Schwesterposition vom Kopf und steht meist links vom Kopf.
  8. Das C-Kommando ist eine Beschreibung für die Position von zwei Punkten zueinander. Allgemein heißt es: A c-kommandiert B genau dann, wenn der Knoten, der unmittelbar A dominiert auch B dominiert und A nicht B dominiert.


Literaturverzeichnis

[*Grewendorf 1990]Grewendorf, G. 1990, Verb-Bewegung und Negation im Deutschen, Groninger Arbeiten zur Germanistischen Linguistik 30,S.57-125

[*Horn 1998]Horn, L.R. 1989, A natural history of negation, 1. print edn, Univ. of Chicago Press, Chicago, Ill. [u.a.].

[*Jäger 2005]Jäger, A. 2005, "Negation in Old High German", Zeitschrift für Sprachwissenschaft, vol. 24, no. 2, pp. 227-262.

[*Jespersen 1917]Jespersen, O. 1917, Negation in English and other languages, Hœst, Kœbenhavn.

[*Lenz 2018]Lenz, B. 2018, "Negationsverstärkung und Jespersens Zyklus im Deutschen und in anderen europäischen Sprachen" in Deutsch - Typologisch, eds. E. Lang & G. Zifonun, Originally publish 1996 edn, De Gruyter, Berlin, Boston, pp. 183-200.

[*Weiß 1998]Weiß, H. 1998, Syntax des Bairischen: Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache, Niemeyer.

Textausgaben

[*Ereck]Hartmann von Aue, Felber, T., Hammer, A., Millet, V., Merten, L. & Walter de Gruyter GmbH & Co. KG 2022, Ereck: Texte sämtlicher Handschriften - Übersetzung - Kommentar, 2., überarbeitete Auflage edn, De Gruyter, Berlin;Boston;.

[*Parzival]Wolfram von Eschenbach & Reichert, H. 2019, Wolfram von Eschenbach: Parzival, Praesens Verlag, Wien.

[*Otfrid]Otfrid von Weißenburg & Kleiber, W. 2006, Evangelienbuch Bd. 2, Edition der Heidelberger Handschrift P (Codex Pal. Lat. 52) und der Handschrift D (Codex Discissus: Bonn, Berlin/Krakau, Wolfenbüttel) / hrsg. und bearb. von Wolfgang Kleiber .Texte (P, D) / hrsg. und bearb. von Wolfgang Kleiber, Niemeyer, Tübingen.