Prinzip Wiedererzählen

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen


Das Prinzip Wiedererzählen (Retextualisierung) definiert das hochmittelalterliche Verständnis für gelungene Dichtung.

Bei diesem wurde, anders als in der neuzeitlichen Dichtung, das Erfinden neuer Texte (Orginalität und schöpferische Innovation) als wenig kunstvoll betrachtet. Dafür aber galt das Finden und Bearbeiten von bereits vorhandenen Texten (bene tractare) als äußerst kreativ und gelungen.

"Es ist schwierig, einen bekannten und verbreiteten Stoff zu bearbeiten. Aber je schwieriger, desto lobenswerter... Jedenfalls viel wertvoller, als einen neuen Stoff zu erfinden, der noch unbenutzt ist."
Geoffrey von Vinsauf, Poetria nova, §132 (um 1200)

Häufig wurde der gegebene Text durch neue Abschnitte erweitert und/oder mit ihnen verknüpft. Das bedeutet, dass der "Finder" die von dem "Erfinder" gedichteten Textbausteine in seiner Dichtung wortwörtlich einbaute und somit übernahm. Die Dilatatio materiae (zu Deutsch: Ausweitung des Stoffes) war also eine zentrale rhetorische Technik.

"Doch ist der ein guot zimberman,
der in sînem werke kan
stein und holz legen wol,
dâ erz von rehte legen sol.
Daz ist untugende niht,
ob ouch mir lîhte geschiht,]
daz ich in mîns getihtes want
ein holz, daz ein ander hant
gemeistert habe, lege mit list,
daz ez gelîch den andern ist.
Dâ von sprach ein wîse man:
Swer gevuoclîchen kan
setzen in sîme getiht
ein rede, die er machet niht,
der hât alsô vil getân,
dâ zwîvelt nihtes niht an,
als der, derz vor im êrste vant.
Der vunt ist worden sîn zehant.
Ez ist in mînem willen wol,
daz man sîn rede stætigen sol
mit ander vrumer liute lêre,
niemen versmæhen, daz ist êre."
Thomasîn von Zerclaere, Der welsche Gast, V.105ff.(1215/16)

Für den Zusammenhang zwischen dem Prinzip des Wiedererzählens und einem Modell der mittelalterlichen Autorenschaft, wird Poeta doctus empfohlen.