Die Urinepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst): Unterschied zwischen den Versionen

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Die Urinepisode in Ulrich von Liechtensteins ''Frauendienst'' zeugt von großer Bedeutung, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Wie der Titel dieses Artikels zeigt, verrichtet jemand in der Episode seine Notdurft auf Ulrich. Die Folgen sind für den weiteren Verlauf ausschlaggebend. Nicht nur die Erniedrigung, die Ulrich in diesem Moment erleidet, ist entscheidend. Aus ihr resultiert durch das Ablegen seiner Kleidung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, der Verlust seiner Identität. Die Episode und ihre anschließenden Folgen werden kurz in den Zusammenhang der Geschichte eingeordnet und anschließend interpretierend analysiert.
Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein ''Frauendienst'' zeugt von großer Bedeutung, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Wie der Titel dieses Artikels zeigt, verrichtet jemand in der Episode seine Notdurft auf Ulrich. Die Folgen, über die Erniedrigung hinaus, für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend. Aus der Urinepisode resultiert durch Ulrichs Ablegen von Kleidung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, der Verlust seiner Identität. Die Episode und ihre anschließenden Folgen werden kurz in den Zusammenhang der ''histoire'' eingeordnet und anschließend interpretiert.


=Einordnung in den Gesamtzusammenhang=
=Einordnung in den Gesamtzusammenhang=


==Vorgeschichte==
==Vorgeschichte==
Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker verkleidet zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden. (FD, 1114) Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken, um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich am Tag der Burg nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame gezogen werden. (FD, 1184/85)
Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker [[Kleidung und Verkleidung (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst|verkleidet]] zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden. (FD, 1114) Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken, um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich am Tag der Burg nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame gezogen werden. (FD, 1184/85)


==Die Urinepisode==
==Die Urinepisode==
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==Erniedrigung im Moment==
==Erniedrigung im Moment==
Es lassen sich drei verschiedene Formen von Erniedrigung feststellen: Zum einen ist es die Tatsache, dass Ulrich durch die Exkremente eines anderen beschmutzt wird. Dieses Bild kann sich der Leser leicht vorstellen und wird gleichzeitig auch die entsprechenden Gefühle des Beschmutztseins und der Erniedrigung empfinden, denn von der Notdurft eines Fremden geschändigt zu werden ist wohl eine der höchsten Formen von Erniedrigung. Sie soll daher im Weiteren als ''bildlich-emotionale Erniedrigung'' bezeichnet werden. Desweiteren ist die räumliche Distanz ausschlaggebend, denn der "husschaffer" befindet sich über Ulrich. Eine räumliche Oben-Unten-Beziehung, die sich auch in der sozialen Hierarchie widerspiegelt: Während Ulrich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft den Ritterstand repräsentiert, gehört der Hausmeister einer niedrigeren Schicht an. Dennoch steht er durch das Wasserlassen auf Ulrich in dieser Episode über dem Ritter - räumlich wie sozial, bzw. der rühmliche Ritter wird in seiner ständischen Position herabgewürdigt. Daher trägt diese Form der Erniedrigung das Attribut ''räumlich-sozial''. Die letzte Art der Erniedrigung ist das Ablegen der Kleidung. Während die bildlich-emotionale und die räumlich-soziale Erniedrigung leicht nachzuvollziehen sind, ist die ''Erniedrigung durch Nacktheit'' durchaus komplexer. Sie geht in der Tradition der höfischen Minnelyrik einher mit einem Identitätsverlust. Wie genau sich dieser konstituiert, soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
Es lassen sich drei verschiedene Formen von Erniedrigung feststellen: Zum einen ist es die Tatsache, dass Ulrich durch die Exkremente eines anderen beschmutzt wird. Dieses Bild kann sich der Leser leicht vorstellen und wird gleichzeitig auch die entsprechenden Gefühle des Beschmutztseins und der Erniedrigung empfinden, denn von der Notdurft eines Fremden geschändigt zu werden ist wohl eine der höchsten Formen von Erniedrigung. Sie soll daher im Weiteren als ''bildlich-emotionale Erniedrigung'' bezeichnet werden. Desweiteren ist die räumliche Distanz ausschlaggebend, denn der "husschaffer" befindet sich über Ulrich. Eine räumliche Oben-Unten-Beziehung, die sich auch semantisch in der sozialen Hierarchie widerspiegelt: Während Ulrich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft den Ritterstand repräsentiert, gehört der Hausmeister einer niedrigeren Schicht an. Dennoch steht er durch das Wasserlassen auf Ulrich in dieser Episode (räumlich wie sozial) über dem Ritter; d.h. der rühmliche Ritter wird in seiner ständischen Position herabgewürdigt. Daher trägt diese Form der Erniedrigung das Attribut ''räumlich-sozial''. Die letzte Art der Erniedrigung ist das Ablegen der Kleidung. Während die bildlich-emotionale und die räumlich-soziale Erniedrigung leicht nachzuvollziehen sind, ist die ''Erniedrigung durch Nacktheit'' durchaus komplexer. Sie geht in der Tradition der höfischen Minnelyrik einher mit einem Identitätsverlust. Wie genau sich dieser konstituiert, soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden.


=="Null-Identität"==
=="Null-Identität"==
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"Nicht so wie ihr es wollt" - dieser Ausdruck lässt sich auf die Darstellung Ulrichs übertragen. Ob Ulrich ohne zuvor erfahrene Erniedrigung und mit identitätsstiftender höfischer Kleidung bessere Chancen gehabt hätte, wird sich kaum klären lassen. Nichtsdestotrotz ist der Zusammenhang zwischen Kleidung, Identität und Ablehnung seitens der Dame kaum zu verkennen. <br />
"Nicht so wie ihr es wollt" - dieser Ausdruck lässt sich auf die Darstellung Ulrichs übertragen. Ob Ulrich ohne zuvor erfahrene Erniedrigung und mit identitätsstiftender höfischer Kleidung bessere Chancen gehabt hätte, wird sich kaum klären lassen. Nichtsdestotrotz ist der Zusammenhang zwischen Kleidung, Identität und Ablehnung seitens der Dame kaum zu verkennen. <br />
Bisweilen war von einer "Null-Identität" die Rede. Diese konstituiert sich aus misslungenen kollektiven Identitätsbildung, die hier durch das Habitus-Merkmal ''Kleidung'' definiert wurde. Aus der kollektiven Identität könnte sich Ulrich als Individuum nun persönlich identifizieren. Doch durch die fehlende Oberkleidung fehlt ihm bereits hier eine wichtige Voraussetzung: Er gehört (in diesem Moment) keinem Stand an. Doch persönliche Identität lässt sich auch an anderen Merkmalen als Kleidung und Standesschicht formen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer untersucht werden.
Bisweilen war von einer "Null-Identität" die Rede. Diese konstituiert sich aus misslungener kollektiver Identitätsbildung, die hier durch das Habitus-Merkmal ''Kleidung'' definiert wurde. Aus der kollektiven Identität könnte sich Ulrich als Individuum nun persönlich identifizieren. Doch durch die fehlende Oberkleidung fehlt ihm bereits hier eine wichtige Voraussetzung: Er gehört (in diesem Moment) keinem Stand an. Doch persönliche Identität lässt sich auch an anderen Merkmalen als Kleidung und Standesschicht formen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer untersucht werden.


==Identitätsverlust==
==Identitätsverlust==
Wie sich Identität kollektiv über Kleidung in der höfischen Gesellschaft konstituiert wurde bereits erläutert. Es wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass Kleidung nur ein Merkmal des höfischen Habitus ist. Der Begriff der persönlichen Identität kann daher nicht eingeschränkt auf Kleidung bleiben, sondern muss noch weiter abstrahiert werden: Identität kommt dadurch zustande, dass ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld interagiert. Aus der Diskrepanz oder Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung generiert sich dann Identität.[Kartschoke 2001: 63] Wenn ein Individuum seine Identität verliert, bedeutet das folglich, dass der genannte soziale Prozess rückgängig gemacht wird. Das Ich kann sich dann nicht mehr über Abgrenzung ''zu'' oder Übereinstimmung ''mit'' anderen definieren und wird auch von anderen nicht mehr auf diese Weise gesehen. So betrachtet ist der Identitätsverlust gleichbedeutend mit sozialer Unsichtbarkeit. Gleichzeitig steht Identität in Verbindung mit Subjektivität, denn auch diese entsteht durch ein Ich "in Auseinandersetzung mit der Welt" [Ackermann 2009: 1]. Geht also die Identität verloren, hat dies auch einen Einfluss auf die Subjektivität des Betroffenen. Zwar nimmt er sich immer noch als ein "seiner selbst bewusstes Individuum" [Kartschoke 2001: 63] wahr, aber die von außen zugeschriebene Subjektivität kann ohne Identität nicht aufrecht erhalten werden.<br />
Wie sich Identität kollektiv über Kleidung in der höfischen Gesellschaft konstituiert wurde bereits erläutert. Es wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass Kleidung nur ein Merkmal des höfischen Habitus' ist. Der Begriff der persönlichen Identität kann daher nicht eingeschränkt auf Kleidung bleiben, sondern muss noch weiter abstrahiert werden: Identität kommt dadurch zustande, dass ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld interagiert. Aus der Diskrepanz oder Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung generiert sich dann Identität.[Kartschoke 2001: 63] Wenn ein Individuum seine Identität verliert, bedeutet das folglich, dass der genannte soziale Prozess rückgängig gemacht wird. Das Ich kann sich dann nicht mehr über Abgrenzung ''zu'' oder Übereinstimmung ''mit'' anderen definieren und wird auch von anderen nicht mehr auf diese Weise gesehen. So betrachtet ist der Identitätsverlust gleichbedeutend mit sozialer Unsichtbarkeit. Gleichzeitig steht Identität in Verbindung mit Subjektivität, denn auch diese entsteht durch ein Ich "in Auseinandersetzung mit der Welt" [Ackermann 2009: 1]. Geht also die Identität verloren, hat dies auch einen Einfluss auf die Subjektivität des Betroffenen. Zwar nimmt er sich immer noch als ein "seiner selbst bewusstes Individuum" [Kartschoke 2001: 63] wahr, aber die von außen zugeschriebene Subjektivität kann ohne Identität nicht aufrecht erhalten werden.<br />
In der Urinepisode erfährt Ulrich insofern einen Identitätsverlust als dass er sich entkleiden muss (vgl. FD 1190). Im 13. Jahrhundert und auch in Ulrich von Liechtensteins ''Frauendienst'' wird die kostbare adlige Kleidung detailliert beschrieben, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich der Adel bereits über seine Kleidung von anderen, weniger wohlhabenderen Schichten abgrenzte. [Blaschitz 1999: 374/75] Außerdem ist es gerade der narrative Prozess, die Beschreibung von Kleidung, die letztlich die Identität schafft. Sie muss als Produkt und Effekt aufgefasst werden und nicht als essentielle Begebenheit, die im Text beschreiben wird.[Kraß 2006: 23] Somit hatte die Art der Kleidung zu Ulrichs Zeiten idenitätsstiftende Funktion. Fällt diese nun weg, geht dies im Umkehrschluss mit einem Identitätsverlust einher. Ulrich erfährt in der entsprechenden Episode ohnehin schon eine Erniedrigung, weil er als Bettler verkleidet ist (''gewant, daz boese'', (FD 1190)). Obwohl alle relevanten Beteiligten wissen, dass das Bettlergewand nur den Status eines Kostüms hat und nicht Ulrichs normaler Kleidung entspricht, bedeutet der Verlust dieser Maskerade trotzdem einen Identitätsverlust: "Wer nackt ist, ist sozial nackt, hat seine höfische Identität verloren."[Kraß 2006: 220] Zudem wird Ulrich durch den Urin soweit erniedrigt, dass er nicht einmal mehr die Kleidung eines Bettlers tragen kann, sondern sich entblößen muss und damit nicht nur seine Identität als Ministerialer Ulrich von Liechtenstein sondern auch seine fingierte Identität als leprakranker Bettler ablegen muss.
In der Urinepisode erfährt Ulrich insofern einen Identitätsverlust, als er sich entkleiden muss (vgl. FD 1190). Im 13. Jahrhundert und auch in Ulrichs von Liechtenstein ''Frauendienst'' wird die kostbare adlige Kleidung detailliert beschrieben, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich der Adel bereits über seine Kleidung von anderen, weniger wohlhabenderen Schichten abgrenzte. [Blaschitz 1999: 374/75] Außerdem ist es gerade der narrative Prozess, die Beschreibung von Kleidung, die letztlich die Identität schafft. Sie muss als Produkt und Effekt aufgefasst werden und nicht als essentielle Begebenheit, die im Text beschreiben wird.[Kraß 2006: 23] Somit hatte die Art der Kleidung zu Ulrichs Zeiten identitätsstiftende Funktion. Fällt diese nun weg, geht dies im Umkehrschluss mit einem Identitätsverlust einher. Ulrich erfährt in der entsprechenden Episode ohnehin schon eine Erniedrigung, weil er als Bettler verkleidet ist (''gewant, daz boese'', (FD 1190)). Obwohl alle relevanten Beteiligten wissen, dass das Bettlergewand nur den Status eines Kostüms hat und nicht Ulrichs normaler Kleidung entspricht, bedeutet der Verlust dieser Maskerade trotzdem einen Identitätsverlust: "Wer nackt ist, ist sozial nackt, hat seine höfische Identität verloren."[Kraß 2006: 220] Zudem wird Ulrich durch den Urin soweit erniedrigt, dass er nicht einmal mehr die Kleidung eines Bettlers tragen kann, sondern sich entblößen muss und damit nicht nur seine Identität als Ministerialer Ulrich von Liechtenstein sondern auch seine fingierte Identität als leprakranker Bettler ablegen muss.


=Fazit=
=Fazit=
Die Urinepisode in Ulrich von Liechtensteins ''Frauendienst'' ist von großer Bedeutung und dient nicht einfach nur der Belustigung. Auf der einen Seite zeigt sie die Beständigkeit Ulrichs in der Liebe zu seiner Herrin. Trotz dieser kaum zu überbietenden Erniedrigung bleibt er standhaft, von der Hoffnung geleitet sie wiederzusehen. Auch die anschließenden Erniedrigungen erschüttern seinen Glauben an die Liebe nicht. Selbst nach seinem Sturz aus der Burg und dem Versuch sich zu ertränken, schwört er seiner Herrin immer noch Treue. Die Szene ist beispielhaft für das Nebeneinander von Freude und Leid, von Glück und Schmerz der Minnesänger.<br />
Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein ''Frauendienst'' ist von großer Bedeutung und dient nicht einfach nur der Belustigung. Auf der einen Seite zeigt sie die Beständigkeit Ulrichs in der Liebe zu seiner Herrin. Trotz dieser kaum zu überbietenden Erniedrigung bleibt er standhaft, von der Hoffnung geleitet sie wiederzusehen. Auch die anschließenden Erniedrigungen erschüttern seinen Glauben an die Liebe nicht. Selbst nach seinem Sturz aus der Burg und dem Versuch sich zu ertränken, schwört er seiner Herrin immer noch Treue. Die Szene ist beispielhaft für das Nebeneinander von Freude und Leid, von Glück und Schmerz der Minnesänger.<br />
Aus einer anderen Perspektive zeigt die Episode auch die große Bedeutung von Kleidung im Frauendienst. An dieser einzelnen Szene lassen sich Identitätsbildung, Identitätsverlust und Konstitution einer völlig neuen, nicht greifbaren Identität ablesen. Im Allgemeinen spielt der Identitätsbegriff im ''Fraundienst'' eine große Rolle. In der Frage, ob es sich nun tatsächlich um eine reale Autobiographie handelt oder doch nur um eine fiktive, oder vielleicht um eine Vermengung aus beiden Extrema, muss der Identitätsbegriff berücksichtigt werden. Dazu geben die Artikel [[Identität und Individuum (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]], [[Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]] und [[Autobiografische Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]] weitere Auskunft.
Aus einer anderen Perspektive zeigt die Episode auch die große Bedeutung von Kleidung im Frauendienst. An dieser einzelnen Szene lassen sich Identitätsbildung, Identitätsverlust und Konstitution einer völlig neuen, nicht greifbaren Identität ablesen. Im Allgemeinen spielt der Identitätsbegriff im ''Fraundienst'' eine große Rolle. In der Frage, ob es sich nun tatsächlich um eine reale Autobiographie handelt oder doch nur um eine fiktive, oder vielleicht um eine Vermengung aus beiden Extrema, muss der Identitätsbegriff berücksichtigt werden. Dazu geben die Artikel [[Identität und Individuum (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]], [[Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]] und [[Autobiografische Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)]] weitere Auskunft.



Version vom 13. Juni 2013, 10:55 Uhr

Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst zeugt von großer Bedeutung, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Wie der Titel dieses Artikels zeigt, verrichtet jemand in der Episode seine Notdurft auf Ulrich. Die Folgen, über die Erniedrigung hinaus, für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend. Aus der Urinepisode resultiert durch Ulrichs Ablegen von Kleidung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, der Verlust seiner Identität. Die Episode und ihre anschließenden Folgen werden kurz in den Zusammenhang der histoire eingeordnet und anschließend interpretiert.

Einordnung in den Gesamtzusammenhang

Vorgeschichte

Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker verkleidet zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden. (FD, 1114) Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken, um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich am Tag der Burg nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame gezogen werden. (FD, 1184/85)

Die Urinepisode

Die Episode besteht aus den Versen 1188-1190:

Mittelhochdeutscher Text[1]

Neuhochdeutsche Übersetzung[2]

1188 Als tet ouch der geselle min,
wir muosten da vil stille sin.
do wir verholn lagen hie,
der husschaffer selbe sibent gie
umbe die burc her und dar;
er nam vil vliziclichen war,
ob iemen dar waer verholn chomen,
des wart von im wol war genomen.

So tat es auch mein lieber Freund,
wir mußten nun sehr stille sein.
Als wir versteckt so lagen dort,
da ging der Hausverwalter und
sechs Männer um die Burg herum;
er hatte eifrig nachzuseh'n,
ob jemand heimlich kommen wär'.
das nahm er dann auch sicher wahr.

1189 Do er ez hier und dort gesach,
nu horet, waz mir dort geschach:
ez gie der ungemuote man
von sinen gesellen zuo mir stan
und tet sin unzuht da uf mich,
so daz da von gar naz wart ich;
des getorst ich im geweren niht,
daz was ein wunderlich geschiht.

Als er so hin- und hergespäht,
nun hört, was mir nun dort geschah:
Es kam der wiederwärtige Mann,
er stand gerade über mir
und schlug auf mich sein Wasser ab,
und ich war danach ganz durchnäßt;
ich traute mich nicht wehren dort,
die Sache war recht seltsam doch.

1190 Da mit er in die burc sa gie.
so saz ich also nazzer hie,
daz was mir leit und ungemach;
uz der lin daz lieht ich sach
liuhten: do stuont ich zehant
uf und zoch abe min gewant,
daz boese, daz ich durch heln truoc,
daz barg ich snellich genuoc.

Dann ging er in die Burg hinein.
So saß ich nun ganz naß herum,
ganz elend war's und unbequem;
ich sah das Licht im Fenster bald:
Da stand ich auf so schnell ich konnt'
und zog die Bettlerkleider aus,
das ich zur Täuschung hier nun trug,
und ich versteckte sie sofort.

Anschließende Ereignisse

Nach einigen Schwierigkeiten gelangen Ulrich und seine Begleitung in die Räumlichkeiten der Dame, wo ihm zunächst neue Kleidung gereicht wird. Es kommt zu einer Unterhaltung zwischen Ulrich und der Dame, allerdings nicht in einer intimen Atmosphäre sondern immer umgeben von anderen Frauen. Die Dame macht zudem alle Hoffnungen Ulrichs auf körperliche Nähe zunichte. Als verheiratete Frau will sie ihr Ansehen und ihre Ehre schützen und schließt deshalb ein körperliches Verhältnis zu Ulrich kategorisch aus. (FD, 1210/11) Obwohl sie ihm versichert, dass bereits seine bloße Anwesenheit in ihrem Gemach ein Ausdruck ihrer Wertschätzung sei, ist Ulrich sehr enttäuscht von diesem Zusammentreffen und wird im Anschluss von Selbstmordgedanken heimgesucht. Der Besuch Ulrichs in der Burg endet mit seinem Absturz aus dem Fenster, da er die Hand der Herrin loslässt, um sie zu küssen. (FD, 1269)

Interpretation

Erniedrigung im Moment

Es lassen sich drei verschiedene Formen von Erniedrigung feststellen: Zum einen ist es die Tatsache, dass Ulrich durch die Exkremente eines anderen beschmutzt wird. Dieses Bild kann sich der Leser leicht vorstellen und wird gleichzeitig auch die entsprechenden Gefühle des Beschmutztseins und der Erniedrigung empfinden, denn von der Notdurft eines Fremden geschändigt zu werden ist wohl eine der höchsten Formen von Erniedrigung. Sie soll daher im Weiteren als bildlich-emotionale Erniedrigung bezeichnet werden. Desweiteren ist die räumliche Distanz ausschlaggebend, denn der "husschaffer" befindet sich über Ulrich. Eine räumliche Oben-Unten-Beziehung, die sich auch semantisch in der sozialen Hierarchie widerspiegelt: Während Ulrich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft den Ritterstand repräsentiert, gehört der Hausmeister einer niedrigeren Schicht an. Dennoch steht er durch das Wasserlassen auf Ulrich in dieser Episode (räumlich wie sozial) über dem Ritter; d.h. der rühmliche Ritter wird in seiner ständischen Position herabgewürdigt. Daher trägt diese Form der Erniedrigung das Attribut räumlich-sozial. Die letzte Art der Erniedrigung ist das Ablegen der Kleidung. Während die bildlich-emotionale und die räumlich-soziale Erniedrigung leicht nachzuvollziehen sind, ist die Erniedrigung durch Nacktheit durchaus komplexer. Sie geht in der Tradition der höfischen Minnelyrik einher mit einem Identitätsverlust. Wie genau sich dieser konstituiert, soll in den folgenden Abschnitten erläutert werden.

"Null-Identität"

In der sozialen Gesellschaft definieren sich die Anhänger eines Standes, in diesem Fall des höfischen Standes, vor allem durch ihren höfischen Habitus[Kraß 2006: 22]. Der Habitus besteht aus Elementen, deren Summierung die Identität ergibt. "Wenngleich Kleidung nur ein einzelnes Kriterium darstellt, so ist es doch in besonderer Weise und vielleicht in höherem Grade als alle anderen Merkmale prädestiniert, Identität zu symbolisieren [...]."[Kraß 2006: 23]. Um den Argumentationskreis zu schließen, muss noch erwähnt werden, dass die höfische Identität weniger als individuelle, sondern vielmehr als "kollektive Identität"[Assmann 2007: 132][3] aufgefasst werden muss. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Kleidung als Teil des höfischen Habitus notwendigerweise zur Generierung von Identität beiträgt.
In unserer Episode zieht Ulrich seine Bettlerkleider, mit denen er sich verkleidet hat, aus. Nachdem er nach einigen Strapazen erreicht hat in die Burg gezogen zu werden, bekommt er von der Nichte Kleidung gereicht: "ein suckenie gab si mir an, diu was von einem paltekin, die legt mir an diu niftel min." (FD, 1197).
Ein "suckenie" ist ein "Kleidungsstück für Frauen und Männer, das über dem Rock und unter dem Mantel getragen wurde"[Lexer 1992: 217], ein "paltekin" ist ein "kostbarer aus Seide und Goldfäden moiréartig gewobener Stoff aus Baldac (Bagdad), dann auch Seidenstoff geringerer Art; Traghimmel"[Lexer 1992: 9][4]. Beide Kleidungsstücke deuten auf eine Nutzung im privaten Umfeld hin - und nicht zum Zweck der gesellschaftlichen Identifikation. Ulrich hat zwar Kleidung an, jedoch nur einen - mit neuhochdeutschen Worten - Unterrock. Mit diesem kann sich der höfische Ritter allerdings nicht mit der höfischen Dame identifizieren; ebensowenig kann seine Herrin sich mit Ulrich als sozial tieferstehende Person identifizieren. Ulrich befindet sich durch die neue Kleidung - die ihn allerdings keinem Stand zuordnet - in einer völlig neuen ständischen Identität: Eine Identität, die eigentlich gar nicht existiert, denn keine Gesellschaft definiert sich über das bloße Tragen ihrer "Unterwäsche". Wenn sich, wie Kraß argumentiert, das Individuum über die Gesellschaft identifiziert und die Gesellschaft sich hauptsächlich durch das Merkmal Kleidung des höfischen Habitus zusammensetzt, müsste es einen Teil der Gesellschaft geben, in der sich die Einzelnen durch das Tragen von Unterwäsche identifizieren. Mit anderen Worten: Das Tragen von Unterwäsche, worunter ich hier der Einfachheit halber auch paltekin und suckenie zusammenfasse, müsste gesellschaftsfähig sein, was es zweifelsohne nicht ist/war. Es ist die glorreiche adlige Kleidung, über die sich der Stand identifiziert. Individuen mit davon abweichender Kleidung würden sich folglich auch nicht mit dem adligen Stand identifizieren. Zur gesellschaftlichen Identitätsbildung gehören demnach zum einen die erforderliche Kleidung, zum anderen die Gesellschaft. Da die Unterwäsche der höfischen Gesellschaft nicht gleichgesetzt werden soll mit der Bettlerkleidung des dritten Standes[5] kann hier von einer "Null-Identität" gesprochen werden, die Ulrich in dieser Situation einnimmt. Eine gewisse Art der Identität besteht zwar, schließlich trägt er identitätsbildende Kleidung, diese ist jedoch nicht kollektiv, da der zweite Aspekt, die Gesellschaft, die sich ebenfalls über diese Kleidung identifizieren würde, fehlt. Dies wird besonders anhand der Beschreibung der Kleidung deutlich, die Ulrichs Herrin trägt:


Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
1199 Ich sage iu, wie si was gechleit:
ez het diu guote an sich geleit
ein hemde wiz, daz was vil chlein;
diu hochgemuote, schone, rein
eine suckenie het dar obe
von scharlach, diu ze hohem lobe
was gefurrit wiz härmin,
diu veder niht bezzer chunde sin.

Ich sag', wie sie gekleidet war:
Die Edle hatte angelegt
ein weißes Hemd, das war sehr kurz;
darüber trug die Schöne noch
ein Scharlachkleid, das bestens noch
gefüttert war mit Hermelin,
es war sehr kostbar, sag ich euch,
das Weiß konnte nicht schöner sein.

1200 Ir mandel grüen als ein gras,
ein vehiu chürsen drunder was,
diu chürsen het ein überval,
ze mazen breit, ze mazen smal;
ir het diu reine, wol gemuot
gebunden in ein risen guot.
sus saz vor mir diu wandels vri,
ir stuonden da aht vorwn bi, [...]

Ihr Mantel war so grün wie Gras,
mit Pelz war er gefüttert auch
und Pelz hatte er überall,
bald war er breit, bald war er schmal;
die Edle, Hochgemute war
mit einem Kopfschmuck schön geziert.
So saß sie da ganz makellos,
acht Damen standen noch dabei, [...]


Durch die gleiche adlige Unterwäsche (suckenie) besitzt Ulrich zwar einen Teil der höfischen kollektiven Identität, aber keineswegs die volle, wie sie die Dame repräsentiert. Daher lehnt diese auch ohne Umschweife die Worte Ulrichs ab, indem sie sagt:

Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung
"ir sult des han deheinen muot,
daz ich iuch zuo mir lege hie iht,
des sült ir an mich muoten niht,
ir sült der bet vil gar gedagen.
ich wil iu uf min triwe sagen,
daz ir sin sit nu ungewert
ze dirre zit, swie ir sin gert.
(FD, 1207)
"Ihr sollt fürwahr nicht glauebn doch,
daß ihr euch zu mir legen könnt,
ihr sollt das von mir nicht begehr'n,
ihr sollt die Bitte ganz verschweigen.
Ich sage euch auf mein Treu'
man läßt euch hier nicht so gewähr'n
zu dieser Zeit, wie ihr es wollt.


"Nicht so wie ihr es wollt" - dieser Ausdruck lässt sich auf die Darstellung Ulrichs übertragen. Ob Ulrich ohne zuvor erfahrene Erniedrigung und mit identitätsstiftender höfischer Kleidung bessere Chancen gehabt hätte, wird sich kaum klären lassen. Nichtsdestotrotz ist der Zusammenhang zwischen Kleidung, Identität und Ablehnung seitens der Dame kaum zu verkennen.
Bisweilen war von einer "Null-Identität" die Rede. Diese konstituiert sich aus misslungener kollektiver Identitätsbildung, die hier durch das Habitus-Merkmal Kleidung definiert wurde. Aus der kollektiven Identität könnte sich Ulrich als Individuum nun persönlich identifizieren. Doch durch die fehlende Oberkleidung fehlt ihm bereits hier eine wichtige Voraussetzung: Er gehört (in diesem Moment) keinem Stand an. Doch persönliche Identität lässt sich auch an anderen Merkmalen als Kleidung und Standesschicht formen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer untersucht werden.

Identitätsverlust

Wie sich Identität kollektiv über Kleidung in der höfischen Gesellschaft konstituiert wurde bereits erläutert. Es wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass Kleidung nur ein Merkmal des höfischen Habitus' ist. Der Begriff der persönlichen Identität kann daher nicht eingeschränkt auf Kleidung bleiben, sondern muss noch weiter abstrahiert werden: Identität kommt dadurch zustande, dass ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld interagiert. Aus der Diskrepanz oder Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung generiert sich dann Identität.[Kartschoke 2001: 63] Wenn ein Individuum seine Identität verliert, bedeutet das folglich, dass der genannte soziale Prozess rückgängig gemacht wird. Das Ich kann sich dann nicht mehr über Abgrenzung zu oder Übereinstimmung mit anderen definieren und wird auch von anderen nicht mehr auf diese Weise gesehen. So betrachtet ist der Identitätsverlust gleichbedeutend mit sozialer Unsichtbarkeit. Gleichzeitig steht Identität in Verbindung mit Subjektivität, denn auch diese entsteht durch ein Ich "in Auseinandersetzung mit der Welt" [Ackermann 2009: 1]. Geht also die Identität verloren, hat dies auch einen Einfluss auf die Subjektivität des Betroffenen. Zwar nimmt er sich immer noch als ein "seiner selbst bewusstes Individuum" [Kartschoke 2001: 63] wahr, aber die von außen zugeschriebene Subjektivität kann ohne Identität nicht aufrecht erhalten werden.
In der Urinepisode erfährt Ulrich insofern einen Identitätsverlust, als er sich entkleiden muss (vgl. FD 1190). Im 13. Jahrhundert und auch in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst wird die kostbare adlige Kleidung detailliert beschrieben, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich der Adel bereits über seine Kleidung von anderen, weniger wohlhabenderen Schichten abgrenzte. [Blaschitz 1999: 374/75] Außerdem ist es gerade der narrative Prozess, die Beschreibung von Kleidung, die letztlich die Identität schafft. Sie muss als Produkt und Effekt aufgefasst werden und nicht als essentielle Begebenheit, die im Text beschreiben wird.[Kraß 2006: 23] Somit hatte die Art der Kleidung zu Ulrichs Zeiten identitätsstiftende Funktion. Fällt diese nun weg, geht dies im Umkehrschluss mit einem Identitätsverlust einher. Ulrich erfährt in der entsprechenden Episode ohnehin schon eine Erniedrigung, weil er als Bettler verkleidet ist (gewant, daz boese, (FD 1190)). Obwohl alle relevanten Beteiligten wissen, dass das Bettlergewand nur den Status eines Kostüms hat und nicht Ulrichs normaler Kleidung entspricht, bedeutet der Verlust dieser Maskerade trotzdem einen Identitätsverlust: "Wer nackt ist, ist sozial nackt, hat seine höfische Identität verloren."[Kraß 2006: 220] Zudem wird Ulrich durch den Urin soweit erniedrigt, dass er nicht einmal mehr die Kleidung eines Bettlers tragen kann, sondern sich entblößen muss und damit nicht nur seine Identität als Ministerialer Ulrich von Liechtenstein sondern auch seine fingierte Identität als leprakranker Bettler ablegen muss.

Fazit

Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst ist von großer Bedeutung und dient nicht einfach nur der Belustigung. Auf der einen Seite zeigt sie die Beständigkeit Ulrichs in der Liebe zu seiner Herrin. Trotz dieser kaum zu überbietenden Erniedrigung bleibt er standhaft, von der Hoffnung geleitet sie wiederzusehen. Auch die anschließenden Erniedrigungen erschüttern seinen Glauben an die Liebe nicht. Selbst nach seinem Sturz aus der Burg und dem Versuch sich zu ertränken, schwört er seiner Herrin immer noch Treue. Die Szene ist beispielhaft für das Nebeneinander von Freude und Leid, von Glück und Schmerz der Minnesänger.
Aus einer anderen Perspektive zeigt die Episode auch die große Bedeutung von Kleidung im Frauendienst. An dieser einzelnen Szene lassen sich Identitätsbildung, Identitätsverlust und Konstitution einer völlig neuen, nicht greifbaren Identität ablesen. Im Allgemeinen spielt der Identitätsbegriff im Fraundienst eine große Rolle. In der Frage, ob es sich nun tatsächlich um eine reale Autobiographie handelt oder doch nur um eine fiktive, oder vielleicht um eine Vermengung aus beiden Extrema, muss der Identitätsbegriff berücksichtigt werden. Dazu geben die Artikel Identität und Individuum (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst), Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) und Autobiografische Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) weitere Auskunft.

Literaturangaben

Primärliteratur

Der zitierte mittelhochdeutsche Text stammt aus:

  • Franz Viktor Spechtler (Hrsg.) (1987): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen: Kümmerle.

Die dazugehörigen hochdeutschen Übersetzungen sind folgendem Werk entnommen:

  • Liechtenstein, Ulrich von (2000): Frauendienst. Roman, Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec: Wieser.

Forschungsliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Ackermann 2009] Ackermann, Christiane (2009): Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, o.A.: Köln/Weimar/Wien.
  • [*Assmann 2007]: Assmann, Jan (62007): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Beck: München.
  • [*Blaschitz 1999] Blaschitz, Gertrud (1999): "'...gechleidet wol nach ritters siten'. Beschreibungen von Kleidung und Rüstung im 'Frauendienst'". In: Spechtler, Franz Viktor & Maier, Barbara (Hgg.):Ich - Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt: Wieser Verlag, 371-410.
  • [*Kablitz 2000] Kablitz, Andreas (2000): "Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit." In: Neumeyer, Martina (Hrsg.): Mittelalterliche Menschenbilder. Regensburg: Friedrich Pustet, 79-118.
  • [*Kartschoke 2001] Kartschoke, Dieter (2001): "Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur". In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: o.A., 61-78.
  • [*Kiening 1998]: Kiening, Christian (1998): "Der Autor als 'Leibeigener' der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein". In: Andersen, Elizabeth A. et al. (Hrsgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, o.A.: Tübingen, 211-238.
  • [*Lexer 1992]Lexer, Matthias (381992): Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, Stuttgart: Hirzel.
  • [*Kraß 2006] Kraß, Andreas (2006): Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel: Francke.

Anmerkungen

  1. Zitiert wird aus der unter der Primärliteratur genannten Ausgabe. Im Folgenden werden solche Textpassagen mit der Sigle FD gekennzeichnet.
  2. Hier wird aus der unter der Primärliteratur genannten Übersetzung zitiert.
  3. In Assmann 2007 heißt es weiter: "Unter einer kollektiven Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen." (S. 137).
  4. Zu finden unter "baldekîn". Groß- und Kleinscheibung wurde angepasst.
  5. Schließlich war selbst die Unterwäsche, wie Matthias Lexer in seinen Definitionen deutlich macht, auch aus kostbarer Seide und Goldfäden.