Die Urinepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst): Unterschied zwischen den Versionen
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Der zitierte Textausschnitt ist nur ein Teil der Beschreibung der Kleider, die Ulrich anlegt. Ähnlich verhält sich die Beschreibung von Kleidung auch bei der Venusfahrt<ref>Vgl. dazu v.a. die Verse 470-476.</ref>. In diesen Situationen [[Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst|nimmt Ulrich andere Identitäten an]]. Hauptsächlich konstituiert sich das Ablegen seiner ursprünglichen Identität und die Schaffung einer Neuen durch das Wechseln der Kleidung.<br /> | Der zitierte Textausschnitt ist nur ein Teil der Beschreibung der Kleider, die Ulrich anlegt. Ähnlich verhält sich die Beschreibung von Kleidung auch bei der Venusfahrt<ref>Vgl. dazu v.a. die Verse 470-476.</ref>. In diesen Situationen [[Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)|nimmt Ulrich andere Identitäten an]]. Hauptsächlich konstituiert sich das Ablegen seiner ursprünglichen Identität und die Schaffung einer Neuen durch das Wechseln der Kleidung.<br /> | ||
Wie verhält sich der Kleidungswechsel nun in der ''Urinepsidoe''? Ulrich legt noch vor der Burg seine Bettlerkleider ab und wird anschließend hinaufgezogen. Ob er nun komplett nackt ist oder noch Unterwäsche trägt, erfährt der Leser nicht. Wichtig ist nur, dass mit dem Ablegen der identitätsstiftenden Kleidung - wenn auch die eines Bettlers - gleichzeitig die Identität abgelegt wurde. | Wie verhält sich der Kleidungswechsel nun in der ''Urinepsidoe''? Ulrich legt noch vor der Burg seine Bettlerkleider ab und wird anschließend hinaufgezogen. Ob er nun komplett nackt ist oder noch Unterwäsche trägt, erfährt der Leser nicht. Wichtig ist nur, dass mit dem Ablegen der identitätsstiftenden Kleidung - wenn auch die eines Bettlers - gleichzeitig die Identität abgelegt wurde. | ||
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Version vom 20. Juni 2013, 23:40 Uhr
Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst zeugt von großer Bedeutung, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Wie der Titel dieses Artikels zeigt, verrichtet jemand in der Episode seine Notdurft auf Ulrich[1]. Die Folgen sind, über die Erniedrigung hinaus, für den weiteren Handlungsverlauf entscheidend. Aus der Urinepisode resultiert durch Ulrichs Ablegen von Kleidung, wie im Folgenden gezeigt werden soll, der Verlust seiner Identität. Die Episode und ihre anschließenden Folgen werden kurz in den Zusammenhang der histoire eingeordnet und anschließend interpretiert.
Einordnung in den Gesamtzusammenhang
Vorgeschichte
Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker verkleidet zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden. (FD, 1114) Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken, um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich am Tag der Burg nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame gezogen werden. (FD, 1184/85)
Die Urinepisode
Die Episode besteht aus den Versen 1188-1190:
Mittelhochdeutscher Text[2]
Neuhochdeutsche Übersetzung[3]
1188 Als tet ouch der geselle min,
wir muosten da vil stille sin.
do wir verholn lagen hie,
der husschaffer selbe sibent gie
umbe die burc her und dar;
er nam vil vliziclichen war,
ob iemen dar waer verholn chomen,
des wart von im wol war genomen.
So tat es auch mein lieber Freund,
wir mußten nun sehr stille sein.
Als wir versteckt so lagen dort,
da ging der Hausverwalter und
sechs Männer um die Burg herum;
er hatte eifrig nachzuseh'n,
ob jemand heimlich kommen wär'.
das nahm er dann auch sicher wahr.
1189 Do er ez hier und dort gesach,
nu horet, waz mir dort geschach:
ez gie der ungemuote man
von sinen gesellen zuo mir stan
und tet sin unzuht da uf mich,
so daz da von gar naz wart ich;
des getorst ich im geweren niht,
daz was ein wunderlich geschiht.
Als er so hin- und hergespäht,
nun hört, was mir nun dort geschah:
Es kam der wiederwärtige Mann,
er stand gerade über mir
und schlug auf mich sein Wasser ab,
und ich war danach ganz durchnäßt;
ich traute mich nicht wehren dort,
die Sache war recht seltsam doch.
1190 Da mit er in die burc sa gie.
so saz ich also nazzer hie,
daz was mir leit und ungemach;
uz der lin daz lieht ich sach
liuhten: do stuont ich zehant
uf und zoch abe min gewant,
daz boese, daz ich durch heln truoc,
daz barg ich snellich genuoc.
Dann ging er in die Burg hinein.
So saß ich nun ganz naß herum,
ganz elend war's und unbequem;
ich sah das Licht im Fenster bald:
Da stand ich auf so schnell ich konnt'
und zog die Bettlerkleider aus,
das ich zur Täuschung hier nun trug,
und ich versteckte sie sofort.
Anschließende Ereignisse
Nach einigen Schwierigkeiten gelangen Ulrich und seine Begleitung in die Räumlichkeiten der Dame, wo ihm zunächst neue Kleidung gereicht wird. Es kommt zu einer Unterhaltung zwischen Ulrich und der Dame, allerdings nicht in einer intimen Atmosphäre sondern immer umgeben von anderen Frauen. Die Dame macht zudem alle Hoffnungen Ulrichs auf körperliche Nähe zunichte. Als verheiratete Frau will sie ihr Ansehen und ihre Ehre schützen und schließt deshalb ein körperliches Verhältnis zu Ulrich kategorisch aus. (FD, 1210/11) Obwohl sie ihm versichert, dass bereits seine bloße Anwesenheit in ihrem Gemach ein Ausdruck ihrer Wertschätzung sei, ist Ulrich sehr enttäuscht von diesem Zusammentreffen und wird im Anschluss von Selbstmordgedanken heimgesucht. Der Besuch Ulrichs in der Burg endet mit seinem Absturz aus dem Fenster, da er die Hand der Herrin loslässt, um sie zu küssen. (FD, 1269)
Interpretation
Erniedrigung im Moment
Es lassen sich drei verschiedene Formen von Erniedrigung feststellen: Zum einen ist es die Tatsache, dass Ulrich durch die Exkremente eines anderen beschmutzt wird, was wohl eine der höchsten Formen von Erniedrigung ist. Da der Leser sich die Szene imaginativ vorstellen kann und da es sich um die Erniedrigung eines konkreten Subjekts - nämlich Ulrich handelt, soll diese erste Form der Erniedrigung als imaginativ-figurativ bezeichnet werden. Desweiteren ist die räumliche Distanz ausschlaggebend, denn der "husschaffer" befindet sich über Ulrich. Eine räumliche Oben-Unten-Beziehung, die sich auch semantisch in der sozialen Hierarchie widerspiegelt: Während Ulrich in der mittelalterlichen Ständegesellschaft den Ritterstand repräsentiert, gehört der Hausmeister einer niedrigeren Schicht an. Dennoch steht er durch das Wasserlassen auf Ulrich in dieser Episode (räumlich wie sozial) über dem Ritter; d.h. der rühmliche Ritter wird in seiner ständischen Position herabgewürdigt. Daher trägt diese Form der Erniedrigung das Attribut räumlich-sozial. Die letzte Art der Erniedrigung ist das Ablegen der Kleidung. Während die bildlich-emotionale und die räumlich-soziale Erniedrigung leicht nachzuvollziehen sind, ist die Erniedrigung durch Nacktheit durchaus komplexer. Sie geht in der Tradition der höfischen Minnelyrik einher mit einem Identitätsverlust. Wie genau sich dieser konstituiert, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.
"Identitätsverlust"
Um den Identitätsverlust genauer analysieren zu können, muss zunächst einmal geklärt werden, was der begriff Identität überhaupt bedeutet. Identität ist von seiner Extension her weit ausgeprägt. Viele Eigenschaften, Bedingungen, Erfahrungen, Interaktionen etc. beeinflussen die Identität eines Subjekts. Persönliche sowie fremdgesteuerte psychische Gedankengänge spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Auf jeden identitätsstiftenden Faktor einzugehen ist quasi unmöglich. Unter Rückgriff auf Kartschoke & Ackermann und Kraß & Assmann soll eine zusammenfassende Arbeitsdefinition von Identität erarbeitet werden, auf die sich die daran anschließenden Ausführungen beziehen.
Definition von Identität
Kartschoke & Assmann: Identität über Soziale Interaktion
Identität kommt dadurch zustande, dass ein Individuum mit seinem sozialen Umfeld interagiert. Aus der Diskrepanz oder Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung generiert sich dann Identität. Kartschoke 2001: 63] Wenn ein Individuum seine Identität verliert, bedeutet das folglich, dass der genannte soziale Prozess rückgängig gemacht wird. Das Ich kann sich dann nicht mehr über Abgrenzung zu oder Übereinstimmung mit anderen definieren und wird auch von anderen nicht mehr auf diese Weise gesehen. So betrachtet ist der Identitätsverlust gleichbedeutend mit sozialer Unsichtbarkeit. Gleichzeitig steht Identität in Verbindung mit Subjektivität, denn auch diese entsteht durch ein Ich "in Auseinandersetzung mit der Welt" [Ackermann 2009: 1]. Geht also die Identität verloren, hat dies auch einen Einfluss auf die Subjektivität des Betroffenen. Zwar nimmt er sich immer noch als ein "seiner selbst bewusstes Individuum" [Kartschoke 2001: 63] wahr, aber die von außen zugeschriebene Subjektivität kann ohne Identität nicht aufrecht erhalten werden.
Kraß & Assmann: Identitätsstiftende Kleidung
In der sozialen Gesellschaft definieren sich die Anhänger eines Standes, in diesem Fall des höfischen Standes, vor allem durch ihren höfischen Habitus[Kraß 2006: 22]. Der Habitus besteht aus Elementen, deren Summierung die Identität ergibt. "Wenngleich Kleidung nur ein einzelnes Kriterium darstellt, so ist es doch in besonderer Weise und vielleicht in höherem Grade als alle anderen Merkmale prädestiniert, Identität zu symbolisieren [...]."[Kraß 2006: 23]. Um den Argumentationskreis zu schließen, muss noch erwähnt werden, dass die höfische Identität weniger als individuelle, sondern vielmehr als "kollektive Identität"[Assmann 2007:132][4] aufgefasst werden muss. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Kleidung als Teil des höfischen Habitus notwendigerweise zur Generierung von Identität beiträgt.
Arbeitsdefinition Identität
Identität bezeichnet im Folgenden die Identifikation eines Individuums mit seinem sozialen Umfeld, was hauptsächlich auf der Basis der beschriebenen Kleidung stattfindet. Die Identifikation kann selbst- oder fremd wahrgenommen werden.
Das Ablegen der Kleidung
In der Urinepisode erfährt Ulrich insofern einen Identitätsverlust, als er sich entkleiden muss (vgl. FD 1190). Im 13. Jahrhundert und auch in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst wird die kostbare adlige Kleidung detailliert beschrieben, was unter anderem damit zusammenhängt, dass sich der Adel bereits über seine Kleidung von anderen, weniger wohlhabenderen Schichten abgrenzte[Blaschitz 1999: 374/75]. Unter Rückgriff auf die Arbeitsdefinition, lässt sich also sagen, dass die Art der Kleidung zu Ulrich von Liechtensteins Zeiten identitätsstiftende Funktion hat. Fällt diese nun weg, geht dies im Umkehrschluss mit einem Identitätsverlust einher. Ulrich erfährt in der entsprechenden Episode ohnehin schon eine Erniedrigung, weil er als Bettler verkleidet ist (gewant, daz boese, (FD 1190)). Obwohl alle relevanten Beteiligten wissen, dass das Bettlergewand nur den Status eines Kostüms hat und nicht Ulrichs normaler Kleidung entspricht, bedeutet der Verlust dieser Maskerade trotzdem einen Identitätsverlust: "Wer nackt ist, ist sozial nackt, hat seine höfische Identität verloren."[Kraß 2006: 220] Zudem wird Ulrich durch den Urin soweit erniedrigt, dass er nicht einmal mehr die Kleidung eines Bettlers tragen kann, sondern sich entblößen muss und damit nicht nur seine Identität als Ministerialer Ulrich von Liechtenstein sondern auch seine fingierte Identität als leprakranker Bettler ablegen muss.
Das Anlegen neuer Kleidung
Nachdem Ulrich die Bettlerkleider ausgezogen hat, wird er nach einigen anderen Strapazen endlich in die Burg seiner Herrin hinaufgezogen und bekommt von seiner niftel Kleidung gereicht:
- "ein suckenie gab si mir an, diu was von einem paltekin, die legt mir an diu niftel min." (FD, 1197).
Ein "suckenie" ist ein "Kleidungsstück für Frauen und Männer, das über dem Rock und unter dem Mantel getragen wurde"[Lexer 1992: 217], ein "paltekin" ist ein "kostbarer aus Seide und Goldfäden moiréartig gewobener Stoff aus Baldac (Bagdad), dann auch Seidenstoff geringerer Art; Traghimmel"[Lexer 1992: 9][5]. Was ist an diesen neuen Kleidungsstücken besonders? Der "suckenie" ist ein Unterrock, der geschlechterunabhängig angezogen werden konnte. Dieser Aspekt ist sehr interessant: Ulrich wechselt im Frauendienst bereits einmal sein Geschlecht durch Kleidung, indem er sich als Königin Venus verkleidet. Dieser Akt der Travestie ist nicht nur Verkleidung, sondern gleichzetig auch das Spiel mit der eigenen geschlechtlichen Identität[Kraß 2006: 25]. So weit darf man bei der "suckenie" natürlich nicht gehen, dennoch zeigt die Verkleidung als König Venus, dass wir es bei Ulrich offenbar nicht mit einem beständigen Individuum zu tun haben. Gerade die Geschlechterspezifität schafft zumindest erst einmal Beständigkeit in der Identitätsfindung. Durch die "suckenie" haben wir es aber weder mit einem Kleidungsstück für Männer noch für Frauen zu tun. Bereits durch diese Lücke kann dem nackten Ulrich keine geschlechtliche Identität zugeschrieben werden. Der "paltekin" ist nach Lexers Definition noch unpräziser. "Stoff" bedeutet nicht automatisch auch Kleidungsstück. Vielmehr denkt man bei der Definition an eine Art Leintuch. "Traghimmel" charakterisiert diese Verknüpfung noch besser, zeigt aber auch, wie undefinierbar dieses Stoffstück ist. Aufgrund der mangelnden präzisen Definition, kann "paltekin" nicht als identitässtiftende Kleidung angesehen werden. Stellt nach Kraß die "Investitur" also die Konstitution von Identität dar[Kraß 2006: 25], so spricht dieser Absatz doch stark dagegen. Ulrich wird zwar neue Kleidung angelegt, trotzdem wird ihm nur mangelhaft bis gar keine Identität dadurch zugeschrieben.
Nullidentität
Über die Nacktheit verliert Ulrich seine höfische Identität, die ihm weder durch "suckenie" noch durch "paltekin" wiedergegeben werden. In was für einer Position befindet sich Ulrich jetzt? Wird ihm narrativ eine Identität zugeschrieben? Diese Fragen lassen sich nicht einfach beantworten. Außerdem hängen beide Fragen zusammen, denn durch die Identitätszuschreibung kann Ulrich erst seine Position finden. Hat Ulrich in der Situation kurz vor dem Treffen mit seiner Herrin die Identität des Minnedieners Ulrichs, wie wir ihn z.B. vom Friesacher Turnier kennen? Gibt es überhaupt nur eine einzige Identität, die der Minnediener Ulrich im Frauendienst "annimmt"? Diesen Fragen kann im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden - vielmehr werden sie in anderen Artikeln behandelt (s. dazu Verlinkungen im Fazit).
Aufgrund der Tatsachen, dass Ulrich weder nackt ist, noch ritterliche Kleidung trägt, soll von einer nicht genauer definierten Identität ausgegangen werden, die im Folgenden als "Null-Identität" bezeichnet wird. Dieser Begriff beinhaltet nicht, dass Ulrich keine Identität in diesem Moment zugeschrieben bekommen würde, sondern vielmehr, dass es sich um eine Art der Identität handelt, die vorher im Frauendienst noch nicht aufgetreten ist und mit der sich Ulrich nicht mit anderen Mitgliedern des ritterlichen oder adligen Stades identifizieren kann. Hier greift in der Arbeitsdefinition von Identität vor allem der Aspekt der "kollektiven Identität" von Assmann.
Diese Nullidentität ist wichtig, da ein identitätsloser Ulrich wohl kaum mit seiner Herrin sprechen kann. Wenn doch, würde die Frage aufkommen, ob eine Person bzw. ein Subjek überhaupt identitätslos sein kann oder gemacht werden. Um diesem Problem aus dem Weg zu gehen, wird Ulrich die Nullidentität zugeschrieben. Im Folgenden trifft er nämlich tatsächlich auf seine Herrin:
Abgrenzung von seiner Herrin
Ulrich begrüßt in dieser Szene seine Herrin mit den Worten "gnade, vrowe min!" (FD, 1198) und anschließend beginnt er, die Kleidung der Herrin zu beschreiben:
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung 1199 Ich sage iu, wie si was gechleit:
ez het diu guote an sich geleit
ein hemde wiz, daz was vil chlein;
diu hochgemuote, schone, rein
eine suckenie het dar obe
von scharlach, diu ze hohem lobe
was gefurrit wiz härmin,
diu veder niht bezzer chunde sin.Ich sag', wie sie gekleidet war:
Die Edle hatte angelegt
ein weißes Hemd, das war sehr kurz;
darüber trug die Schöne noch
ein Scharlachkleid, das bestens noch
gefüttert war mit Hermelin,
es war sehr kostbar, sag ich euch,
das Weiß konnte nicht schöner sein.
1200 Ir mandel grüen als ein gras,
ein vehiu chürsen drunder was,
diu chürsen het ein überval,
ze mazen breit, ze mazen smal;
ir het diu reine, wol gemuot
gebunden in ein risen guot.
sus saz vor mir diu wandels vri,
ir stuonden da aht vorwn bi, [...]Ihr Mantel war so grün wie Gras,
mit Pelz war er gefüttert auch
und Pelz hatte er überall,
bald war er breit, bald war er schmal;
die Edle, Hochgemute war
mit einem Kopfschmuck schön geziert.
So saß sie da ganz makellos,
acht Damen standen noch dabei, [...]
Dadurch grenzt sich Ulrich bereits von seiner Herrin ab. Seine Kleidung, die ihm eine Nullidentität verleiht im Gegensatz zu der höfisch-adligen Kleidung, die die Dame als Teil der höfischen Gesellschaft repräsentiert.
Es ist die glorreiche adlige Kleidung, über die sich der Stand identifiziert. Individuen mit davon abweichender Kleidung würden sich folglich auch nicht mit dem adligen Stand identifizieren. Zur gesellschaftlichen Identitätsbildung gehören demnach zum einen die erforderliche Kleidung, zum anderen die Gesellschaft. Da die Unterwäsche der höfischen Gesellschaft nicht gleichgesetzt werden soll mit der Bettlerkleidung des dritten Standes[6] kann hier von einer "Null-Identität" gesprochen werden, die Ulrich in dieser Situation einnimmt. Eine gewisse Art der Identität besteht zwar, schließlich trägt er identitätsbildende Kleidung, diese ist jedoch nicht kollektiv, da der zweite Aspekt, die Gesellschaft, die sich ebenfalls über diese Kleidung identifizieren würde, fehlt. Dies wird besonders anhand der Beschreibung der Kleidung deutlich, die Ulrichs Herrin trägt:
Durch die gleiche adlige Unterwäsche (suckenie) besitzt Ulrich zwar einen Teil der höfischen kollektiven Identität, aber keineswegs die volle, wie sie die Dame repräsentiert. Daher lehnt diese auch ohne Umschweife die Worte Ulrichs ab, indem sie sagt:
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung "ir sult des han deheinen muot,
daz ich iuch zuo mir lege hie iht,
des sült ir an mich muoten niht,
ir sült der bet vil gar gedagen.
ich wil iu uf min triwe sagen,
daz ir sin sit nu ungewert
ze dirre zit, swie ir sin gert.
(FD, 1207)"Ihr sollt fürwahr nicht glauebn doch,
daß ihr euch zu mir legen könnt,
ihr sollt das von mir nicht begehr'n,
ihr sollt die Bitte ganz verschweigen.
Ich sage euch auf mein Treu'
man läßt euch hier nicht so gewähr'n
zu dieser Zeit, wie ihr es wollt.
"Nicht so wie ihr es wollt" - dieser Ausdruck lässt sich auf die Darstellung Ulrichs übertragen. Ob Ulrich ohne zuvor erfahrene Erniedrigung und mit identitätsstiftender höfischer Kleidung bessere Chancen gehabt hätte, wird sich kaum klären lassen. Nichtsdestotrotz ist der Zusammenhang zwischen Kleidung, Identität und Ablehnung seitens der Dame kaum zu verkennen.
Bisweilen war von einer "Null-Identität" die Rede. Diese konstituiert sich aus misslungener kollektiver Identitätsbildung, die hier durch das Habitus-Merkmal Kleidung definiert wurde. Aus der kollektiven Identität könnte sich Ulrich als Individuum nun persönlich identifizieren. Doch durch die fehlende Oberkleidung fehlt ihm bereits hier eine wichtige Voraussetzung: Er gehört (in diesem Moment) keinem Stand an. Doch persönliche Identität lässt sich auch an anderen Merkmalen als Kleidung und Standesschicht formen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer untersucht werden.
Fazit
Die Urinepisode in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst ist von großer Bedeutung und dient nicht einfach nur der Belustigung. Die Vielseitig der Erniedrigungen zeigt auf der einen Seite das Leid, dass Ulrich für seine Herrin in Kauf nimmt: Von einer imaginativ-figurativen über die räumlich-soziale Erniedrigung bis hin zur Erniedrigung durch Nacktheit. Durch alle drei Ebenen verliert Ulrich seinen ritterlichen Stand - und damit zuletzt auch seine Identität. Die Tatsache, von den Exkrementen eines sozial Niederstehenden beschmutzt zu werden gipfelt im Ablegen seiner Kleideung. Im Allgemeinen zeigt die Episode die große Bedeutung von Kleidung im Frauendienst. An dieser einzelnen Szene lassen sich Identitätsbildung und Identitätsverlust durch Kleidung ablesen und gleichzeitig, welchen Einfluss beide Prozesse für die individuelle Identitätsbildung haben.
Im Allgemeinen spielt der Identitätsbegriff im Fraundienst eine große Rolle. In der Frage, ob es sich nun tatsächlich um eine reale Autobiographie handelt oder doch nur um eine fiktive, oder vielleicht um eine Vermengung aus beiden Extrema, muss der Identitätsbegriff berücksichtigt werden. Dazu geben die Artikel Identität und Individuum (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst), Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) und Autobiografische Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst) weitere Auskunft.
Beide Kleidungsstücke dienen nicht dem Zweck der gesellschaftlichen Identifikation, diesen Zweck füllen die anderen im Frauendienst üppig beschriebenen Kleider, zum Beispiel zu Beginn der Artusfahrt:
Vers Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung 1401 Do leit (ich) einen halsperc an
versten, starch, lieht, wolgetan,
dar über eine blaten guot,
uf ritterschaft stuont al min muot.
min wapenroc was scharlach rot,
gefurrirt wol als ich gebot
mit einem zendal gel gevar,
gehouwen meisterliche gar.Dann legte ich den Halsberg an
den festen, hellen, wunderbaren,
darüber eine schöne Platte,
nach Ritterkämpfen sehnt' ich mich.
Mein Wappenrock war scharlachrot,
gefüttert wie ich es gebot
mit einem gelben edlen Stoff,
geschnitten wieder meisterlich.
1042 Er was vil volleclichen lanc:
sin lengen unz uf die erden swanc,
zwelf geren waren drin gesniten
durch sine wite nach meisters siten.
er was gezegeltüber diu knie,
mit borten beidiu dort und hie
gegetert für war meisterlich,
die borten waren chosterich.Er war dabei auch wirklich lang:
Er schwang bis auf die Erde sich,
zwölf Spitzen waren eigeschnitten
an seinem Rand nach Meisterart.
er hingn in Teilen übers Knie
mit Borten herrlich dort und hier
mit großen Mustern meisterhaft,
die Borten waren kostbar doch.
Der zitierte Textausschnitt ist nur ein Teil der Beschreibung der Kleider, die Ulrich anlegt. Ähnlich verhält sich die Beschreibung von Kleidung auch bei der Venusfahrt[7]. In diesen Situationen nimmt Ulrich andere Identitäten an. Hauptsächlich konstituiert sich das Ablegen seiner ursprünglichen Identität und die Schaffung einer Neuen durch das Wechseln der Kleidung.
Wie verhält sich der Kleidungswechsel nun in der Urinepsidoe? Ulrich legt noch vor der Burg seine Bettlerkleider ab und wird anschließend hinaufgezogen. Ob er nun komplett nackt ist oder noch Unterwäsche trägt, erfährt der Leser nicht. Wichtig ist nur, dass mit dem Ablegen der identitätsstiftenden Kleidung - wenn auch die eines Bettlers - gleichzeitig die Identität abgelegt wurde.
Literaturangaben
Primärliteratur
Der zitierte mittelhochdeutsche Text stammt aus:
- Franz Viktor Spechtler (Hrsg.) (1987): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen: Kümmerle.
Die dazugehörigen hochdeutschen Übersetzungen sind folgendem Werk entnommen:
- Liechtenstein, Ulrich von (2000): Frauendienst. Roman, Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec: Wieser.
Forschungsliteratur
<HarvardReferences />
- [*Ackermann 2009] Ackermann, Christiane (2009): Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, o.A.: Köln/Weimar/Wien.
- [*Assmann 2007]: Assmann, Jan (62007): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, Beck: München.
- [*Blaschitz 1999] Blaschitz, Gertrud (1999): "'...gechleidet wol nach ritters siten'. Beschreibungen von Kleidung und Rüstung im 'Frauendienst'". In: Spechtler, Franz Viktor & Maier, Barbara (Hgg.):Ich - Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt: Wieser Verlag, 371-410.
- [*Kablitz 2000] Kablitz, Andreas (2000): "Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit." In: Neumeyer, Martina (Hrsg.): Mittelalterliche Menschenbilder. Regensburg: Friedrich Pustet, 79-118.
- [*Kartschoke 2001] Kartschoke, Dieter (2001): "Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur". In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: o.A., 61-78.
- [*Kiening 1998]: Kiening, Christian (1998): "Der Autor als 'Leibeigener' der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein". In: Andersen, Elizabeth A. et al. (Hrsgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, o.A.: Tübingen, 211-238.
- [*Lexer 1992]Lexer, Matthias (381992): Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, Stuttgart: Hirzel.
- [*Kraß 2006] Kraß, Andreas (2006): Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel: Francke.
Anmerkungen
- ↑ Im weiteren Verlauf des Artikels bezeichnet Ulrich ohne weitere Kennzeichung generell die literarische Figur. Wenn von Ulrich als Autor gesprochen wird, wird explizit, z.B. durch das Attribut "Autor" oder durch die Nutzung seines kompletten Namens, darauf hingewiesen.
- ↑ Zitiert wird aus der unter der Primärliteratur genannten Ausgabe. Im Folgenden werden solche Textpassagen mit der Sigle FD gekennzeichnet.
- ↑ Hier wird aus der unter der Primärliteratur genannten Übersetzung zitiert.
- ↑ In Assmann 2007 heißt es weiter: "Unter einer kollektiven Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen." (S.137)
- ↑ Zu finden unter "baldekîn". Groß- und Kleinscheibung wurde angepasst.
- ↑ Schließlich war selbst die Unterwäsche, wie Matthias Lexer in seinen Definitionen deutlich macht, auch aus kostbarer Seide und Goldfäden.
- ↑ Vgl. dazu v.a. die Verse 470-476.