Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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Nicht zuletzt aufgrund des vom Autor gewählten Namens ‚Vrevel‘ liegt eine ausschließlich negative Deutung der Königsfigur nahe. Interessanterweise ist dies der einzige Name, den der Autor des Reinhart Fuchs von seiner französischen Vorlage ersetzt hat. Im französischen "Roman de Renard" heißt der Löwe ursprünglich "Noble". Diese intentionale Ersetzung ändert nicht nur den Namen, sondern auch den Charakter des Löwenkönigs. "Dem höfischen, jovialen Nobel [...] steht der zugleich lächerlich-würdelose wie tyrannisch-willkürliche Vrevel gegenüber" [Ruh 1960:23; Dietl 2010:51]. Der König verliert damit höfische Qualitäten und wird passend zu seinen Handlungen in ein brutales, gewaltätiges Licht gerückt. Wie im Vorhergehenden/nachfolgenden Abschnitt näher erläutert, wirft auch die im Handlungsverlauf erste Begegnung des Lesers mit der neu auftretenden Figur im Reinhart Fuchs ein stark negatives Bild auf dessen Charakter. Die dort begangene Untat gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Deutung seines Namens, wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur in eine durchgehend negative Assoziation umschwenkt. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im mittelhochdeutschen, wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1960:23]. Diese ist also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.
Nicht zuletzt aufgrund des vom Autor gewählten Namens ‚Vrevel‘ liegt eine ausschließlich negative Deutung der Königsfigur nahe. Interessanterweise ist dies der einzige Name, den der Autor des Reinhart Fuchs von seiner französischen Vorlage ersetzt hat. Im französischen "Roman de Renard" heißt der Löwe ursprünglich "Noble". Diese intentionale Ersetzung ändert nicht nur den Namen, sondern auch den Charakter des Löwenkönigs. "Dem höfischen, jovialen Nobel [...] steht der zugleich lächerlich-würdelose wie tyrannisch-willkürliche Vrevel gegenüber" [Ruh 1960:23; Dietl 2010:51]. Der König verliert damit höfische Qualitäten und wird passend zu seinen Handlungen in ein brutales, gewaltätiges Licht gerückt. Wie im Vorhergehenden/nachfolgenden Abschnitt näher erläutert, wirft auch die im Handlungsverlauf erste Begegnung des Lesers mit der neu auftretenden Figur im Reinhart Fuchs ein stark negatives Bild auf dessen Charakter. Die dort begangene Untat gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Deutung seines Namens, wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur in eine durchgehend negative Assoziation umschwenkt. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im mittelhochdeutschen, wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1960:23]. Diese ist also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.


Die, bereits durch die Namensgebung zu vermutende, Rechtsbeugung findet ihr Realisierung im Hoftag, welchen Vrevel in Folge seiner Erkrankung einberuft:„Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1960: 23]. Bei diesem soll die Rechtsprechung über Reinharts Verbrechen erfolgen (genauer nachzulesen im Artikel [[Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs)]] ) und der König Vrevel agiert als Richter. Reinhart kommt letztendlich jedoch ohne Strafe davon, während Vrevel und Angehörige seines Hofes ihr Leben lassen müssen. Dies alles geschieht in Folge einer List Reinharts, für welche er sein Wissen um die Ursache für die Krankheit des Königs nutzt, um sich als Arzt auszugeben um dem König ein Heilmittel für dessen Leid anzubieten. Das verwerfliche an diesem Heilmittel ist, dass es nicht etwa eine bestimmte Kräutermischung ist, sondern dafür, laut Reinhart, die Haut eines alten Wolfes, ein Bärenfell und eine Mütze aus Katzenfell, sowie ein gekochtes Huhn, Eberspeck und ein Gürtel aus Hirschleder benötigt werden. All dies fordert der König nun von den Tieren seines Hoftages ein. Da diese der Forderung nicht nachkommen wollen, setzt Vrevel diese mit Gewalt um und wird durch diese Anordnung zum Henker. An dieser Stelle „[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22] und es wird deutlich, dass ihm die Chance auf Heilung mehr bedeutet als das Leben seiner Untertanen. Hier zeigt sich nicht nur die eigennützige Veranlagung der Königs, sondern in besonderem Maße auch dessen Leichtgläubigkeit. Er vertraut lieber einem Fremden, der ihm Heilung verspricht als den Angehörigen seines Hoftages, die ihn vor den Listen Reinharts warnen und um Gnade für sich selbst bitten. Somit zeigt sich in der Opferung der Tiere nicht nur die Machtposition und körperliche Stärke des Königs, welche ihn zu so einem Handeln ermächtigen, sondern in besonderem Maße auch die charakterliche Schwäche, die ihn anfällig für Manipulation und Versprechen macht. Hierdurch gerät nicht nur die persönliche Schwäche der Figur, sondern auch „[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22]
„Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1960: 23]
Vrevels Handlung wird noch auf einer weiteren als der moralischen Ebene verwerflich, wenn wir zurückblicken auf die eigentliche Begründung für die Einberufung des Hoftages. DerKönig führt seine Schmerzen auf eine göttliche Strafe zurück, was naheliegt, dass Vrevel als religiöse und gläubige Figur anzusehen ist (aufgrund des historischen Kontextes und der Entstehungszeit des Textes kann von einem christlich-katholischen Glauben ausgegangen werden). Somit verstößt die Entscheidung andere Tiere zu opfern gegen ein Gebot seiner Religion und er macht sich nicht nur moralisch, sondern auch gegenüber seinem Gott schuldig. Seine Verzweiflung und Angst geht also soweit, dass er seinen eigenen Glauben und die damit einhergehenden Werte verrät um sich selbst zu retten.
--> Religiös, Mord = Sünde, verrät eigenen Glauben?<br />


„[…] als das Ganze in feudaler Anarchie endet. Dass es zu so einer solchen Katastrophe kommen kann, liegt vor allem an der problematischen Figur des Königs, die äußerst negativ gezeichnet ist. Dies wird bereits deutlich, wenn […] die Ursache für Vrevels Krankheit offenbart und rational begründet wird…“ [Neudeck 2016: 21]
„[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22]
„Rücksichtsloser Machtgebrauch, bloß äußerliche Rechtlichkeit, bestechliche Gerechtigkeit, königliche Treulosigkeit bestimmen die öffentlichen Verhältnisse im Tierstaat.“ [Neudeck 2016]:22<br />
„[…] die normative Rechtfertigung politischen Handelns durch das Recht [...] erweist sich […] als Oberflächenphänomen angesichts eines defizitären Herrschers, für den die Reichweite des Rechts mit der eigenen Betroffenheit endet.“ [Neudeck 2016:22]<br />
--> Eigenschaften des Tierstaates aus Königsfigur geschlussfolgert, Verfall/Degeneration des Staates durch schlechte Führung<br />
„[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft [gerät] in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22]
--> Leichtgläubigkeit, offen für Manipulation, leichtes Ziel für Reinhart<br />


=== Bewertung des Handeln Vrevels ===
=== Bewertung des Handeln Vrevels ===


„Das Handlungsziel kann unter der Voraussetzung der Tiernatur kein Gegenstand eines moralischen Urteils sein; bei der Übertragung aufs Menschliche fällt es unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung.“ [Huebner 2016:87]  
„Das Handlungsziel kann unter der Voraussetzung der Tiernatur kein Gegenstand eines moralischen Urteils sein; bei der Übertragung aufs Menschliche fällt es unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung.“ [Huebner 2016:87]  
Will man das Verhalten Vrevels also bewerten, so kann man keine rein menschlichen Maßstäbe hierfür ansetzen. Auf der menschlichen Ebene der Moral wäre die Opferung anderer Tiere zum eigenen Nutzen verwerflich und zeugt von schlechtem Charakter. Folgen wir aber Machiavellis Ansatz, nach welchem jedem Lebewesen naturgegebene das Recht auf Selbsterhaltung zusteht, wird eine andere Facette Vrevels Handeln beleuchtet. Es bleibt weiterhin eigennützig und skrupellos, doch wird es durch seine Schmerzen und die Todesangst, die er durch eben diese empfindet, legitimiert. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein und jede darauffolgende Handlung dient allein der Erfüllung seines Naturrechtes.  
Will man das Verhalten Vrevels also bewerten, so kann man keine rein menschlichen Maßstäbe hierfür ansetzen. Auf der menschlichen Ebene der Moral wäre die Opferung anderer Tiere zum eigenen Nutzen verwerflich und zeugt von schlechtem Charakter. Folgen wir aber Machiavellis Ansatz, nach welchem jedem Lebewesen naturgegeben das Recht auf Selbsterhaltung zusteht, wird eine andere Facette von Vrevels Handeln beleuchtet. Es bleibt weiterhin eigennützig und skrupellos, doch wird es durch seine Schmerzen und die Todesangst, die er durch ebendiese empfindet, legitimiert. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein und jede darauffolgende Handlung dient allein der Erfüllung seines Naturrechtes.  
Der Rahmen in welchem die Handlung stattfindet – die tierische Inszenierung eines typisch menschlich- höfischen Hoftages, verleitet dazu, die tierischen Akteure zu sehr zu anthropomorphisieren und daher fälschlicherweise menschliche Maßstäbe für moralisches Handeln anzuwenden. Es muss jedoch beachtet werden, dass die im Tierepos dargestellten Figuren sowohl menschliche als auch tierischen Eigenschaften haben infolge derer beide Aspekte der Figur für eine Bewertung herangezogen werden müssen.
Der Rahmen, in welchem die Handlung stattfindet – die tierische Inszenierung eines typisch menschlich-höfischen Hoftages, verleitet dazu, die tierischen Akteure zu sehr zu anthropomorphisieren und daher fälschlicherweise menschliche Maßstäbe für moralisches Handeln anzuwenden. Es muss jedoch beachtet werden, dass die im Tierepos dargestellten Figuren sowohl menschliche als auch tierischen Eigenschaften haben, infolge derer beide Aspekte der Figur für eine Bewertung herangezogen werden müssen.


== Löwe und Ameise==
== Löwe und Ameise==

Version vom 13. Juli 2020, 16:37 Uhr

Diese Seite befasst sich anhand von Textbelegen mit der Figur des königlichen Löwen Vrevel im "Reinhart Fuchs". Hierbei werden vor allem die Ameisenepisode sowie die "Heilung" Vrevels durch die Hauptfigur, den Fuchs Reinhart, analysiert und gedeutet. Des Weiteren erfolgt eine Analyse des Löwen als Symbol im Mittelalter und dessen Rolle im Kontext des Tierepos.

Charakterisierung

Nicht zuletzt aufgrund des vom Autor gewählten Namens ‚Vrevel‘ liegt eine ausschließlich negative Deutung der Königsfigur nahe. Interessanterweise ist dies der einzige Name, den der Autor des Reinhart Fuchs von seiner französischen Vorlage ersetzt hat. Im französischen "Roman de Renard" heißt der Löwe ursprünglich "Noble". Diese intentionale Ersetzung ändert nicht nur den Namen, sondern auch den Charakter des Löwenkönigs. "Dem höfischen, jovialen Nobel [...] steht der zugleich lächerlich-würdelose wie tyrannisch-willkürliche Vrevel gegenüber" [Ruh 1960:23; Dietl 2010:51]. Der König verliert damit höfische Qualitäten und wird passend zu seinen Handlungen in ein brutales, gewaltätiges Licht gerückt. Wie im Vorhergehenden/nachfolgenden Abschnitt näher erläutert, wirft auch die im Handlungsverlauf erste Begegnung des Lesers mit der neu auftretenden Figur im Reinhart Fuchs ein stark negatives Bild auf dessen Charakter. Die dort begangene Untat gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Deutung seines Namens, wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur in eine durchgehend negative Assoziation umschwenkt. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im mittelhochdeutschen, wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1960:23]. Diese ist also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.

„Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1960: 23]

--> Religiös, Mord = Sünde, verrät eigenen Glauben?

„[…] als das Ganze in feudaler Anarchie endet. Dass es zu so einer solchen Katastrophe kommen kann, liegt vor allem an der problematischen Figur des Königs, die äußerst negativ gezeichnet ist. Dies wird bereits deutlich, wenn […] die Ursache für Vrevels Krankheit offenbart und rational begründet wird…“ [Neudeck 2016: 21]

„[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22]

„Rücksichtsloser Machtgebrauch, bloß äußerliche Rechtlichkeit, bestechliche Gerechtigkeit, königliche Treulosigkeit bestimmen die öffentlichen Verhältnisse im Tierstaat.“ [Neudeck 2016]:22

„[…] die normative Rechtfertigung politischen Handelns durch das Recht [...] erweist sich […] als Oberflächenphänomen angesichts eines defizitären Herrschers, für den die Reichweite des Rechts mit der eigenen Betroffenheit endet.“ [Neudeck 2016:22]

--> Eigenschaften des Tierstaates aus Königsfigur geschlussfolgert, Verfall/Degeneration des Staates durch schlechte Führung

„[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft [gerät] in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22]

--> Leichtgläubigkeit, offen für Manipulation, leichtes Ziel für Reinhart

Bewertung des Handeln Vrevels

„Das Handlungsziel kann unter der Voraussetzung der Tiernatur kein Gegenstand eines moralischen Urteils sein; bei der Übertragung aufs Menschliche fällt es unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung.“ [Huebner 2016:87] Will man das Verhalten Vrevels also bewerten, so kann man keine rein menschlichen Maßstäbe hierfür ansetzen. Auf der menschlichen Ebene der Moral wäre die Opferung anderer Tiere zum eigenen Nutzen verwerflich und zeugt von schlechtem Charakter. Folgen wir aber Machiavellis Ansatz, nach welchem jedem Lebewesen naturgegeben das Recht auf Selbsterhaltung zusteht, wird eine andere Facette von Vrevels Handeln beleuchtet. Es bleibt weiterhin eigennützig und skrupellos, doch wird es durch seine Schmerzen und die Todesangst, die er durch ebendiese empfindet, legitimiert. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein und jede darauffolgende Handlung dient allein der Erfüllung seines Naturrechtes. Der Rahmen, in welchem die Handlung stattfindet – die tierische Inszenierung eines typisch menschlich-höfischen Hoftages, verleitet dazu, die tierischen Akteure zu sehr zu anthropomorphisieren und daher fälschlicherweise menschliche Maßstäbe für moralisches Handeln anzuwenden. Es muss jedoch beachtet werden, dass die im Tierepos dargestellten Figuren sowohl menschliche als auch tierischen Eigenschaften haben, infolge derer beide Aspekte der Figur für eine Bewertung herangezogen werden müssen.

Löwe und Ameise

Die Episode, welche den zweiten Teil des Reinhart Fuchs einleitet, beginnt nach der Vergewaltigung Hersants durch Reinhart (nachzulesen im Artikel über Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) und dem darauf folgenden Streit und der Trennung von Reinhart und Isegrin (Reinhart Fuchs). Der Szene vorangehend erfolgt eine kurze Vorstellung Vrevels als König und Herrscher über das Land, in welchem alle vorangegangenen Episoden stattfanden.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
einem ameizen hvfen wold er gan, Er wollte zu einem Ameisenhaufen gehen.
nv hiez er si alle stille stan Dort hilt er alle an innezuhalten
vnde sagte in vremde mere, und verkündete ihnen die dreiste Botschaft,
daz er ir herre were.so dass er nun ihr Herr ist.
des enwolden si niht volgen, Dem wollten sie nicht folgen,
des wart sin mvt erbolgen. worüber er sehr erzürnt war.
vor zome er vf die hure sprane, Zornig sprang er auf ihre Festung
mit kranken tieren er do rane, und kämpfte mit den kleinen Tieren,
in dvchte, daz iz im tete not. weil er glaubte, daß er dazu verpflichtet sei.
ir lagen da me danne tvsent tot Über tausend von ihnen starben,
vnde vil mange sere wunt, und viele von ihnen wurden verwundet,
gnve bleibe ir ovch gesvnt. doch ein paar von ihnen bleiben unverletzt.
sinen zorn er vaste ane in rach, Voller Zorn rächte er sich an ihnen
die bvrk er an den grvnt brach. und zerstörte die Festung bis auf die Grundmauern.
er hatte in geschadet ane maze, Er hatte ihnen unermessliches Leid zugefügt,
do hvb er sicg sine straze. als er sich wieder auf den Weg machte.
di ameyzen begonden clagen Die Ameisen klagten
vnde irn grozen schaden sagen, und berichteten von dem großen Schaden,
den si hatten an irem chvnne. den ihr Volk hatte.
z [ ] ergangen was ir wunne, Ihre Freude war vergangen,
daz waz in ein iemerlicher tae. das war ein schrecklicher Tag.

(9819, 1251-1271) [1]

Am Ende der Szene wird verdeutlicht, dass Reinhart, im Gebüsch lauernd, die Geschehnisse als einziger beobachtet hat. Das Wissen um den Hergang der Situation wird prägend für den des Hoftages.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
do gesach iz Reinhart Dies sah Reinhart
der was verborgen da bi. der unweit im Verborgenen lag.

Löwe und Reinhart

„Diesen interessiert nur noch Reinhart der Arzt, der nunmehr neue Heilmittel anpreist. Der Angeklagte wird zum Richter und Schinder.“ [Ruh 1960:25]

„Verbrechen wird legalisiert, der Angeklagte zum Richter, die Kläger geschunden, getötet, verspeist.“ [Ruh 1960:27]

„[Reinhart] zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung in der Tiergesellschaft, indem er am Ende sogar selbst Hand anlegt und ihre monarchische Spitze beseitigt.“ [Neudeck 2016:22]

„kollektive Katastrophe“ [Neudeck 2016:23]

„Denn unter der Tiermaske wird hier erfolgreiches politisches Handeln im feudalen Herrschaftsgefüge vorgeführt, genauer ein auf den König gerichtetes Handeln, das im Zeichen der Gewalt steht. Dieses Gewalthandeln ist aber nicht nur prekär, blickt man – über den Wolf hinaus- auf die Opfer und Beteiligten, sondern es ist auch prekär und zugleich symptomatisch, wenn dadurch die soziale Ordnung und ihre monarchische Spitze hinterfragt wird.“ [Neudeck 2016:11]

Opfer oder Täter?

Der königliche Löwe Vrevel ist ein zwiegespaltener Charakter, der, ähnlich wie Reinhart, sowohl Opfer- als auch Täterepisoden durchlebt. In seinem ersten Auftritt im Text wird er ganz klar als Täter dargestellt. Der Angriff des Ameisenkönigreichs trotz eines vereinbarten Landfriedens (vgl. V 1247 ff.) und in besonderem Maße die Reaktion des Königs auf die Weigerung des Ameisenvolkes sich ihm zu unterwerfen, die Zerstörung ihrer Festung und die Ermordung vieler Tiere, zeichnen das Bild eines machtsüchtigen und rücksichtslosen Herrschers. Seine körperliche Stärke und Überlegenheit dienen ihm als vorrangiges Mittel zur Machterhaltung und -gewinnung. Die darauffolgende Szene in welcher der König der Ameisen sich an Vrevel für seine Untaten rächen will und dafür in dessen Kopf krabbelt und ihm unerträgliche Schmerzen bereitet, wirkt wie eine angebrachte Reaktion und nachvollziehbare Strafe für die vorhergehenden Verbrechen.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
mit kraft er im in daz ore spranc. kraftvoll sprang er ihm in das Ohr.
dem kvnege daz zv schaden wart; Dem König sollte das sehr schaden;
do gesach iz Reinhart, Dies sah Reinhart,
der was verborgen da bi. der unweit im verborgenen lag.
si iehent, daz er niht wise si, Zu Recht sagt man, dass derjenige nicht weise ist,
der sinen vient versmahen wil. der seinen Feind unterschätzt.
der lewe gewan do kvmmers vil. Dem Löwen brachte das viel Kummer.
zv dem hirne fvr er vf die richte, Denn er drang in sein Gehirn ein,

Doch nicht nur der Racheakt an sich, sondern vor allem auch, dass Reinhart diese Szene beobachtet spielt eine Schlüsselrolle im weiteren Schicksal Vrevels‘, welcher nach seiner anfänglichen Untat und dem vermeintlichen Beweis von Stärke zunehmend eine Opferrolle einnimmt und kontinuierlich mehr und mehr Schwächen offenbart. Die durch den Ameisenkönig in seinem Kopf ausgelösten Schmerzen deutet Vrevel als göttliche Strafe dafür, dass er nicht Gericht gehalten hat. Daraufhin veranlasst er einen Hoftag und läutet somit eine neue umfangreiche Episode des „Reinhart Fuchs“ ein. In diesem Hoftag hört der König die Klagen der Opfer Reinharts an und nach der Anhörung Isengrins und seines Fürsprechers Brun wird Reinhart durch das Urteil des Hirsches Randolt zum Tode verurteilt. Bereits hier wird deutlich, dass Vrevel stark von seiner Gefolgschaft abhängig ist. Er fällt das Urteil über Reinharts Strafmaß nicht selbst, sondern gibt diese Aufgabe an einen anderen ab. Gleichzeitig hinterfragt diese Handlung aber auch die vorhergehende Darstellung Vrevels als rücksichtslosen und machtbesessenen Herrscher, da die Übertragung dieser Entscheidung auf einen anderen eine Form von Gewaltenteilung und der Existenz anderer Tiere mit Einfluss im Königreich andeutet.

„Die letzte Untat gilt Vrevel selbst, und wenn sie jemand verdient hat, so er.“ [Ruh 1960: 26]
„[…] an dessen Ende – nach dem gewaltsamen Tod des kinderlosen Herrschers - das feudale Herrschaftsgefüge zerfällt.“ [Neudeck 2016:21]
„Doch wenn die Sprache auf Sündenböcke und Opfer kommt, zeigt dies, dass Gewalt zudem ambivalent ist – konstruktiv und destruktiv in einem.“ [Neudeck 2016:10]

Der Löwe als Symbol im Mittelalter

Literatur

<HarvardReferences />

  • [*Ruh 1980]Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33

<HarvardReferences />

  • [*Neudeck 2016]Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016.

<HarvardReferences />

  • [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.

<HarvardReferences />

  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96

<HarvardReferences />

  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 73-98

<HarvardReferences />

  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54

<HarvardReferences />

  • [*Kolb 1983] Kolb, Herbert: Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik, in: Virtus et fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, hg. von Joseph Strelka und Jörg Jungmayr, Bern 1983, S. 328-350.
Opfer Täter
Befall durch Ameisenkönig (Racheakt) Angriff auf Ameisenvolk
Beeinföussung durch Kamel, Elefant und Krimel Herrschaftsanspruch trotz Landfriedens
Beeinflussung und Täuschung durch Reinhart ordnet Ermordung seiner Gefolgsleute an
Ermordung durch Reinhart nimmt Leid und Tod anderer im Tausch gegen eigene Gesundheit in Kauf
  1. Alle Versangaben beziehen sich auf Textausgabe ...